Y. Schleinhege: Vom politischen Ereignis zur erlebten Geschichte

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Titel
Vom politischen Ereignis zur erlebten Geschichte. Historische Dokumentationen zum Mauerfall 1999 bis 2009


Autor(en)
Schleinhege, Yvonne Alisa-Maria
Reihe
Geschichte & Kultur. Kleine Saarbrücker Reihe 1
Erschienen
Trier 2012: Kliomedia
Anzahl Seiten
153 S.
Preis
€ 28,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Kötzing, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Viele gute Diplom- und Masterarbeiten, die an den historischen Fakultäten deutscher Universitäten entstehen, teilen ein gemeinsames Schicksal: Sie werden nie gelesen. Abgesehen von den jeweiligen Gutachtern kann sie keiner zur Kenntnis nehmen, weil sie in der Regel in den Untiefen der jeweiligen Universitätsbibliothek verstauben. Sie gehen für die Forschung verloren, obwohl sie im Einzelfall von großer Relevanz sein können. Um solchen Abschlussarbeiten ein Podium zu bieten, wurde an der Universität des Saarlandes kürzlich eine neue Schriftenreihe ins Leben gerufen – in ihr sollen zukünftig herausragende Qualifizierungsarbeiten junger Historiker und Historikerinnen veröffentlicht werden.

Als erster Band der neuen Reihe ist die Diplomarbeit von Yvonne Alisa-Maria Schleinhege erschienen. Sie hat sich mit ausgewählten historischen Fernsehdokumentationen zum Mauerfall und zur Friedlichen Revolution beschäftigt, genauer gesagt: mit acht Dokumentationen, die zwischen 1999 und 2009 im deutschen Fernsehen gesendet worden sind. Ziel der Arbeit ist es, so die Autorin in ihrer ausführlichen Einleitung (S. 15–42), die Visualisierung und die Konstruktion des historischen Ereignisses zu analysieren. Komparativ untersucht sie außerdem die Entwicklung und den Wandel der audiovisuellen Geschichtsdarstellung zwischen dem zehnten und dem zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls. Wie genau hat sich die Darstellung des Mauerfalls in diesem Zeitraum verändert?

Um diese Frage im Detail beantworten zu können, entwickelt Schleinhege zunächst ein eigenes Analysemodell mit insgesamt sieben Kategorien: Untersucht werden jeweils der Entstehungskontext der Dokumentation (1.), die Einbindung von Archivbildern (2.), die Personalisierung mittels Zeitzeugen und Experten (3.), die Verwendung neugedrehter oder nachgespielter Szenen (4.), die Einbindung zusätzlicher Gestaltungsmittel (5.), die Verwendung auditiver Elemente (6.) sowie abschließend das narrative Grundmuster der jeweiligen Dokumentation (7.). Vor Beginn ihrer eigentlichen Analyse liefert die Autorin außerdem einen kompakten Überblick über die Entwicklung historischer Dokumentationen im (west-)deutschen Fernsehen seit den 1950er-Jahren (S. 43–60), insbesondere zur Geschichte des Nationalsozialismus. Leider fehlt hier ein Exkurs zur TV-Darstellung der DDR-Geschichte bzw. des Mauerfalls im ersten Jahrzehnt nach der friedlichen Revolution. Da Schleinheges Untersuchung selbst erst mit dem Jahr 1999 einsetzt, wäre ein solcher Überblick hilfreich gewesen, um ihre eigene Arbeit noch besser kontextualisieren zu können.

Den größten Teil der Untersuchung nimmt die anschließende Analyse der acht Fernsehdokumentationen ein (S. 61–129). Untersucht werden dabei die drei ARD-Produktionen„Als die Mauer fiel. 50 Stunden, die die Welt veränderten“ (1999), „Der 9. November. Die Mauer ist weg“ (2004) und „1989 – Schicksalstage im Oktober“ (2009), außerdem die beiden von Spiegel-TV produzierten Dokumentationen „Herbstgeschichte“ (1999) und „Der letzte Sommer der DDR“ (2009) sowie die unter der Ägide von Guido Knoop beim ZDF hergestellten Sendungen „Das Wunder von Berlin. 9. November 1989 – Der Fall der Mauer“ (1999), „Wunder ohne Grenzen. Die Wende 1989“ (2004) und „Der schönste Irrtum der Geschichte. Wie die Berliner Mauer wirklich fiel“ (2009). Alle Dokumentationen hat Schleinhege mit Hilfe von Sequenzprotokollen erfasst, um sie anschließend genauer untersuchen zu können. Das oben beschriebene Analysemodell erweist sich dabei als tragfähiges Grundgerüst für ihre Untersuchung. Es ermöglicht einerseits, die wesentlichen Charakteristika aller Dokumentationen vergleichbar darzustellen, und lässt der Autorin andererseits genügend Spielraum, um auf sender- oder produktionsspezifische Details eingehen zu können. Als Manko zeigt sich lediglich, dass Schleinhege aus arbeitsökonomischen Gründen auf eine ausführlichere Inhaltsanalyse verzichtet hat. Zwar streift sie hier und da die unterschiedlichen DDR-Bilder, die in den Dokumentationen vermittelt werden, ihre Arbeit ist jedoch in erster Linie auf ihre audiovisuelle Umsetzung fokussiert. Um die TV-Produktionen als Ganzes erfassen zu können, erscheint es jedoch unerlässlich, auch ihre inhaltliche Argumentation mit in die Untersuchung einzubeziehen. Zumindest lässt sich die Frage, welche unterschiedlichen „Geschichten“ die Dokumentationen vom Mauerfall erzählen, sonst kaum hinlänglich beantworten.

