Titel
Deutsche am Amazonas. Forscher oder Abenteurer? Expeditionen in Brasilien 1800 bis 1914. Begleitbuch zur Austellung im Ethnologischen Museum, Berlin-Dahlem in Zusammenarbeit mit dem Brasilianischen Kulturinstitut in Deutschland (ICBRA)


Herausgeber
-
Erschienen
Berlin 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
136 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Schwarz, Keimyung University, Daegu, South Korea

Im Zentrum Berlins, dort wo sich heute der Parkplatz des Martin-Gropius-Baus befindet, wurde im Jahr 1886 das Königliche Museum für Völkerkunde feierlich eröffnet. Die Verlegung des Ethnologischen Museums nach dem Zweiten Weltkrieg an den Stadtrand wird von den Ausstellungsmachern als räumliches Sinnbild gewertet. Doch dieser Tage müssten sich Anthropologie und Ethnographie eigentlich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen, in den Kulturwissenschaften werden sie als heimliche Leitdisziplinen gefeiert, so dass man mit hohen Erwartungen in dieses Randgebiet pilgert. Eine klare Antwort auf die Frage, die sich Ausstellung und Katalog im Titel gestellt haben, bietet Viola König in ihrem Prolog zum Begleitbuch nicht, sie überlässt das Problem dem Leser (15). Aber im Grunde handelt es sich um eine rhetorische Frage, denn schon der deutsche Entdecker Südamerikas, Alexander von Humboldt, der mit seiner Reise in den Jahren von 1799 bis 1804 den entscheidenden Anstoß für die wissenschaftliche Erkundung des Erdteils gab, war Forscher und Abenteurer zugleich, den ein an Wahn grenzender wissenschaftlicher Ehrgeiz durch Malariasümpfe und über Stromschnellen hinweg getrieben hat. Anita Hermannstädter stellt im Ausstellungskatalog zunächst naturkundliche Expeditionen vor, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Amazonas-Gebiet durchstreiften.

Als erste wissenschaftliche Abhandlung über das Leben brasilianischer Indianer, die Botokuden, gilt die Beschreibung, die Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied zu seiner Reise in den Jahren 1815-1817 verfasst hat. In einem Artikel über den Ethnologen Karl von den Steinen präsentiert Frau Hermannstädter dann zwei Expeditionen zum Rio Xingú, einem südlichen Zufluss des Amazonas, in den Jahren 1884 und 1887, die dem Berliner Völkerkundemuseum einen enormen Zuwachs an Ethnographica einbrachten. Im Mittelpunkt der Ausstellung aber stehen zwei Expeditionen aus den Jahren 1903-1905 und 1911-13, die Theodor Koch-Grünberg ins nördliche Amazonasgebiet geführt haben. In einem Brief vom Rio Negro berichtet der Forschungsreisende von einem „Leben voll Wildheit, voll Gefahren, - aber auch voll Reiz, voll Freiheit und Unternehmenslust!“ Die Ethnologie hatte sich zu der Disziplin entwickelt, die den Gegensatz zwischen einer Forschung am Schreibtisch, der in der Ausstellung übrigens auch seinen Platz hat, und dem Abenteuer der Reise aufgelöst hat in der Feldforschung. Die Attraktivität dieses Fachs besteht gerade darin, dass die akademischen Zwangsrituale zur Aufnahme in die Zunft der Ethnologen flankiert werden von Initiationsphasen, die dem Wissenschaftler unerhörte Freiheiten bieten, aus der eigenen Kultur herauszutreten. In der Fremde mag er sich zum Beispiel ungehemmt dem Genuss exotischer Drogen hingeben. Die mitgeschleppten Tauschwaren sicherten den Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts eine Verfügungsgewalt über ihr indianisches Objekt, über die zu berichten an die Grenze der Jugendfreiheit führte.

