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Titel
Katharsis. Reinigung als Heilverfahren. Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum


Autor(en)
Hoessly, Fortunat
Reihe
Hypomnemata 135
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Alte Geschichte, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Diese, in der Betreuung durch Walter Burkert in Zürich entstandene Dissertation greift ein ganz grundsätzliches Thema auf: Sie untersucht den Begriff der Reinigung (katharsis), der sowohl im religiös-rituellen als auch im medizinischen und psychologischen Bereich eine zentrale Rolle spielt. Für die einzelnen Gebiete ist die jeweilige Bedeutung nicht weiter schwierig zu definieren: die medizinische Bedeutung als 'Purgierung, Abführung, innere Reinigung', die psychologische vor allem durch Aristoteles geprägt als tragische katharsis, die durch Erregung reinigt, die religiös-rituelle als Reinigung von Affekten und Schuld in der Ekstase. Bei Aristoteles verschmelzen die verschiedenen Ebenen in seiner Vorstellung von der katharsis als der psychologischen Wirkung der Tragödie.

Hoessly geht es nun um die Vorgeschichte dieses Begriffes und dabei ganz besonders um die Frage, inwieweit die medizinische katharsis von der religiösen abhängig ist. Die Untersuchung konzentriert sich auf drei große Themenbereiche: kathairein und sein lexikalisches Umfeld bei Homer (Teil I), kultisch-rituelle katharsis als Heilverfahren in nachhomerischer und klassischer Zeit (Teil II) und schließlich katharsis im Corpus Hippocraticum (Teil III). Im ersten Teil werden das Vokabular, die profanen Anlässe der Reinigung (Pflege an sich, Reinigung des Gastes, nach dem Kampf, vor der Mahlzeit und zu kosmetischen Zwecken) sowie die religiösen Anlässe (Zutritt zum Heiligen, Reinigung von Befleckung und Krankheit) betrachtet.

Ausführlich geht Hoessly auf die umstrittene Frage ein, ob bei Homer die Vorstellung der nicht nur physischen, sondern auch 'metaphysischen' Befleckung durch Geschlechtsverkehr, Geburt, Tod und Mord bekannt ist, die dann spezielle Reinigungsrituale erforderte, um von solchen, als ansteckend und gefährlich klassifizierten Zuständen zu befreien. Von Nilsson,1 Dodds 2 und Burkert 3 wird die Auffassung vertreten, dass die Konzeption von Krankheit als Befleckung bereits bei Homer zu erkennen sei, wobei aber das delphische Orakel für die weitere Entwicklung eine zentrale Rolle gespielt habe und für eine dramatische Zunahme der Angst vor Befleckung verantwortlich zeichne; Burkert nimmt darüber hinaus - im Zusammenhang seiner These von dem eminenten Einfluß der orientalischen Kultur auf die Entwicklung Griechenlands in der früharchaischen Zeit - 4 eine Übernahme des babylonischen Rituals der Reinigung durch Blut an. Lloyd-Jones 5 und Parker 6 hingegen bestreiten, dass sich in der früharchaischen Zeit überhaupt etwas geändert habe. Bei Homer spiele katharsis zwar eine geringere Rolle als z.B. später in der Tragödie des 5. Jahrhunderts v.Chr., doch sei dies nur der Verschiedenheit des Genres geschuldet. Für Lloyd-Jones ist schon bei Homer die Identität von Seher, Sänger und Arzt zu erkennen, die rituelle und medizinische Reinigung seien nicht voneinander verschieden. Parker wiederum gibt zwar die Abwesenheit der Reinigungsrituale bei Homer zu, sieht aber grundsätzlich das Phänomen der Befleckung insbesondere durch Mord bei Homer vorhanden und vertritt die Ansicht, dass weder interkulturelle Einflüsse noch irgendeine Art von Wende in den Vorstellungen von Reinigung und Befleckung zu erkennen seien.

