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Titel
Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Jureit, Ulrike
Erschienen
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Kuchenbuch, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die Fragestellung von Ulrike Jureits Studie zum „Ordnen von Räumen“ ist so einleuchtend, dass man sich fragt, warum sie nicht schon früher jemand zum Ansatzpunkt eines monografischen Schnitts durch die deutsche Geschichte gemacht hat: Wie entstand die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“? Und inwiefern stand die Diagnose eines Mangels an „Lebensraum“ mit den Territorialisierungspraktiken des späten 19. und des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang? Jureit versteht unter Territorialisierung die kartografische Eingrenzung, aber auch die praktische, politisch-verwaltungsmäßige Inbesitznahme von Herrschaftsgebieten. Gemeint sind also gleichermaßen die Grenzfestlegung des „Generalgouvernements“ 1939 wie die Umzirkelung kolonialer Gebiete im Zuge des „Scramble for Africa“. Mit diesen beiden Räumen sind die zeitlichen und geografischen Parameter der Versuchsanordnung der Studie angesprochen, die man falsifizierend nennen könnte: Wenn Jureit einen recht großen Zeitraum in den Blick nimmt – von den 1880er-Jahren bis 1945 –, dann auch, um die Annahme eines Kontinuums zwischen dem biologistisch begründeten, in seinen Konsequenzen eliminatorischen Expansionismus des „Dritten Reichs“ und der Territorialisierungspraxis des Imperialismus in Frage zu stellen. Die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen eroberten Gebiete in Osteuropa, so Jureit, wurden nicht als leere Landschaften aufgefasst. Sie waren nicht voller weißer Flecke, wie die Land(nahme-)karten Afrikas. Im Gegenteil wurden sie als aktiv – und gewaltsam – zu leerende aufgefasst.

Ausgehend von der Beobachtung, dass der Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts auch als räumliche Verdichtung erlebt wurde, fragt Jureit zunächst nach der Bedeutung dieser Erfahrung für den Kolonialismus. Am Beispiel der Verhandlungen deutscher, britischer und portugiesischer Kommissionen um den Grenzverlauf Deutsch-Südwestafrikas zeigt sie, dass die koloniale Territorialisierung zwar in der Standardisierung von Grenzziehungsverfahren resultierte, aber kaum als Versuch verstanden werden kann, Druckausgleichsräume für beunruhigende Bevölkerungsdynamiken zu schaffen. Und obwohl sich um die Jahrhundertwende im Lebensraum-Konzept des Geografen Friedrich Ratzel erstmals geografisches, geopolitisches und sozialdarwinistisches Denken zu der Vorstellung verbanden, die räumliche Ausbreitung menschlicher Populationen sei evolutionär bedingt, waren die deutschen Planungen im Militärstaat „Ober Ost“ 1915 noch von der imperialen Wahrnehmung einer zivilisatorischen Rückständigkeit Osteuropas geprägt. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Diagnose Raummangel „biologisiert“. Nicht nur die Beschneidung des deutschen Staatsterritoriums – der sich Jureit in einer ausgezeichneten Fallstudie zur Grenze Oberschlesiens annähert – und die damit verbundene Minderheitenproblematik in den Grenzregionen, sondern auch der Legitimitätsverlust des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsparadigmas führten direkt in die Weimarer Debatte um den „Deutschen Raum“. Verstärkt wurde nun kulturgeografisch über Territorien nachgedacht und gesprochen und ein Bedingungsverhältnis von Naturraum, Bewirtschaftungsweise („Boden“) und „völkischer“ Eigenart ins Zentrum gerückt, mit dem sich revisionistische Souveränitätsforderungen untermauern ließen. Allerdings war die Rede vom Raum weiterhin schillernd. Bestes Beispiel ist Hans Grimms Roman „Volk ohne Raum“ von 1926. Grimms Protagonist sieht sich von der industriellen Welt (und von den modernen Geschlechterverhältnissen) um seinen Lebensentwurf gebracht und versucht, diesen zunächst in Afrika und dann im „Osten“ zu verwirklichen. Der Bestsellerautor selbst verweigerte sich jedoch der restlosen Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Jureit kann überzeugend einen qualitativen Wandel postulieren, der erst mit dem Primat des biologistischen Territorialisierungprinzips im „Dritten Reich“ vollzogen war. Dieses Prinzip erst legitimierte die rassistischen „Räumungsarbeiten“ des Zweiten Weltkriegs, die Deportierung und Ermordung der Juden des besetzten Polen im Vorfeld der Umsiedlung der „Volksdeutschen“, die im „Generalplan Ost“ und konkurrierenden Programmen in immer größeren zu „germanisierenden“ Gebieten auf immer radikalere Weise erfolgen sollte.

Der Fluchtpunkt Vernichtung lässt Jureit vor allem Räume betrachten, die aus Sicht der Verantwortlichen verlustfrei leerbar, weil unnatürlich heterogen waren. Manchmal drängt sich die Frage auf, ob Jureits Diskontinuitätsthese nicht vor allem für (neuerdings oder zunächst) exterritoriale Räume gilt. Auch Ariane Leendertz, die selbst mit einer Studie zur deutschen Raumplanung im 20. Jahrhundert hervorgetreten ist, merkt das in ihrer Rezension an1: Wer beim „Ordnen“ von Räumen lediglich an die infrastrukturelle und wirtschaftliche Erschließung denkt – auch Techniken, Platz zu schaffen –, stößt womöglich häufiger auf Praktiken, die im kolonialen Zeitalter erprobt wurden, und auch im „Dritten Reich“ auf Experten, die nicht nur dem „Leeren“ das Wort redeten. Mit Blick auf den Umgang mit Raummangel könnte man überdies fragen, wie die Integration der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg zu Jureits Erzählung passt. Im Hinwies auf derartige politische Zäsuren überschreitende Integrationsanstrengungen liegt übrigens auch die Pointe des Territorialitätskonzepts Charles Maiers2, das Jureit zwar heranzieht, allerdings nicht zur Periodisierung (S. 18).