Koch-Grünberg ist in gewisser Weise ein idealer Prüfstein für die Problemstellung der Ausstellung, wenn man sich ernsthaft darauf einlässt, den wissenschaftlichen Charakter des ethnographischen Projekts nicht einfach vorauszusetzen. Michael Kraus stellt ihn als „Indianerfreund“ vor, dessen wissenschaftliche Erträge bis heute zu den „großen ethnographischen Pionierleistungen“ zählen. So nahm Koch-Grünberg die brasilianischen Indianer gegen den kolonialen Terror in Schutz, dem sie im Gefolge des Kautschukbooms ausgesetzt waren. (89, 95). Schwer zu vereinbaren ist das mit „groben Abwertungen“ der Indianer vor allem im Bericht zur zweiten Reise, auf der Koch-Grünberg zunehmend von einem paranoiden Mißtrauen befallen wurde: Seinen einheimischen Begleitern, von deren Loyalität mitten im Dschungel das Überleben des Forschungsreisenden abhängig war, unterstellte er Mordabsichten (92, 97).

Zur Beurteilung wissenschaftlicher Forschungsleistungen muss man untersuchen, auf welche Weise die Ethnologen ihr Material produziert haben. Nicht immer ging es bei den fieberkrank im Dschungel sitzenden Forschern besonders rational zu 1, und dass sie die Sprachen der heimgesuchten Indianer in der Regel nicht beherrschten und auf unzuverlässige Dolmetscher angewiesen waren, trug zu ihrer nervlichen Belastung nicht unwesentlich bei. Dazu kamen bestimmte Erwartungen des Publikums an die Ethnographie, die sich als wissenschaftliche Softpornographie besonders gut verkaufen ließ. Kraus kritisiert, dass Koch-Grünberg auf seiner Suche nach authentischem Indianertum die Mädchen überredet hat, sich für Fotografien nicht in Kattunröcken, sondern nur in Perlenschürzchen vor die Linse zu stellen, wo doch Perlen keineswegs ein originärer Bestandteil indianischer Kleidung gewesen seien (97). Solche Perlenschürzchen finden sich dann auch in einer Vitrine der Ausstellung, ohne dass man jedoch so konsequent gewesen wäre, daneben auch eine typische Ethnologen-Unterhose mit Hinweistafel zu den verwendeten Materialien und zur Herstellung zu platzieren. Die Indianer haben sich durchaus mit anthropologischer Neugier für die Kleidung des Ethnographen interessiert, Koch-Grünberg beklagt sich jedenfalls in einem seiner Berichte darüber, dass ihm eine Unterhose gestohlen worden sei 2, und es wäre nur fair gewesen, diesen Fetisch auch auszustellen.

Kraus hebt hervor, dass Koch-Grünberg in einer Monographie zu südamerikanischen Felszeichnungen im Jahr 1907 alle Interpretationen als „haltlose Spekulationen“ zurückgewiesen habe, die hier „Spuren einer alten Zivilisation“, „Eigentumszeichen“ oder eine „Bilderschrift“ erkennen wollten (101). Doch ein solches wissenschaftliches Forschungsergebnis heute unhinterfragt zu unterschreiben, verkennt dessen historische Funktion: Mit ihm wurden die Bewohner dieser Region nicht nur als ‚schriftlos‘ definiert und damit für den Zuständigkeitsbereich der eigenen Disziplin reklamiert, sondern darüber hinaus diente es auch der Rechtfertigung von Kolonialherren, welche die Enteignung der Indianer betrieben hatten. Die Barbaren im Wald hatten ihre Eigentumsansprüche nun erwiesenermaßen nicht schriftlich angemeldet! Das Prunkstück der Ausstellung ist eine Signaltrommel aus der Sammlung Koch-Grünberg. Direkt daneben finden sich Ritualobjekte der Káua, der Siusí et cetera. Auf den Tafeln macht sich niemand die Mühe, diese offensichtlich recht wahllos dem Archiv entnommenen Objekte für das Publikum wirklich zu erläutern und zuzuordnen. Das mag hingehen, schließlich befindet man sich - siehe den Titel - in einer Ausstellung über Forschungsreisende und nicht über Indianer. Aber dann wäre es doch vor allem angebracht gewesen, genauer zu erklären, wie diese Gegenstände vor das Auge der heutigen Betrachter geraten sind. So muss man annehmen, dass einige der ausgestellten Flöten zu dem Kultgerät gehören, das Koch-Grünberg nur mit größerer Mühe erworben hat, weil es Frauen verboten war, die Instrumente zu sehen. Koch-Grünberg fand die Geheimniskrämerei der Indianer mit den Flöten höchst lächerlich, während diese beim Verladen der Sammlung nur im letzten Moment verhindern konnten, dass die Flöten vor Frauenaugen gerieten 3. Zum Hohn der Indianer packt man die Objekte jetzt ein Jahrhundert später unkommentiert hinter Glas, nach einer Odyssee, die sie 1945 von Berlin nach Leningrad und von dort 1975 nach Leipzig geführt hat, bis sie dann 1990 wieder zurückgeführt worden sind (vgl. dazu den Artikel von Richard Haas).

