P. Kuhlmann u.a. (Hrsg.): Geschichte der Altertumswissenschaften

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Titel
Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon


Herausgeber
Kuhlmann, Peter; Schneider, Helmuth
Reihe
Der Neue Pauly. Supplemente 6
Erschienen
Stuttgart 2012: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
LXII, 738 S.
Preis
€ 179,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Der neueste Supplementband des „Neuen Pauly“ zur Geschichte der Altertumswissenschaften hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: Umfasst werden soll in diesem biographischen Lexikon der Zeitraum vom 14. bis zum 20. Jahrhundert; den geographischen Rahmen bilden Deutschland, das weitere Europa und die USA; neben den eigentlichen Altertumswissenschaftlern sollen auch Forscher verwandter Disziplinen (etwa Ägyptologen und Altorientalisten) sowie weitere Gelehrte, die einen bedeutenden Beitrag für die Altertumswissenschaften geleistet haben (beispielsweise Max Weber), berücksichtigt werden. Vollständigkeit wird dabei nicht angestrebt (S. XIII). Über den prinzipiellen Ausschluss noch lebender Forscher (S. XIII) ließe sich diskutieren, da etwa Christian Meier, Alexander Demandt oder Peter Brown einen größeren Beitrag geleistet haben dürften als so mancher aufgenommene Forscher. Hier wären wohl eher Ausnahmen von der Regel angebracht gewesen.

Eingangs werden folgende einführende Materialien geboten: Eine Autorenliste mit samt verfassten Artikeln (S. VI–XII), eine Auflösung der abgekürzt angegebenen Übersetzer von ursprünglich in anderer Sprache verfassten Artikeln (S. XII), ein die Ziele und Kriterien des Bandes erläuterndes Vorwort (S. XIIIf.), eine Einführung der Herausgeber in die Geschichte der Altertumswissenschaften (S. XV–XLVI), ein Abkürzungsverzeichnis (S. XLVII–L), eine chronologische Auflistung der erfassten Forscher (S. LI–LXI) sowie Hinweise zur Nutzung und eine Transkriptionstabelle für die Umschrift des Altgriechischen (S. LXII).

In dieser Rezension auch nur einen Bruchteil der 742 Artikel zu besprechen, wäre kaum möglich; deswegen nur eine kleine Auswahl mit Schwerpunkt in der Spätantikeforschung. Die begutachteten Artikel sind insgesamt von hoher Qualität, besonders lesenswert sind etwa die Artikel zu André Chastagnol (Andreas Gutsfeld, Sp. 223f.), Jacobus Gothofredus (Jürgen Leonhardt, Sp. 487f.), Arnold H. M. Jones (Stefan Rebenich, Sp. 627–629), Henri Grégoire (Heinrich Schlange-Schöningen, Sp. 491–495), Adolf von Harnack (Stefan Rebenich, Sp. 533f.), Otto Hirschfeld (Stefan Rebenich, Sp. 578f.), Ernst Hohl (Uwe Walter, Sp. 582f.), Theodor Mommsen (Stefan Rebenich, Sp. 836–842), Ernst Stein (Kay Ehling, Sp. 1186f.) und Joseph Vogt (Volker Losemann, Sp. 1272–1274). Kritisch sind nur kleinere Details festzuhalten: Zum Artikel über Joseph Bidez von Valeria Lilie (Sp. 102f.) sei angemerkt, dass es etwas irreführend ist, das Erscheinen der Sozomenos-Ausgabe als „sehr verzögert“ zu bezeichnen, da Bidez die „Zusammenarbeit mit der […] Akad. […] im Zuge des Ersten Weltkrieges abgebrochen hatte“ (Sp. 102); so wurde die Ausgabe erst 1960 (und somit fünfzehn Jahre nach Bidez’ Tod) postum von Günther Christian Hansen herausgegeben. Klaus Rosen folgend, schreibt Lilie, Bidez’ Julianbiographie habe im nationalsozialistischen Deutschland „zweifelhaften Ruhm“ (Sp. 103) erworben; dies dürfte, wenngleich nicht vollkommen verfehlt, etwas zu eindimensional formuliert sein, da auch die bereits 1930 erschienene französische Ausgabe von deutschen Gelehrten großes Lob erhielt.1 Die Bedeutung der Biographie in Deutschland dürfte somit primär auf ihre historische Leistung und weniger (und dies nur in gewissen Kreisen) auf die Ideologie des Dritten Reiches zurückzuführen sein. Im Artikel zu Wilhelm Ensslin (Sp. 358f.) von Hartmut Leppin hätte noch auf die Besonderheit hingewiesen werden können, dass Ensslins Dissertation (von 1911) im Jahre 1923 erst mit außergewöhnlich großem zeitlichen Abstand publiziert wurde; für ihn existiert zudem ein zweiter, nicht zitierter Nachruf.2 Im Artikel zu Felix Jacoby von Roland Baumgarten (Sp. 616f.) wurde eine aktuelle Studie zu dessen Promotion und früher Karriere übergangen.3 Die Charakterisierung des Werkes über die Briefe des Libanios als Edition ist in dem ansonsten sehr guten Artikel von Hartmut Leppin (Sp. 1160f.) zu Otto Seeck die einzige Ungenauigkeit. Im Artikel zu André Piganiol von Andreas Gutsfeld (Sp. 976f.) verwundert das Fehlen seiner drei Bände kleiner Schriften.4

