Cover
Titel
Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften


Herausgeber
Renz, Werner
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 20
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Gallas, Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien

Der Jerusalemer Gerichtsprozess gegen Adolf Eichmann von 1961 markiert ein epochales Ereignis in der Konfrontation mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung und deren Wahrnehmung in einer internationalen Öffentlichkeit. Um die Bedeutung des Prozesses und seine Wirkungen zu diskutieren, wurden zum 50. Jahrestag der Urteilsverkündung gegen den „Organisator der Massenvernichtung“ zahlreiche Konferenzen und Ausstellungen durchgeführt. Dazu gehörte eine Tagung des Frankfurter Fritz Bauer Instituts, die im April 2011 unter dem Titel „Gerechtigkeit in Jerusalem“ stattfand. Um einige Beiträge erweitert, liegen die Ergebnisse nun in einem Sammelband vor: „Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften“.

Der etwas sperrige Titel erfasst nicht alle Themen und Forschungsrichtungen, die hier versammelt sind, und verweist damit auf ein Problem. Durch die Reihung der Aufsätze ohne eindeutig sichtbare thematische Struktur erschließen sich die interessanten Bezüge und auch Gegensätze einzelner Texte bei der Lektüre eher zufällig. Eine stärkere editorische Ordnung wäre hilfreich gewesen. Im Grunde gibt es vier verschieden gewichtete Schwerpunkte, die hier zur Diskussion stehen und die neue Erkenntnisse bereithalten: das Täterprofil und die Person Eichmanns, Aspekte des Rechts, die historiographische und intellektuelle Wirkungsgeschichte des Prozesses sowie speziell seine Einflüsse auf die Bundesrepublik. Der Band macht darauf aufmerksam, wie viele Aspekte in der bisherigen Forschung unberücksichtigt geblieben sind und warum Werner Renz in seiner gut akzentuierten, sehr informativen Einführung zu dem Urteil kommt: „Die Geschichte des Eichmann-Prozesses ist noch nicht geschrieben.“ (S. 42) Zunächst mag sich gegen diese Behauptung innerer Widerstand regen – schaut man auf die Flut von Publikationen, die in den letzten Jahren über Eichmann und den Prozess erschienen sind. Doch die Beiträge des Sammelbands zeugen von der Vielfalt wichtiger Fragen, die bisher unbeantwortet sind.

Leora Bilskys Beitrag zur Rechtsform des Prozesses und seinen Folgen für die internationale Rechtsprechung lenkt den Blick auf Grenzen und Möglichkeiten von Gerichtsverfahren nach dem Genozid. Die Autorin greift dabei instruktiv auf Hannah Arendts Ausführungen zur Frage der Zuständigkeit des israelischen Gerichts zurück. Der darauf folgende Aufsatz von Hannah Yablonka setzt den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess von 1945/46 mit dem Eichmann-Prozess in Beziehung. Yablonka fragt nach den Räumen für die Artikulation jüdischer Erfahrungen und Rechtsvorstellungen. Bekanntlich beförderten die Konzentration des Militärgerichtshofs in Nürnberg auf die Eliten des nationalsozialistischen Deutschlands sowie die kaum differenzierende Perspektive auf allgemeine Kriegsverbrechen ein Marginalisieren des Holocaust. Der Eichmann-Prozess hingegen rückte den nationalsozialistischen Judenmord ins Zentrum und „machte die Shoah zu einem dauerhaften Gegenstand von Debatten, Interessen, Aktualisierungen und Veröffentlichungen“ (S. 90).

Auch Lisa Hauff teilt diese Ansicht, wenn sie in ihrem Aufsatz über die drei Richter des Eichmann-Prozesses betont, dass das Geschehen im Jerusalemer Gerichtssaal „einen Wandel in der Wahrnehmung […] der israelischen Gesellschaft […] einleitete“ und auch in der Bundesrepublik „zum Stimulus einer neuen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechern wurde“ (S. 119). In ihren weiteren Ausführungen konzentriert sich Hauff auf die Haltung der Richter im Prozessgeschehen, die sie als besonnen und neutral charakterisiert. Insbesondere das Urteil der Richter über den Angeklagten ist vor dem Hintergrund der immer noch anhaltenden Diskussion über das Täterprofil Eichmanns interessant. Entgegen der vor allem durch Hannah Arendts berühmten Prozessbericht manifestierten Vorstellung von Eichmann als „Schreibtischtäter“, der gedankenlos gehandelt habe, zeigt Hauff, wie bereits die Richter erkannten, dass diese Einschätzung eher Eichmanns Selbstdarstellung fortschreiben würde. In ihrer Urteilsbegründung unterstrichen sie demgegenüber deutlich Eichmanns Antisemitismus und sein Bewusstsein für die Konsequenzen seiner Handlungen.

Diese Auffassung stützen auch die Beiträge von Fabien Théofilakis und Bettina Stangneth zur Person Eichmanns. Im Kontrast zu den Vorstellungen von Eichmann als „Befehlsempfänger“ oder „Rädchen im Getriebe“ entwerfen sie mithilfe seiner Selbstzeugnisse „aus dem Glaskäfig“ während des Prozessverlaufs (Théofilakis) und aus seinem Fluchtort Argentinien ein anderes Bild. Beide Autoren zeigen, dass er den Kampf gegen das Judentum nie aufgab und eine manipulative, lügengesättigte Inszenierung als Verteidigungsstrategie wählte. So vermochte er verschiedene Rollen zu spielen, um seine den Zeugen gegenüber gefühllose, kontinuierlich antisemitische Grundhaltung und seine fortdauernden nationalsozialistischen Überzeugungen zu verschleiern. Folgt man dieser Lesart, sind auch Hannah Arendt und ihr früherer Ehemann Günther Anders dem „Maskenspiel“ Eichmanns erlegen (S. 197).