Auf einer Tafel der Ausstellung wird erklärt, dass eine Expedition Glasperlen als Tauschwaren mitgeführt habe, die damals „nicht billig“ gewesen seien. Diese Information ist nur sinnvoll, wenn man mit ihr den Vorwurf zurückweisen möchte, dass die Forschungsreisenden die Eingeborenen beim Sammeln von Ethnographica in ungleichen Tauschverhältnissen mit industriell produzierter Massenware übervorteilt haben. Dagegen möchte ich anführen, dass zum Beispiel Koch-Grünberg ganz ungeniert damit geprahlt hat, die hübschen blauen Perlen, mit deren Hilfe er seine Sammlung zusammengerafft hat, seien nur Ausschussware gewesen 4.

Dieser Forscher war auch ein Pionier des ethnographischen Films, und das Material, das er im Jahr 1911 gedreht hat, wird in der Ausstellung vorgeführt, einmal mehr unaufbereitet, vor einem sichtlich erheiterten Publikum, das in seiner Hilflosigkeit angesichts der kulturellen Distanz nicht anders zu reagieren weiß. Der Tanz der Indianer gerät so zum exotischen Kasperletheater, das sich kaum von der Präsentation barbusiger Wildheit in den Völkerschauen der Jahrhundertwende unterscheidet. Die Authentizität der Filmaufnahmen wird noch unterstrichen, indem ihnen Gesänge von Indianern unterlegt werden, die Koch-Grünberg mit dem Phonographen auf Wachswalzen aufgezeichnet hat. Den Abschluss des Ausstellungsprojekts bildet die Dokumentation von Wilhelm Kissenberths Expedition am Rio Araguaya 1908 bis 1910. Der promovierte Literaturwissenschaftler hat nie eine wissenschaftliche Auswertung dieser Reise vorgelegt, der bis dahin teuersten, die das Musem für Völkerkunde finanziert hatte. Hermannstädter stützt sich in ihrem Beitrag aber auf das erhaltene Tagebuch des Reisenden, das durchdrungen ist von einem Kulturschock (117).
Vielleicht war Kissenberth tatsächlich nicht in der Lage, den gestiegenen Ansprüchen der ethnologischen Wissenschaft nachzukommen (130f.), vielleicht aber hat er sich auch deren doch höchst zweifelhaften ‚wissenschaftlichen‘ Anforderungen zu einer von ethnographischer Autorität abgesicherten Repräsentation des Fremden bewusst verweigert.

Anmerkungen:
1 Vgl. zu den wahnhaften Energien, von denen Forschungsreisende in den Tropen besessen waren, Johannes Fabian: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas. München: Beck 2001 und dazu auch meine Rezension in H-Soz-u-Kult.
2 Theodor Koch-Grünberg: Vom Roroima zum Orinoco. Ergebnisse einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911-1913. Berlin: Reimer 1917, S. 280.
3 Theodor Koch-Grünberg: Zwei Jahre unter den Indianern. Reisen in Nordwest-Brasilien 1903/1905. 2 Bde., Berlin: Wasmuth 1908/10, Bd. 1, S. 186ff., 206.
4 Ebd., S. 150.

