H. Berghoff u.a. (Hrsg.): The Rise of Marketing and Market Research

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Titel
The Rise of Marketing and Market Research.


Herausgeber
Berghoff, Hartmut; Spiekermann, Uwe; Scranton, Philip
Reihe
Worlds of Consumption
Erschienen
Basingstoke 2012: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
£ 55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Braun, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Die Marketinggeschichte erlebt seit einigen Jahren einen Boom.1 Gleichwohl gibt es noch zahlreiche blinde Flecken. Besonders kontrovers wird über die Periodisierung der Marketinggeschichte und die These einer „Marketingrevolution“ nach 1945 diskutiert.2 Eindeutige Ergebnisse dieser Kontroversen zeichnen sich bisher noch nicht ab. Dies liegt vor allem daran, dass es an – auch transnational angelegten – Fallstudien mangelt, die nicht nur die Geschichte des Marketingdenkens, sondern auch die Marketingpraxis berücksichtigen. In diese Lücke stößt der vorliegende Sammelband, der in insgesamt zwölf Beiträgen die Entwicklung von Marketing und Marktforschung in Europa und den USA seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beleuchtet.

Die Herausgeber Hartmut Berghoff, Philipp Scranton und Uwe Spiekermann heben in ihrem einleitenden Beitrag ausdrücklich die Bedeutung der Marketingpraktiker hervor, die – oftmals ohne theoretische Vorbildung – intuitiv die Entwicklung des modernen Marketing vorantrieben. Wenngleich die Einflüsse der Theorie auf die Umsetzung in den Unternehmen nach 1945 zunahmen, spielten sie auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Die Interdisziplinarität und die zahlreichen Wurzeln des Marketing machen es nach Berghoff, Scranton und Spiekermann erforderlich, das Phänomen in einem breiten kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext zu untersuchen. Als wichtige zu berücksichtigende Themenbereiche identifizieren sie die Komplexe Informationen, Institutionen und Märkte. Diese drei Kategorien dienen zugleich als gemeinsame analytische Richtschnur für den Sammelband.

Alexander Engel demonstriert in seinem Beitrag über die Transformation des Markts für Indigo-Farbstoff in Europa von 1780 bis 1910, dass der Erfolg des indischen Indigos in Europa vor allem der East India Company zu verdanken war, die die Plantagenbesitzer in Indien mit den notwendigen Informationen über die europäischen Märkte versorgte und insofern eine wichtige Scharnierfunktion zwischen Produzenten und Konsumenten einnahm. Die Industrialisierung der Farbstoffherstellung und insbesondere die Markteinführung von synthetischem Indigo durch die BASF im Jahr 1897 „changed the rules of the indigo game“ (S. 36). Für den schnellen Erfolg des synthetischen Indigos macht Engel nicht nur das geschickte Marketing der BASF verantwortlich, sondern auch das Unvermögen der Produzenten von natürlichem Indigo in Britisch-Indien, sich an das neue und dynamischere Marktumfeld anzupassen.

Jamie L. Pietruska widmet sich dem Wandel des Baumwollmarkts in den USA im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Eindrucksvoll belegt sie, wie der Markt in zunehmendem Maße durch gewagte Ernteprognosen privater und staatlicher Experten („cotton guessers“) und darauf basierende Termingeschäfte an den Börsen beeinflusst wurde. Der Glaube der Baumwollhändler an die oftmals sehr optimistischen, jedoch wenig validen und teils gar manipulierten Prognosen zur jährlichen Ernteausbeute sorgte für einen drastischen Preisverfall von Baumwolle und damit für eine wirtschaftlich prekäre Situation der Baumwollproduzenten. Erst durch allmähliche Reformen des staatlichen Agrarstatistikwesens konnte die Marktunsicherheit in den 1910er-Jahren rationalisiert werden.

Daniel J. Robinson thematisiert als erster Beiträger das Marketing im engeren Sinne. Er untersucht die Marketing-Methoden von spezialisierten Versandhändlern in den USA, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert so genannte Patent-Arzneien vertrieben, dubiose „Wunderheilmittel“ aller Art, die ohne ärztliches Rezept gekauft werden konnten und oft von zweifelhaftem Nutzen waren. Robinson konstatiert, dass die Firmen schon am Ende des 19. Jahrhunderts ein intensives Direkt-Marketing betrieben und zugleich Anfänge einer modernen Konsummarktforschung erkennen ließen, deren Ergebnisse sie nach der eigenen Nutzung an „Letter Brokers“ weiterverkauften, die daraus wiederum große Datenpools aufbauten.

Alexia M. Yates beschäftigt sich mit der Bedeutung von Intermediären für die Entwicklung des Immobilienmarkts und insbesondere des Immobilienmarketings in Paris. Nachdem Immobilien lange Zeit nicht als handelbare Güter im klassischen Sinne angesehen worden waren, entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die – oftmals kritisch beäugte – Berufsgruppe der Immobilienmakler. Sie machten sich die Undurchsichtigkeit des Pariser Immobilienmarkts zunutze, stilisierten sich selbst als Informationsasymmetrien abbauende Instanz und verstanden sich als serviceorientierte Marketingexperten für Immobilien. Wie Yates widmet sich auch Sévereine Antigone Marin in ihrem Aufsatz über Handelsmuseen in Frankreich und Deutschland dem Problem von Informationsasymmetrien auf Märkten um 1900. Die Museen sollten insbesondere kleinen Unternehmen, die bis dato nicht oder kaum ins Ausland exportiert hatten, als Informationsquelle über die Beschaffenheit ausländischer Märkte dienen. Ihren Erfolg schätzt Marin jedoch als gering ein, da die Unternehmer weniger ein Informationsproblem, sondern vielmehr ein Umsetzungsproblem hatten, das auch die Handelsmuseen nicht lösen konnten.