Wie Ann-Kathrin Pollmann in ihrem erhellenden Beitrag zu Anders beschreibt, nutzte dieser die Frage nach dem Modell von Täterschaft, das sich in Eichmann als einem gedankenlosen Bürokraten repräsentiere, um allgemein über Grenzen des Bewusstseins für die Auswirkungen des „monströsen Verbrechens“ nachzudenken, das in Auschwitz und Hiroshima Wirklichkeit geworden war. Zwar verband Anders in seinem Text „Wir Eichmannsöhne“ von 1964 die Figur Eichmanns mit seiner Diagnose eines „Weltzustands der totalen Maschinisierung und der dahinter zurückbleibenden Menschen“ im atomaren Zeitalter (S. 251). Er bestand aber – trotz des im Nationalsozialismus etablierten Verbrechenssystems der Segmentierung von Handlungen und damit auch von Schuld (S. 253) – auf einer spezifischen Verantwortung und Schuld Eichmanns. Ursula Ludz widmet sich in ihrem instruktiven Beitrag noch einmal der Debatte um Hannah Arendts Bericht zum Eichmann-Prozess und vermag diese insbesondere aus der Perspektive Arendts neu zu kontextualisieren. Deutlich wird unter anderem, dass die aufbrausende Kontroverse um „Eichmann in Jerusalem“ in den USA, Israel und eingeschränkter auch in der Bundesrepublik die Nachgeschichte des Prozesses fast stärker stimulierte als der Prozess selbst.

Im Gegensatz zu Yablonka und Hauff relativiert Jürgen Matthäus in seinem informierten Aufsatz zum Prozess und dessen Folgen für Strafverfolgung und Geschichtsschreibung in Deutschland ebenfalls die These einer starken Wirkung des Prozesses. Er macht deutlich, wie auf beiden Ebenen eine systematische Beschäftigung mit den Verbrechen nur schleppend voranging. Auf historiographischer Ebene wurde sie von „Außenseitern“ wie Joseph Wulf betrieben. Auf der juristischen Ebene wurden zwar häufig umfassende Dokumentationen der Verbrechen erstellt, doch führten diese kaum unmittelbar zum Strafvollzug.

Mit den Wirkungen des Prozesses auf bundesrepublikanische Behörden und Gerichte beschäftigen sich auch Ruth Bettina Birn und Annette Weinke. Birn untersucht die Protokolle des Staatsanwalts Dietrich Zeug, der für die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg den Prozess in Jerusalem begleitete. Sie unterstreicht zum einen die berechtigte Kritik Zeugs am Jerusalemer Verfahren und am Chefankläger Hausner. Ähnlich wie Matthäus betont sie zudem, dass es irreführend sei, hier Impulse für spätere Verfahren in Deutschland ausmachen zu wollen. Der Jerusalemer Prozess war vor allem auf „Öffentlichkeitswirksamkeit“ angelegt (S. 115), während die Details der historischen Abläufe für die Beweisführung eher unscharf entfaltet wurden und der Beitrag des Prozesses „zum historischen Wissen über die Judenvernichtung“ deshalb „fraglich“ sei (S. 116).

Weinke diskutiert in ihrem Aufsatz die politische Vorbereitung und Begleitung des Jerusalemer Prozessgeschehens in der Bundesrepublik. Hierbei verdeutlicht sie, dass die Anfänge von „geschichtskulturellem Umgang“ und „Strafermittlung“ zum Holocaust bereits Ende der 1950er-Jahre eine Wandlung erfahren hätten und „kritische Teilöffentlichkeiten“ entstanden seien, wobei die „Propagandakampagnen“ der DDR eine große Rolle gespielt hätten (S. 204ff.). Trotzdem sei die Politik Adenauers und des Auswärtigen Amts in Bezug auf den Prozess von starker Unsicherheit geprägt gewesen. Man wollte weder unbeteiligt wirken noch zu neuen Wiedergutmachungsforderungen einladen – und fürchtete schlechte Presse für die Bundesrepublik. Welche Netzwerke im Hintergrund dieser offiziellen politischen Positionsbegründungen tätig waren, beleuchtet Willi Winkler. Detailreich zeigt er auf, wie altnazistische Kreise, die in bundesdeutschen Behörden ebenso wie international tätig waren, die Verteidigung Eichmanns unterstützten, das Honorar für den Kölner Verteidiger Servatius trugen und Kritik gegen den früheren Nationalsozialisten und nunmehrigen Staatssekretär Hans Globke abzuwenden versuchten.

In der Zusammenschau der Texte wird die Stärke des gesamten Bandes deutlich: Er bietet ein anregendes Spektrum neuer Quellen, Positionen und Stimmen, die zugleich eindrucksvoll davon zeugen, dass eine ebenso integrierende wie differenzierende Gesamtdarstellung des Prozesses und seiner Wirkungsgeschichte tatsächlich noch aussteht. Ob diese in solcher Form überhaupt geleistet werden kann, steht auf einem anderen Blatt.