Kommentare

Von Kraus, Michael 06.09.2002

Der Richter im Lehnstuhl ?
Anmerkungen zur Rezension von Thomas Schwarz

Mit Datum vom 14.08.2002 findet sich auf den Internet-Seiten von „H-Soz-u-Kult“ eine Rezension von Thomas Schwarz über Ausstellung und Begleitkatalog der im Ethnologischen Museum in Berlin zur Zeit gezeigten Sonderausstellung „Deutsche am Amazonas - Forscher oder Abenteurer? Expeditionen in Brasilien 1800-1914.“ (Lit-Verlag. 2002, 39,90 €. Im Museum selbst: 16,00 €. Die Ausstellung wurde verlängert und ist bis Frühjahr 2003 zu besichtigen).

Der Rezensent versucht hier dem Leser zu vermitteln, wie unkritisch die Ausstellung, bei deren Betrachtung er sich weitgehend auf einen Teil derselben, nämlich die Behandlung des Ethnologen Theodor Koch-Grünberg konzentriert, mit den Taten eben jener bzw. eben jenes Forschungsreisenden verfährt. Die Beschreibung von Katalogtext und Ausstellung unternimmt Schwarz dabei allerdings äußerst suggestiv. Pauschalurteile, die bei genauerer Kenntnis der damaligen Verhältnisse nicht haltbar sind, durchziehen den Text. So wird beispielsweise die Attraktivität des im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Faches Ethnologie mit den „unerhörten Freiheiten“ begründet, die die Feldforschung angeblich bietet, da sich der Forscher in der Fremde „zum Beispiel ungehemmt dem Genuss exotischer Drogen hingeben [mag].“
Offenbar soll dies auch für die in der Berliner Ausstellung dokumentierten Forscher Gültigkeit haben, eine nicht nur im Falle Koch-Grünbergs recht unsinnige Spekulation, auch wenn dieser sehr wohl die ‚Drogen‘-Rituale der Indianer beschrieb und sich auch sonst für seine Zeit relativ bereitwillig auf die indianische Lebensweise einließ. Einen „ungehemmten Genuss“ aber bezeugen weder die Publikationen, noch die vorhandenen, unveröffentlichten Tagebücher. 1

Des Weiteren verweist Schwarz auf die irrationalen Momente ethnologischer Forschung, wobei als Beleg für die Irrationalität der Amerikareisenden Johannes Fabians Buch über Zentralafrika angeführt wird. Fabians Studie ist nun in der Tat ein faszinierendes Werk, auf das aufmerksam zu machen sich lohnt, doch ist die undifferenzierte und reduktionistische ‚Übertragung‘ von Ergebnissen aus ganz anderen geographischen, sozialen und politischen Zusammenhängen durch Schwarz mehr als fragwürdig.

Eine weitgehende Unkenntnis der Verhältnisse in Südamerika zeigt der Rezensent, wenn er schreibt, dass die mitgeschleppten Tauschwaren den Forschungsreisenden „eine Verfügungsgewalt über ihr indianisches Objekt [sicherten], über die zu berichten an die Grenzen der Jugendfreiheit führte.“ Abgesehen von der etwas aufgeblasenen Rhetorik und der wiederum unbelegten Behauptung, reproduziert der Rezensent hier genau den Diskurs, den er den Forschern unterstellt und zu kritisieren vorgibt: Die Indianer werden von Schwarz infantilisiert zu Menschen, die ihre eigenen Interessen nicht wahren können. Jeder Forscher - Koch-Grünberg reiste bei den in der Ausstellung angesprochenen Expeditionen mit genau einem weißen Assistenten -, der hinsichtlich Informationen, Transport und Verpflegung weitgehend von den Indianern abhängig war, vermag offensichtlich trotz dieser Situation die vorgefundene Bevölkerung automatisch und nach Belieben für seine eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Die Terms of Trade der jeweiligen Tauschaktionen werden angeblich von ihm dominiert.
Tatsächlich verhielt es sich ein bisschen anders. Die Indianer wussten sehr wohl, was sie wollten bzw. nicht wollten (auch wenn das nicht unbedingt das sein musste, was Koch-Grünberg wollte oder was Schwarz meint, dass die Indianer zu wollen hätten) und sie bestimmten den Forschungsverlauf nachhaltig. Wer, wie Koch-Grünberg, wochenlang in abgelegenen Gebieten auf Ruderer und Träger warten musste (und darüber phasenweise frustrierte), der bestimmt die Machtverhältnisse vor Ort nicht in der von Schwarz suggerierten Weise. Wer in seinen Reiseberichten neben Zuneigung und Symphatie für die Indianer auch Verärgerung darüber ausdrückt, dass diese bestimmte Dinge nicht verhandeln wollten und auch die Schwierigkeiten, die es zwischen ihm und den Indianern gegeben hat, offen eingesteht, der erlebt nicht den ihm von Schwarz unterstellten Raum „unerhörter Freiheiten“. Statt dessen war der Forscher verstrickt im Spannungsfeld der eigenen berufsperspektivischen Interessen, der Interessen der indianischen Gastgeber, der politischen Verhältnisse in Südamerika und der Erwartungen der Auftraggeber.

