A. Abdelfettah u.a. (Hrsg.): Savoirs d'Allemagne en Afrique du Nord

Cover
Titel
Savoirs d'Allemagne en Afrique du Nord (XVIIIe-XXe siècle).


Herausgeber
Abdelfettah, Ahcène; Messaoudi, Alain; Nordman, Daniel
Erschienen
Saint-Denis 2012: Editions Bouchène
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Jansen, Deutsches Historisches Institut, Washington DC

Der Maghreb ist in der deutschen Historiographie ein Nebenschauplatz. Angesichts der überragenden Bedeutung Nordafrikas für die neuere Geschichte Frankreichs und anderer europäischer Mittelmeeranrainer wirken etwa die deutschen Kolonialinteressen in der Region wie eine kurze und weitgehend folgenlose Episode. Es mag daher symptomatisch erscheinen, dass eine Tagung (2004 in Paris) zur intellektuellen und wissenschaftlichen Beziehungsgeschichte zwischen „Deutschland“ – bzw. dem deutschsprachigen Raum – und dem Maghreb seit dem 18. Jahrhundert auf eine Initiative französischer und maghrebinischer Forscher zurückging. Eine Auswahl der Beiträge zu dieser Konferenz liegt nun in Buchform vor.

Da Nordafrika bereits weit vor seiner kolonialen Besetzung ab 1830 eine beliebte Destination europäischer Forschungsreisender war, stehen einem solchen Unterfangen vielfältige Ansatzpunkte zur Verfügung. Was kann jedoch daran interessant sein, sich auf „Wissen aus Deutschland“ – so die vage Formel des Titels – zu konzentrieren? Der Grund, der in der Einleitung eines der Herausgeber, Alain Messaoudi, anklingt, liegt in der Kombination zweier Kontexte: der (auch wissenschaftlichen) deutsch-französischen Rivalität im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie der Möglichkeit für die kolonisierte Bevölkerung, auf alternative Ressourcen intellektueller Autorität jenseits der Wissensproduktion der Kolonialmacht Frankreich zurückzugreifen: „Haben diese [deutschen] Werke nicht eine Wiederaneignung des in ihnen enthaltenen Wissens durch jene erleichtert, die sie zum Gegenstand hatten, indem sie den ‚indigenen‘ Eliten ein Mittel lieferten, sich von der französischen Kolonialmacht zu befreien?“ (S. 12) Diese mehrfach aufgegriffene Frage nach widerständiger Aneignung (S. 222f., S. 235) variiert eine für die politische Geschichte erwiesene Tatsache, dass nämlich der deutsch-französische Konflikt, insbesondere während des Ersten Weltkriegs, maghrebinischen Antikolonialisten gewisse Handlungsspielräume bot.

Doch verrät ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis, dass die in dem Band versammelten Beiträge weit über diese eng gefasste Fragestellung hinausgehen. Eingerahmt durch Messaoudis Einleitung, einem interessanten Überblicksartikel von Daniel Nordman zum allgemeinen Verhältnis von Kolonialismus, Forschungsexpeditionen und internationaler Kooperation/Konkurrenz im Maghreb sowie einer Schlussbetrachtung von Michael Werner handelt es sich um elf Fallstudien, die thematisch, geographisch und chronologisch ein breites Spektrum abdecken: von Berichten deutscher Reisender im ausgehenden 18. Jahrhundert über Anti-Piraterie-Kampagnen Bremer Politiker bis hin zur Geschichte der Germanistik im kolonialen und nachkolonialen Algerien. Nur fünf von ihnen haben überhaupt koloniale Kontexte zum Gegenstand. De facto beziehen sich nur wenige der Beiträge direkt auf die Frage nach dem Zusammenhang von kolonialer Herrschaft, internationaler Wissensproduktion und Widerstand; viele von ihnen stehen stärker mit mindestens zwei weiteren Forschungsfeldern in Verbindung: einmal der Geschichte europäischer Forschungs- und Orientreisender, der durch sie produzierten Wissensformen und Fremdbilder sowie deren möglicher politischer Nutzung, sodann der Forschung zu deutsch-französischen Kulturtransfers, betrachtet nicht vom klassischen Beispiel Sachsen her, sondern im Dreiecksverhältnis mit einer auswärtigen (wenn auch später kolonisierten) Region, was, wie Werner in seinem Schlusswort ausführt, zu einer Vervielfältigung der Betrachtungsmaßstäbe, Handlungsebenen, Objekte und Perspektiven führt. Wie bei Sammelbänden üblich, schwanken die Qualität und der Zuschnitt der verschiedenen Beiträge.

Die Kapitel sind grob chronologisch geordnet, wenngleich aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Länder (von Marokko bis Libyen) eine übergreifende Periodisierung schwer möglich ist. In zeitlicher Hinsicht rahmen zwei historische Figuren die Beiträge ein, die sich mit vorkolonialen Zeiträumen befassen: der Mediziner Johann Ernst Hebenstreit (1703–1757) und der Entdecker Gerhard Rohlfs (1831–1896). Beiden Personen und ihren Publikationen sind jeweils dichte Analysen gewidmet. Jocelyn Dakhlia nimmt in ihrem Beitrag Hebenstreits Berichte über seine Nordafrika-Reisen zum Anlass für eine Analyse interkultureller Kommunikationsprozesse und komplexer Zugehörigkeiten im Mittelmeerraum des 18. Jahrhunderts. Anhand des Gebrauchs der „lingua franca“, wechselnder Solidaritäten in den europäischen Diasporagemeinschaften sowie von interkulturellen Missverständnissen arbeitet sie ein Widerspiel aus „Wiederbehauptung oder gar Erfindung einer europäischen Identität“ und „Öffnung gegenüber der lokalen Kultur, ja sogar deren Wiederaneignung“ (S. 71) heraus. Bettina Dennerlein beschreibt Rohlfs Aufstieg zu einem vielgelesenen Publizisten in Deutschland und zeigt, wie in seinen Berichten (neutrale) Beschreibungselemente gegenüber (meist negativen) Bewertungen mit der Zeit an Gewicht verloren. Sie betont, dass eine Analyse Rohlfs Berichte nicht auf ihre politisch-ideologischen Orientierungen reduzieren dürfe, sondern auch nationale wie internationale akademische und außerakademische Öffentlichkeiten und persönliche berufliche Ambitionen einbeziehen müsse.