Hoessly vertritt gegenüber dieser grundlegenden Kontroverse einen eher vermittelnden Standpunkt, indem er die übertragene Bedeutung der Befleckung mit der Erfordernis einer Reinigung wohl für den Tod, aber nicht (mit Ausnahme der einzigen Stelle Od. 22, 480ff.) für Mord darlegt und auch das Ritual der Reinigung von Blut durch Blut in den homerischen Epen nicht belegt sieht. Die Reinigung im Sinne eines Heilverfahrens und auch die magisch-rituellen Reinigungsverfahren bei Krankheiten lassen sich dagegen, wie er betont, sehr wohl bei Homer belegen.

Im zweiten Teil wendet sich Hoessly den mythologischen Figuren des Orest als eines durch den Muttermord Befleckten und des Melampus als eines Reinigungspriesters zu. Es folgen die berühmten Reinigungspriester Bakis, Thaletas, Abaris, Epimenides, Pythagoras und Empedokles. Besondere Erwähnung aus diesem Teil verdient die ausführliche Darstellung der katharsis-Vorstellungen in den Goldblättchen aus den Gräbern in Thessalien und Unteritalien, aus deren orphisch-bacchischem Mysterienhintergrund Hoessly die Reinigungsrituale der Mysterien rekonstruiert: Hierbei zeigt sich der Glaube an eine Befreiung der Seele, die durch Reinigung für neue Mächte und Werte vorbereitet wird. Genauso können das bacchische 'Rasen' oder die korybantische katharsis im Umfeld des Kybele-Kultes, bei dem ekstatische Tänze und orgiastische Musik zur Anwendung kamen, als mit Hilfe der Götter vollzogene Reinigung der Teilnehmer an diesen Riten betrachtet werden. Hoessly schließt diesen Teil seiner Arbeit mit einer Betrachtung der hippokratischen Schrift De morbo sacro ab, in der sich der Autor dieser Schrift gegenüber solchen Riten und Praktiken der Reinigungspriester zwar abgrenzt, aber "mit ihnen doch mehr Gemeinsamkeiten aufweist, als ihm (sc. dem Autor) recht sein mag" (S. 243).

Die Behandlung von De morbo sacro ist bereits eine Überleitung zu dem dritten Teil der Arbeit, in der katharsis im Corpus Hippocraticum einerseits als Bezeichnung für die äußere Reinigung der Wunde, andererseits als innere Reinigung von Körperflüssen bei der Behandlung der inneren Krankheiten auftritt. Hoessly zeigt die sprachlichen Übereinstimmungen zwischen der Sprache der religiösen wie der medizinischen Kathartik und kommt zu dem Schluß, dass es sich bei der medizinischen Kathartik um die Übernahme der religiösen Vorstellung in säkularisierter und rationalisierter Form gehandelt hat. Für die Textstellen aus den allerältesten Schichten des Corpus Hippocraticum (De muliebribus und De morbis II, hierbei die nach H. Grensemann sog. A-Schicht 7) ist dieser Nachweis als gelungen anzusehen. Für die weitere Entwicklung der katharsis-Vorstellung bei den medizinischen Autoren würde man sich allerdings eine breitere Textbasis zum Vergleich wünschen.

Insgesamt ist in dieser Arbeit ein außerordentlich wichtiger, philologisch sehr sorgfältig gearbeiteter Beitrag zu einer sowohl religionshistorisch als auch altertumswissenschaftlich und medizinhistorisch bedeutenden Fragestellung zu sehen.

Anmerkungen

1 Nilsson, M. P.: Griechische Feste von religiöser Bedeutung mit Ausschluß der attischen, Leipzig 1906, 98; ders.: Geschichte der griechischen Religion, 3. Aufl., München 1967, Band 1, 91.
2 Dodds, E. R.: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, 180, Anm. 39.
3 Burkert, W.: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977, 135f.
4 Burkert, W.: The Orientalizing Revolution, Cambridge, Mass. / London 1992.
5 Lloyd-Jones, H.: The Justice of Zeus, 2. Aufl., Berkeley, L.A. 1983.
6 Parker, R.: Miasma. Pollution and Purification in Early Greek Religion, Oxford 1983.
7 Grensemann, H.: Knidische Medizin Teil II: Versuch einer weiteren Analyse der Schicht A in den pseudohippokratischen Schriften De natura muliebri und De muliebribus I und II (Hermes-Einzelschriften 51), Stuttgart 1987.

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