Eine gewisse Abneigung gegenüber einer differenzierten Betrachtungsweise verrät der Rezensent erneut, wenn er es für unvereinbar hält, dass Koch-Grünberg, der in Büchern wie populären Vorträgen seinen Zuhörern regelmäßig das existente Bild vom primitiven, minderwertigen Wilden auszureden versuchte, ein „Indianerfreund“ sein kann und gleichzeitig vor Abwertungen der Indianer nicht zurückschreckte. Diese Abwertungen sind zweifelsohne schlimme Beispiele fehlgeschlagener Beziehungen und müssen analysiert und sowohl hinsichtlich der sozialen Situation ihres Entstehens, ihrer Funktion für den Autor wie auch ihrer Rezeption durch die Leserschaft aufgearbeitet werden. Doch scheint mir, um einen Vergleich zu versuchen, ein in Deutschland weilender Ausländer, der in seiner Heimat ein im Ganzen positives Deutschlandbild zeichnet, trotz grober Auseinandersetzungen mit einigen, bestimmten Deutschen (wobei der Grund für diese Auseinandersetzungen wiederum im Einzelfall zu analysieren wäre, und nicht pauschal der einen oder anderen Seite untergeschoben werden darf) kein allzu konstruierter Fall. Irrig ist die Annahme, dass Leben, Reisen, Forschen, Schreiben ungebrochene, widerspruchsfreie Tätigkeiten darstellen, bei denen die Abweichung von einem am Schreibtisch des Rezensenten 100 Jahre später gezogenen Ideal in stereotyper Manier zu richten wäre.
Unklar bleibt, inwieweit die frühen Forscher überhaupt eine Chance haben, sich aus Sicht des Rezensenten ‚richtig‘ zu verhalten. Hätte Koch-Grünberg bspw. behauptet, dass die Indianer, die er angetroffen hat, eine Schrift besitzen, so hätte er sein Publikum belogen. Berichtet er aber wahrheitsgemäß, dass die Indianer keine Schrift besitzen, so macht er sich laut Schwarz zum Handlanger des Kolonialismus.

Die Analyse der Machtverhältnisse bei Forschungsreisen und deren Auswirkungen ist eben kein einfaches Unternehmen und sie sollte vor allem kein einseitiges Unternehmen bilden. Hinter den Ausführungen von Schwarz scheint mir daher ein tieferliegendes Phänomen zum Vorschein zu kommen: So wie im 19. Jahrhundert der Gegensatz ‚Europa/Nicht-Europa‘ von Europäern häufig mit dem Gegensatzpaar ‚zivilisiert/barbarisch‘ gleichgesetzt wurde, so wird in manchem Rückblick auf jene Zeiten das Verhältnis ‚Wissenschaftler/Indianer‘ pauschal auf den Gegensatz ‚Kolonialherr/Unterdrückter‘ reduziert. Statt den Einzelfall differenziert zu betrachten, werden in anderen Kontexten erstellte Vorgaben ungeprüft für die Beurteilung der recht selektiv gelesenen Werke einzelner Forscher übernommen. Während in den Kulturwissenschaften seit Dekaden eine lange Auseinandersetzung über die differenzierte Repräsentation der Anderen geführt wird, darf das Verhalten der ‚zeitlich anderen Europäer‘ offenbar immer noch in sehr einfachen Kategorien abgehandelt werden. Es ist unbestritten, dass Wissenschaft im 19. und 20 Jahrhundert ein Instrument des Kolonialismus sein konnte (und bis heute sein kann), doch haben, ebenso wie die räumlich entfernten Anderen der fremden, auch die zeitlich entfernten Anderen der eigenen Gesellschaft eine etwas komplexere Betrachtungsweise verdient als Schwarz sie vorschlägt.