Josh Lauer untersucht die Ursprünge von transaktionsbezogener Kundendatenanalyse und zielgruppenorientiertem Marketing im US-amerikanischen Einzelhandel in den 1920er-Jahren. Ausgangspunkt für die Gewinnung detaillierter Kundendaten waren die Kreditabteilungen großer Einzelhändler, die allmählich den absatzpolitischen Wert der von ihnen gesammelten Kundendaten bei der Vergabe von Konsumentenkrediten erkannten. Die Kreditmanager begannen in der Folge mit der systematischen Auswertung der Daten, um das Einkaufsverhalten ihrer Kunden zu untersuchen. Im Zeitalter des Durchbruchs zum modernen und anonymen Massenkonsum in den USA gelang es den Einzelhändlern, auf Basis der Kreditdaten zielgruppenorientierte Marketingstrategien zu entwickeln.

Die beiden folgenden Beiträge von Stefan Schwarzkopf und Sean Nixon beschäftigen sich mit der Entwicklung des Marketing in Großbritannien im 20. Jahrhundert. Schwarzkopf fokussiert die Marktforschungsaktivitäten staatlicher und öffentlich-rechtlicher Einrichtungen in den 1920er- bis 1950er-Jahren. Er kritisiert, dass viele Unternehmenshistoriker „have searched for the origins of market and consumer research in the sphere of the market itself“ (S. 127) und kann zeigen, dass öffentliche Einrichtungen in Großbritannien bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine umfangreiche Marktforschung betrieben, um Informationsasymmetrien und Unsicherheit auf Märkten abzubauen, Know-how über Handelswege und Konsumverhalten zu generieren und die gewonnenen Daten zu nutzen, um staatliche Serviceleistungen (zum Beispiel Verkehrsinfrastruktur) effizienter zu gestalten. Sean Nixon wendet sich der Entdeckung von Zielgruppen in Marktforschung und Marketing im Großbritannien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Hausfrau, und somit der Segmentierung von Märkten zu. Er untersucht, wie die britische Tochter der US-amerikanischen Werbeagentur J. Walter Thompson in den 1950er- und 1960er-Jahren versuchte, die „moderne Hausfrau“ differenziert zu erfassen und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse für ein zielgruppenorientiertes Marketing zu nutzen.

Kenneth Lipartito analysiert die Rezeption der durch Sigmund Freuds Psychoanalyse beeinflussten Motivforschung in den USA nach 1945. Wie in der deutschen Debatte um die Motivforschung befürchtete auch die US-amerikanische Öffentlichkeit eine Manipulation der Konsumenten durch „unterbewusste“ Werbung. Manipulation stand freilich in einem krassen Gegensatz zum US-amerikanischen Ideal einer freien Konsumgesellschaft. Auch Greg Donofrio widmet sich der Entdeckung der Frau in Marktforschung und Marketing – am Beispiel der Tankstellen-Betreiber in den USA. Die traditionell männlich dominierte Tankstellen-Branche unterschätzte lange Zeit die ökonomische Bedeutung von Frauen, obwohl die Zahl der weiblichen Autobesitzer im Laufe des 20. Jahrhunderts drastisch zunahm. Donofrio konstatiert, dass sich die Tankstellen in der Folge von männlich dominierten zu geschlechtsneutralen Orten wandelten.

Der letzte Beitrag von Patrick Hader Patterson thematisiert die Rezeption des Marketing in den kommunistischen Staaten Europas während des Kalten Kriegs. Obwohl Marketing offiziell zunächst als Instrument des kapitalistischen Westens abgelehnt wurde, nutzten die sozialistischen Regime in Europa de facto zumindest zwei Teilbereiche durchaus intensiv: die Marktforschung und die Werbung. Pattersons Studie bietet hervorragende Anschlussmöglichkeiten zur weiteren Erforschung des Marketingdenkens und der Marketingpraxis in kommunistischen Ländern.

Insgesamt hinterlässt der Band einen sehr positiven Eindruck. Die transnationale Perspektive und die hervorgehobene Wechselwirkung zwischen Marketingdenken und Marketingpraxis bieten einen dankbaren Ansatz für die künftige Forschung. Der Band regt zum Überdenken der gängigen Periodisierungsmodelle der Marketinggeschichte an und verdeutlicht, dass die für die Zeit nach 1945 oftmals konstatierte Marketingrevolution wohl weniger eine Revolution als vielmehr ein evolutionärer Prozess war, der seine Wurzeln im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte.3

Anmerkungen:
1 Siehe beispielhaft für den deutschsprachigen Raum Hartmut Berghoff (Hrsg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer universellen Sozialtechnik, Frankfurt am Main 2007; Christian Kleinschmidt / Florian Triebel (Hrsg.), Marketing. Historische Aspekte der Wettbewerbs- und Absatzpolitik, Essen 2004.
2 Stanley C. Hollander u.a., The Myth of the Marketing Revolution, in: Journal of Macromarketing 25 (2005), S. 32–41; D. G. Brian Jones / Alan J. Richardson, The Myth of the Marketing Revolution, in: Journal of Macromarketing 27 (2007), S. 15–24.
3 Für den deutschsprachigen Raum konnte dies unter anderem bereits Roman Rossfeld belegen: Roman Rossfeld, Schweizer Schokolade. Industrielle Produktion und kulturelle Konstruktion eines nationalen Symbols 1860–1920, Baden-Baden 2007, S. 226–460.

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