Einer der großen Vorzüge des Buchs ist, dass es die medialen Bedingungen, unter denen Räume zu Territorien wurden, ernstnimmt. Jureit versteht sich auf beneidenswerte Weise auf die Interpretation des „rhetorischen“ Charakters und des taktischen Einsatzes der Kartografie. Schon die Karten des Imperialismus hatten zum Füllen weißer Flecken aufgefordert, die, wie die Autorin darlegt, erst aus der Praxis der Routenaufnahme bei der Durchquerung der entsprechenden Gebiete entstanden. Im Ringen um den Grenzverlauf zwischen Deutschland und Polen 1919 verliehen die Konfliktparteien mittels suggestiver Flächenfärbungen „ethnischen“ Mehrheitsverhältnissen visuell Evidenz, die als Zahlenmaterial weniger klar erschienen. Karten halfen, die methodische Problematik hochaggregierter Daten zu Sprachverhältnissen auszublenden und suggerierten Zusammenhänge zwischen heterogenen Kleinregionen. Das lässt sich ausgezeichnet nachvollziehen in einem im Bucheinband eingesteckten Extraheft, in dem die wichtigsten besprochenen Karten in Farbe reproduziert sind – ein wirklich nachahmenswertes Verfahren. Angesichts der wohldurchdachten Gestaltung ist etwas schade, dass auf ein gründlicheres Lektorat des Buches verzichtet wurde, das nicht frei von Redundanzen ist und durch ein Register leserfreundlicher geworden wäre.

Diskussionswürdiger als solche Kleinigkeiten scheint die Annahme Jureits, der Raummangel sei im gesamten Untersuchungszeitraum für weite Teile der deutschen Gesellschaft affektbesetzt gewesen. Es liegt nahe, Territorialisierung als „Kontingenzunterbrecher“ (S. 13) zu verstehen, als Sinnstiftungsleistung, die insbesondere in als Krisen erlebten Phasen Halt bietet. Wie verbreitet aber Beklemmungsgefühle infolge der modernen „time-space compression“ (David Harvey) tatsächlich waren, das können die wenigen Quellen nicht zeigen, die Jureit diesbezüglich heranzieht. Um einer solchen kollektiven Gefühlslage auf die Spur zu kommen, müsste man andere Quellen lesen als die stark auf Überzeugung angelegten Proklamationen, die Jureit zur Ausleuchtung des Weimarer Raumdiskurses nutzt. Und trotz aller Hinweise auf das Kompetenzgerangel unter den Schreibtischtätern, die die (Raum-)„Ordnung durch Terror“ vorbereiteten, könnte man doch die Eigenlogik des Expertendiskurses stärker gewichten, also die Radikalisierung mancher Position als Versuch interpretieren, überhaupt Expertenbedarf zu schaffen. Grundsätzlich birgt die retrospektive Psychologisierung durch plakative Formeln wie „klaustrophisches Lebensgefühl“ (S. 250) oder „Massenklaustrophobie“ (S. 388) die Gefahr eines Determinismus, gegen den Jureit gerade anschreibt. Vom Challenge-response-Modell, das man hier wittert, grenzt sich die neuere Emotionengeschichte eher ab.

Auch, weil sich in Jureits Argumentation das klaustrophobische Lebensgefühl vom Explanans der europäischen Moderne zum Explanandum der NS-Vernichtungspolitik wandelt, mag man schließlich fragen: Was könnte der länderübergreifende Blick zu Tage fördern – jenseits der sowjetischen Territorialisierungslogik, die Jureit kurz am Beispiel des Hitler-Stalin-Pakts darstellt? War das semantische Feld des „Lebensraums“ deckungsgleich mit den Staatsgrenzen, die es zur Disposition stellte? Wie schätzten die amerikanischen und europäischen Geografenkollegen die „Volk ohne Raum“-Problematik vor 1939 ein? Inwiefern lässt sich eine Verwandtschaft mit Praktiken der verblieben Kolonialmächte feststellen oder sogar mit der „Ordnung“ auf technischem Wege gewonnener Territorien? Immerhin wurden auch die Pionierbauern der niederländischen Polder auf ihre „biologische“ Eignung hin ausgelesen. Hier, genauso wie beim US-Frontiermythos oder den völlig anders gelagerten Beengungsdiskursen des Zionismus können Jureits spannende Befunde als Grundlage für Vergleiche dienen. Und wie der Rezensent beim Verfassen dieser Besprechung erfahren konnte, werden diese Vergleiche bereits unternommen, auch von der Autorin selbst.3

Anmerkungen:
1 Vgl. Ariane Leendertz, Die Logik der Landnahme, in: Zeitschrift für Ideengeschichte VII (2013) H. 3, S. 120–122.
2 Vgl. Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831.
3 Vgl. den Tagungsbericht von Philipp Meyer: Leerer Raum: Raumbilder, Ordnungswille und Gewaltmobilisierung. 13.02.2014-15.02.2014, Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 04.04.2014, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5294> (15.05.2014).

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