Der erste Eindruck des Lexikons ist somit überzeugend: Kompetente und oft bereits durch frühere wissenschaftshistorische Studien bewährte Forscher bieten hochwertige Artikel, zu denen allenfalls kleinere Ergänzungen anzumerken sind. Das Problem des Bandes liegt nicht darin, was er bietet, sondern eher darin, was er nicht bietet. Die Herausgeber weisen selbst darauf hin, dass nicht alle für die Altertumswissenschaften wichtigen Gelehrten aufgenommen wurden (S. XIII), doch sind die Lücken auch bei einer zufälligen Recherche erheblich größer als zu erwarten.5 Die Herausgeber begründen die bewusste Lückenhaftigkeit des Bandes mit einer „Beschränkung im Umfang“ (S. XIII), doch kann dies nur bedingt überzeugen, da eindeutige Kriterien für die Aufnahme eines Gelehrten oder für den Verzicht auf ihn nicht gegeben werden. Über viele der aufgenommenen prominenten Forscher wie beispielsweise Theodor Mommsen kann man sich auch leicht an anderer Stelle informieren, für viele der übergangenen, weniger bedeutenden oder heute zu unrecht vergessenen Gelehrten liegt dagegen bislang nur wenig Literatur vor, die mühsam zusammengesucht werden muss, so dass eine Zusammenstellung in diesem Lexikon sinnvoll gewesen wäre.

So lässt sich im Gesamturteil dieser Band mit einem Münzwurf vergleichen: Hat man Glück und der gesuchte Gelehrte ist erfasst, wird man kompetent und zuverlässig informiert; ist dies nicht der Fall – was ebenso wahrscheinlich ist –, so ist der Nutzen gering. Trotz der deutlich aus dem Band hervortretenden Kompetenz der einzelnen Autoren bleiben zahlreiche Fehlstellen, die den Wert des Nachschlagewerkes einschränken. Kay Ehling teilte dem Rezensenten indes mit, dass wohl über einen Ergänzungs- und Nachtragsband diskutiert wird. Dies wäre sehr zu wünschen, da mit einem sorgfältig zusammengestellten und in ähnlicher Qualität angefertigten Zusatzband ein nützliches und wertvolles Nachschlagewerk für jeden an der Geschichte der Altertumswissenschaften Interessierten geschaffen würde.