Es sind derart simplifizierende Kategorien, die Ausstellung und Katalog nicht bieten, und vermutlich ist dies das Problem, das der Rezensent damit hat. Seine Kritik verrät eine andere Herangehensweise: Statt sich, zumindest zunächst, um ein Verständnis der emischen Perspektive der Beteiligten (also auch der Forscher) zu bemühen (wobei ‚Verstehen‘ nicht ‚billigen‘, aber ‚nachzuvollziehen versuchen‘ bedeutet), wird ein großer Graben konstruiert zwischen uns guten und aufgeklärten Heutigen und den bösen Vorläufern unserer Disziplinen in der Vergangenheit. Die Distanz, die hier aufgebaut wird, mutet nicht geringer an als die den frühen Reisenden häufig pauschal unterstellte Distanz zu den von ihnen Erforschten. Die Aufarbeitung der oft brutalen und menschenverachtenden Vergangenheit Europas ist notwendig, doch muss sie unter Wahrung der Details und regionaler bzw. persönlicher Unterschiede erfolgen und darf nicht zu neuen Stereotypen und Kollektiv-Verurteilungen (‚Die Wissenschaft(ler)‘, ‚Die Europäer‘, etc.) beitragen.

Es ist eine schwierige Gratwanderung, die es hier vorzunehmen gilt, denn in der Tat war das Verhalten auch von kleinen Expeditionen oft nicht frei von Verfehlungen. Koch-Grünberg belog bspw. die Indianer an einer Stelle, um sie zur Mitreise zu bewegen und auch die Mißachtung religiöser Gefühle hinsichtlich der zitierten Flöten, die Schwarz Koch-Grünberg (diesmal berechtigt) vorwirft, ist ein Faktum, das uns über das Verhalten eines Forschers kritikwürdige Auskunft gibt: Der eigene Vorteil, legitimiert als Fortschritt der Wissenschaft, galt in diesem Fall als höherer Wert als die Rücksichtnahme auf lokale Gegebenheiten.

Die Oberflächlichkeit, mit der Schwarz an die Sache herangeht, zeigt sich jedoch einmal mehr, wenn er behauptet, diese religiösen Tabus unterlegenen Flöten seien in der Berliner Ausstellung nun „zum Hohn der Indianer“ zu sehen. Die fraglichen Flöten werden im Ethnologischen Museum gerade nicht gezeigt, was sich durch einen Vergleich der Ausstellung mit den alten Publikationen, oder durch Befragen der Ausstellungsmacher, leicht hätte überprüfen lassen. So wie Afrika nicht Amerika und Forscher nicht gleich Forscher ist, so sind auch die Flöten der Amazonas-Indianer nicht alle gleich bzw. gleichbedeutend. Aber es ging dem Rezensenten offensichtlich nicht um eine differenzierte Auseinandersetzung, sondern um die selbstgefällige Kritik einer mit kolonialem Überlegenheitsanspruch daher kommenden post-kolonialen Rhetorik.

So verdeutlicht Schwarz letztendlich den Wert einer Herangehensweise, die sich in einseitiger Textlektüre ergeht, auf eine empirisch fundierte ethnographische und kultur-historische Kontextualisierung verzichtet und den Verweis auf andere Kontexte verwechselt mit dem Beweis der eigenen Behauptungen. Ist es doch diese Art von Kritik, die sich selbst einen Raum „unerhörter Freiheiten“ konstruiert, den sie dann als Spekulationsraum der eigenen Phantasien nur allzu rasch mit unkritisch übertragenen Vorwürfen auszustatten bereit ist.

Anmerkung:
1 Nachlass Theodor Koch-Grünberg, Völkerkundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg

Literatur/Quellen:
- Fabian, Johannes, 2001, Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas. München: Beck. 412 Seiten.
- Nachlass Theodor Koch-Grünberg, Völkerkundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg


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