Im Hinblick auf die Gestaltung der Dokumentationen kommt Schleinhege gleichwohl zu sehr interessanten Ergebnissen, die sie in einer abschließenden Zusammenfassung darstellt (S. 131–141). Bemerkenswert ist zum Beispiel ein Transformationsprozess, den die Autorin für ihren Untersuchungszeitraum konstatiert: Die Darstellung des Mauerfalls habe sich in den historischen Fernsehdokumentationen grundlegend gewandelt, von einer politischen Ereignisgeschichte hin zu einer persönlich erlebten Geschichte, sinnfällig zum Beispiel durch die stärkere Fokussierung auf konkrete Biografien. „Insgesamt änderte sich durch diesen individualisierten Zugang auch die narrative Struktur der Dokumentationen, indem verstärkt die Zeitzeugen zum Träger der Leiterzählung wurden.“ (S. 132) Zwar sei der zeitliche Umfang der Zeitzeugenstatements in den Dokumentationen vergleichsweise konstant geblieben, ihre Auswahl habe sich jedoch verschoben: Während 1999 noch international bekannte Politiker im Vordergrund standen, rückten zehn Jahre später eher die „einfachen“ Menschen mit ihren scheinbar „alltäglichen“ Erlebnissen in den Mittelpunkt. Interessant ist auch der Befund, den Schleinhege für den Einsatz von Archivbildern ausmacht. Grundsätzlich könne man feststellen, „das sich der Bilderkanon der einzelnen Dokumentationen nur geringfügig, je nach inhaltlicher Perspektive bzw. Schwerpunktsetzung, unterschied und sich nur wenige historische Filmaufnahmen von einem ansonsten relativ einheitlichen ‚Bilderfluss‘ abhoben“ (S. 136). Darüber hinaus zeige sich jedoch, dass in den Dokumentationen jüngeren Datums Archivaufnahmen an Eigenwert gewonnen hätten. „Die audiovisuelle Gestaltung der einzelnen Dokumentationen war zunehmend stärker darauf ausgerichtet, die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die visuelle Ebene zu lenken und sie zu einer selbständigen Interpretation zu animieren.“ – Als Indiz hierfür deutet Schleinhege unter anderem das Zurücktreten des eingesetzten Voice-over-Kommentars, „der sich deutlicher an den Archivbildern orientierte und mit kurzen, knappen Kommentaren vor allem die für das Bildverständnis notwendigen Kontexte illustrierte“ (ebd.). Ob es sich hierbei um einen längerfristigen Wandel in der audiovisuellen Gestaltung historischer Fernsehdokumentationen handelt oder lediglich um eine punktuelle Erscheinung, ist allerdings fraglich. Hier könnten zukünftige Studien anknüpfen, denn schon zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls in zwei Jahren werden gewiss diverse neue TV-Dokumentationen erscheinen, die sich möglicherweise ganz anderer gestalterischer Mittel bedienen werden.

Unterm Strich bietet Schleinheges Untersuchung einen fundierten Überblick über die audiovisuelle Gestaltung der TV-Dokumentationen zum Mauerfall zwischen 1999 und 2009. Insbesondere das von ihr entwickelte Analysemodell erscheint sehr produktiv und könnte in dieser Form als methodisches Grundgerüst für ähnliche Untersuchungen dienen. Ihre Arbeit ist mithin ein gelungener Auftakt für die neue Buchreihe, in der hoffentlich noch viele andere lesenswerte Abschlussarbeiten erscheinen werden, anstatt in irgendeiner Universitätsbibliothek zu verstauben.

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