Anmerkungen:
1 So von folgenden Rezensenten: Johannes Geffcken, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 193 (1931), S. 131–135; Rudolf Helm, in: Historische Zeitschrift 146 (1932), S. 317–320; Eberhard Richtsteig, in: Philologische Wochenschrift 51 (1931), Sp. 625–633; Otmar Schissel von Fleschenberg, in: Byzantinisch-neugriechische Jahrbücher 9 (1929/30), S. 369–372.
2 Helmut Berve, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1966, S. 170–175.
3 Wolfgang Rösler, Felix Jacobys Promotion an der Berliner Universität, in: Klio 92 (2010), S. 422–426.
4 André Piganiol, Scripta varia, Bd. I–III, Brüssel 1973. So bietet der erste Band ein Vorwort mit Verweis auf sämtliche Nachrufe, weiterhin sind in jedem Band einige Briefe Piganiols abgedruckt. Auch der Artikel zu Jacques-Paul Migne (Valeria Lilie, Sp. 826f.) hätte noch bibliographisch ergänzt werden können: Árpád P. Orbán, Die Patrologie von Jacques-Paul Migne, in: Renée I. A. Nip u.a. (Hrsg.), Media Latinitas, Steenbrug 1996, S. 295–304.
5 Die folgende Liste von Fehlstellen ist nicht das Produkt einer systematischen Recherche, sondern einer eher zufälligen Suche nach einem Artikel zu folgenden einschlägigen Gelehrten (mit Forschungsschwerpunkten): Ada Adler (Suda), Johann Rudolf Asmus (Julian), Wilhelm A. Baehrens (Panegyrici Latini), Susan H. Ballou (Historia Augusta), Corrado Barbagallo (antikes Bildungswesen), Norman H. Baynes (Spätantike), Ludwig Bieler (Theios aner, frühes irisches Christentum), Arthur E. R. Boak („Manpower shortage“), Ursul P. Boissevain (Cassius Dio), Emil von Borries (Julian), Theodor Büttner-Wobst (Polybios, Zonaras), Charles U. Clark (Ammianus), Carl de Boor (byzantinische Quellen), Franz Dölger (Byzanz als Fortsetzung der Antike), Richard Förster (Libanios), Jean Gaudemet (Rechtsgeschichte), Johannes Geffcken (spätantikes Heidentum), Sigismundus Gelenius (Ammianus, De rebus bellicis), Heinrich Gelzer (Frühbyzantinistik), Otto Gradenwitz (Codex Theodosianus), Robert Grosse (Militärgeschichte), Gustav Haenel (Rechtsgeschichte), Werner Hartke (Historia Augusta), Ludo Moritz Hartmann (Italien in Spätantike und Mittelalter), Rudolf Helm (Chronik des Hieronymus), Léon Homo (3. Jahrhundert), Ludwig Jeep (Kirchenhistoriker der Spätantike), Paul Jörs (Rechtsgeschichte), Adolf Jülicher (Kirchengeschichte), Dietmar Kienast (Augustus, Kaiserchronologie), Theodor Klauser (Kirchengeschichte), Elimar Klebs (Prosopographie), Richard Klein (Spätantike), Alfred Klotz (Latinistik), Heinrich Kraft (Patrologie, Konstantin), Paul Krüger (antike Rechtsgeschichte), Karl Krumbacher (Byzantinistik), Charles A. Lécrivain (Verwaltungsgeschichte der Spätantike), Johannes Leipoldt (Kirchengeschichte), Ludwig Mendelssohn (Herodian, Zosimos), Assunta Nagl (Spätantike), Karl Johannes Neumann (Julian, Kirchengeschichte), Jean-Rémy Palanque (Spätantike), Hermann Peter (spätantike Literatur), Michael Petschenig (spätantike Literatur), Franz Pichlmayr (Aurelius Victor), Giovanni Battista Pighi (Ammianus), Eberhard Richtsteig (Libanios, Julian), Hans Schaefer (frühes und klassisches Griechenland), Otto Seel (Literatur der römischen Republik), William Seston (Diokletian), Wolfgang Seyfarth (Ammianus), Arturo Solari (Spätantike), Karl Friedrich Stroheker (Germanen, Spätantike), Fritz Taeger (Herrscherkult), Rafael Taubenschlag (Rechtsgeschichte), Edward A. Thompson (Germanen, Ammianus), Henri und Adrien de Valois (Spätantike), Carl Wagener (Eutropius), Johann Christoph Wolf (Libanios), Eduard von Wölfflin (Klassische Philologie), Eduard Zachariä von Lingenthal (Rechtsgeschichte), Karl Zangemeister (Orosius) und Friedrich Zucker (Papyrologie).

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