B. Dietz: Utopien als mögliche Welten

Cover
Titel
Utopien als mögliche Welten. Voyages Imaginaires der französischen Frühaufklärung 1650-1720


Autor(en)
Dietz, Bettina
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für europäische Gesichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte 188
Erschienen
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst-Walter Blanke, Bielefeld

Mit der vorliegenden Arbeit, die im Jahr 2000 in München als Dissertation angenommen wurde, liegt eine ganz ausgezeichnete Publikation vor, in der literaturwissenschaftliche und historische Fragestellungen und Methoden in außerordentlich fruchtbarer Weise verbunden werden. Bettina Dietz untersucht fingierte Reiseberichte aus dem 70 Jahre währenden Zeitraum der Herrschaft Ludwigs XIV. Die Untersuchung endet mit dem Jahr 1720, da Montesquieu mit seinen Perserbriefen (1721) eine neue Ära eingeleitet habe (S. 8, 51, 201, 205 u.ö.). Im Zentrum stehen die Werke von 17 relativ unbekannten Autoren, die sich sämtlich durch einen „exzessiven Eklektizismus“ (S. 26) auszeichnen.

Die Arbeit ist in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil widmet sich den Konzepten vom Idealstaat: Das erste Kapitel dieses Teils entwickelt nach sieben verschiedenen Kriterien die „Kritischen Gegenwelten zur französischen Konstellation unter Ludwig XIV.“ (S. 19-95): 1. Vorstellungen vom neuen Menschen, 2. alternative Religionsentwürfe - hier: Modelle vernünftiger Naturreligion, 3. ökonomische Konzepte, die sich vor allem der Frage der Besitzverteilung widmen, 4. Überlegungen zu einer erfolgreichen Bevölkerungspolitik, 5. Herrschaftskonzepte, 6. Ausführungen zum Strafsystem und schließlich 7. Reflexionen über die Bedeutung von Kunst und Ästhetik. Das zweite Kapitel trägt den Titel „Ordnungsstaat: Utopie und Policey“ (S. 96-122) und ist in die Unterkapitel gegliedert „Ordnung als Ideal“, Armen-Policey versus Bettelei, Gesundheits-Policey sowie Stadt-Policey.

Der zweite Teil rekonstruiert die Kommunikationssituation in Frankreich um 1700. Dabei geht es um „Schreiben unter der Zensur“ (S. 129-140), um den „Reisebericht als Redeform“ (S. 141-66) – wobei u.a. die „Galante Reise“, die „Satirischen Reisen“ sowie „Reisen ans Ziel der Erkenntnis: ‘Voyages imaginaires’ im Dienst des Glaubens“ analysiert werden – und um die „Modalitäten der Rezeption“ (S. 167-204): Hier wird deutlich, dass die zeitgenössische Rezeption diese fiktionalen Texte sehr wohl als ernstzunehmende Texte akzeptierte. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt im Schlusskapitel. Im Anhang finden sich Kurzbiografien der behandelten, meist unbekannten Autoren, ein detailliertes Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister. Das Werk ist flüssig geschrieben und zeichnet sich dank vieler Originalzitate durch große Anschaulichkeit aus. Diktion und Argumentationsstil der Quellentexte werden dadurch ebenso deutlich wie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Texte.

Bettina Dietz behandelt die knapp 60 Schriften von 17 Autoren trotz des ihnen immanenten Eklektizismus (S. 26) als eine ideelle Einheit, befragt also die Texte vor dem Hintergrund ihres Fragerasters als Ausschnitt eines umfassenderen Ganzen. Ein derartiges Vorgehen ist insofern nicht unproblematisch, als es eine Einheit des Denkens der untersuchten zeitgenössischen Autoren voraussetzt, die letztlich erst das Ergebnis ihrer eigenen Forschungstätigkeit ist. Die Argumentation ist in diesem Punkt zirkulär. Dennoch ist ihr Vorgehen nicht völlig beliebig, da ihr Frageraster nicht das Produkt einer luftigen metatheoretischen Reflexionsarbeit, sondern vielmehr das Ergebnis einer ersten Lektüre der analysierten Texte selbst, also empirisch gesättigt ist: Die Gegenstandsbereiche ihrer Arbeit spiegeln die Themen der zeitgenössischen Diskussion, die sie als einen einheitlichen Diskussionszusammenhang bewusst macht und in ihren wichtigen Einzelpunkten rekonstruiert. Dabei wird keineswegs eine totale Einheit des Denkens suggeriert, sondern im Gegenteil werden gerade die Nuancen in der Argumentation der einzelnen Autoren herausgearbeitet.

So rekonstruiert Dietz die Diskussion über alternative Herrschaftsträger und -institutionen und die ihnen zugrunde liegenden Herrschaftslegitimationen, wie sie sich in den Voyages imaginaires widerspiegeln: Veiras (S. 67-71) und Fénelon (S. 72f.) sahen das Wechselverhältnis von Herrschaft und Beherrschtwerden als dem gegenwärtigen Status quo und einer vernünftigen bzw. christlichen Moral geschuldet und propagierten daher eine in Einzelheiten korrigierte und idealisierte Form des zeitgenössischen französischen Absolutismus unter dem „Sonnenkönig“; in diesem Kontext wird auch die Metapher vom König als Vater (selbstverständlich vernünftiger Kinder) bemüht (S. 70, 72). Andere Autoren dagegen verließen den Rahmen des Gegebenen. Fontenelle (S. 73-75) etwa entwickelte in seiner „Histoire des Ajaoiens“ eine radikale Alternative zur problematischen zeitgenössischen Praxis des Ämterkaufs und der Ämtervererbung, während Foigny (S. 76f.) in seiner Geschichte der Hermaphroditen und Lahontan (S. 77f.) in seinem Dialog mit einem Huronen-Häuptling utopische Gegenwelten entwarfen, die ganz ohne Herrschaftsinstitutionen auskamen. In dem einen Falle waren sie durch Vernunft, in dem anderen durch die tugendhafte Natur des ‚guten Wilden‘, die ein Zusammenleben in friedlicher Anarchie ermöglicht, begründet.

Bettina Dietz arbeitet eng an den Texten, bleibt dabei aber nicht stehen, sondern präsentiert ihre Befunde in größeren Zusammenhängen. Im Hinblick auf einige der von ihr verfolgten Fragestellungen kommt ihrem Buch sogar beinahe Handbuch-Charakter zu – etwa was die allgemeinen Ausführungen über die Zensur betrifft (S. 129-136). Sie hat, so weit überschaubar, die gesamte einschlägige Forschungsliteratur aufgearbeitet und weiß diese auch kritisch einzuschätzen. Eingearbeitet werden dabei die allgemeine Literaturgeschichte, die politische und die Sozialgeschichte sowie Spezialliteratur zu den einzelnen Autoren und ihren Werken.

Das Werk zielt auf die systematische Interpretation einer lange Zeit ignorierten Textgattung. Diese wieder entdeckt und in ihrer Bedeutung als Ersatz für eine ausformulierte Politische Theorie erkannt zu haben (bes. S. 22), ist Dietz’ Verdienst. Sie hat so eine Pionierleistung zur Erforschung der französischen Frühaufklärung erbracht.

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