Andere Beiträge wenden sich stärker den deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen zu. Federico Cresti und Aurélia Dusserre fragen danach, wie die Ergebnisse deutschsprachiger Forschungsreisender in Libyen bzw. Marokko in Frankreich rezipiert worden seien. Während sie zwar auf Übersetzungen, Buchbesprechungen und persönlichen Austausch verweisen, bleibt im Unklaren, wie die Rezeptionsprozesse genau abliefen, welches Wissen „transferiert“ und transformiert wurde und welche Rolle der politische Kontext spielte. Auf letzteren wiederum konzentriert sich Mounir Fendri, der die Wahrnehmung deutscher Forschungsreisender in Tunis durch französische militärische und konsularische Vertreter betrachtet und dabei einen Wandel von einer bis in die 1860er Jahre hinein vorherrschenden kooperativen Haltung zum (nicht gänzlich unberechtigten) Misstrauen konstatiert. Weitgehend im Feld der Diplomatie- und Politikgeschichte bewegt sich schließlich der Beitrag Tilmann Hademanns, der die Rolle hanseatischer Politiker innerhalb der transnationalen Kampagnen gegen die Barbareskenstaaten im Umfeld des Wiener Kongresses 1814–1819 und deren strategische wie auch weltanschaulichen (vor allem protestantischen) Triebfedern beleuchtet. Auch wenn nicht alle von ihnen durchweg auf derartige Formulierungen verzichten, machen die Beiträge doch deutlich, wie problematisch es für große Teile des Betrachtungszeitraums ist, spezifisch „deutsches Wissen“ (S. 203) identifizieren zu wollen. Dies hängt nicht nur mit der komplexen staatlichen Struktur der deutschen Territorien zusammen. Vielmehr waren viele der deutschsprachigen Forschungsreisenden eingebunden in internationale Netzwerke, handelten häufig mit Unterstützung oder sogar im Auftrag nicht-deutscher Institutionen und bewegten sich auch vor Ort in einem Milieu wechselnder konsularischer Zugehörigkeiten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts steigerten Kolonialismus vor Ort und Konflikte in Europa die Bedeutung nationaler Zuordnungen für die Maghrebforschung.

In den Beiträgen zur Kolonialzeit nehmen die deutsch-französischen Beziehungen einen entsprechend prominenten Platz ein. Ernstpeter Ruhe lenkt den Blick auf die Beschäftigung deutscher Militärs mit dem Verlauf und den Methoden des Eroberungskriegs in Algerien ab den 1830er Jahren, die vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Verhältnisses in Europa erfolgte. Ève Grand-Aymerich zeichnet nach, wie es trotz zahlreicher politischer Verwerfungen zu einer deutsch-französischen Kooperation im Bereich der nordafrikanischen Epigraphik kam. Ahcène Abdelfettah führt anhand der langsamen und schwachen Etablierung des Deutschen als Unterrichtsfach in algerischen Lycées und an der Universität von Algier in die umkämpfte Frage des Fremdsprachunterrichts in Französisch-Algerien ein. Während die Frage lokaler Aneignungen in diesen Beiträgen allenfalls gestreift wird, suchen die beiden letzten Beiträge diese in den Mittelpunkt zu rücken. Michèle Sellès-Lefranc hebt auf die zentrale Rolle ab, die Lehrer aus der algerischen Kabylei bei der ethnographischen Wissensproduktion während der französischen Marokkoexpedition 1904/5 und zu Beginn des Protektorats gespielt haben. Inwieweit diese jedoch intellektuelle Spielräume durch den Rekurs auf „deutsche“ Referenzen gewonnen hätten, bleibt unklar. Der Beitrag Nedjma Abdelfettah Lalmis zeichnet den intellektuellen Werdegang des franko-algerischen Germanisten, Soziologen und Essayisten Mohand Tazerout (1893–1973) nach, der sich in der Zwischenkriegszeit als ein wichtiges Sprachrohr deutschen Gegenwartsdenkens in Frankreich etablierte, bevor er sich dem maghrebinischen Unabhängigkeitskampf zuwandte. Anhand einer Ausnahmegestalt wird ein beeindruckendes Beispiel für die „engen Handlungsspielräume, die die koloniale Situation algerischen Intellektuellen eröffnen konnte“ und die „intellektuellen Zirkulationen, die im 20. Jahrhundert zwischen Deutschland, Frankreich und dem Maghreb“ entstehen konnten, präsentiert (S. 274). Ob es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem intellektuellen Deutschlandbezug und dem (späteren) antikolonialen Emanzipationsstreben gab, wird indes auch hier nicht zwingend deutlich.

Insgesamt liegt damit ein breites und anregendes Panorama vor, das die vielfältigen (biographischen, politischen, wissenschaftsinternen, institutionellen, kommerziellen und so weiter) Facetten der maghrebinisch-deutsch-französischen Wissenschaftsgeschichte vorführt und an offengebliebenen Fragen deutlich macht, dass in diesem Bereich noch einiges zu tun ist.

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