M. Wejwoda: Spätmittelalterliche Jurisprudenz

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Titel
Spätmittelalterliche Jurisprudenz zwischen Rechtspraxis, Universität und kirchlicher Karriere. Der Leipziger Jurist und Naumburger Bischof Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410–1466)


Autor(en)
Wejwoda, Marek
Reihe
Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 42
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 468 S.
Preis
161 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Woelki, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Seit mehr als drei Jahrzehnten erlebt das eigentlich schon für antiquiert gehaltene Genre der historischen Biografie in der Mediävistik eine fortdauernde Renaissance. Gegenstand waren seither oftmals gelehrte Juristen, die im Dienst von Fürsten und Städten an Herrschaftsentscheidungen und Modernisierungsprozessen beteiligt waren und deren Lebensgeschichte stets besondere Einblicke in konkrete gesellschaftliche Existenzformen gewährt. Dietrich von Bocksdorf (circa 1410–1466), dessen Lebensgeschichte Marek Wejwoda mit bewundernswerter Tiefenschärfe rekonstruiert, gehörte sicher nicht zu den brillantesten Rechtsgelehrten seiner Zeit, wurde aber durch jahrzehntelangen Dienst als Universitätslehrer und Advokat zu einer Schlüsselfigur für die Implementierung des ius commune in die praktische Rechtspflege in Deutschland. Die Detailstudie zu seiner Karriere und Lebenswelt löst gleich mehrere Desiderate der spätmittelalterlichen Geschichte ein, indem sie neben biografischen und rollenspezifischen Inhalten die Geschichte der Leipziger Universität und des Rezeptionsprozesses des gelehrten Rechts in Deutschland beleuchtet.

Die Studie umfasst dabei nur einen Teil der 2010/11 eingereichten Dissertation des Verfassers; weitere Monografien zur Geschichte der Leipziger Universität, zur Büchersammlung und zur juristischen Praxis sind bereits erschienen bzw. stehen unmittelbar vor der Veröffentlichung und erschließen die Lebenswelt des sächsischen Juristen in noch umfassenderem Maße.1 Der hier zu besprechende Band folgt im Aufbau dem klassischen Hiatus von ‚Leben und Werk‘: Zunächst wird die Lebensgeschichte erzählt und im Anschluss erfolgt eine Analyse von Tätigkeitsfeldern und Arbeitsweisen anhand der überlieferten rechtspraktischen Schriften Bocksdorfs.

Der biografische Abriss folgt nur auf den ersten Blick einer strengen Chronologie der Ereignisse, da innerhalb der verschiedenen Lebensphasen Tätigkeitsfelder systematisch und über jeweils längere Zeiträume hinweg analysiert werden. Den Ausgangspunkt markiert eine Einbettung des Protagonisten in die Familiengeschichte derer von Bocksdorf (S. 21–39). Hier leistet Wejwoda landesgeschichtliche Grundlagenforschung, indem es ihm insbesondere gelingt, Dietrichs Onkel und geistigen Förderer Tammo von Bocksdorf von Dietrichs gleichnamigem Bruder zu trennen (S. 28). Darüber hinaus erweist sich anhand dieser Familiengeschichte, ungeachtet aller sozialer Verflechtungen, die herausragende Bedeutung juristischer Bildung für gesellschaftliches Prestige und Aufstieg (S. 213f., 355).

Bocksdorf studierte ab 1425 in Leipzig die Artes, später kanonisches Recht, und ergänzte seine Ausbildung 1434–1438 in Perugia durch legistische Studien (S. 47–56). Gerade zu dieser in der deutschsprachigen Forschung noch kaum untersuchten Universität wären weitere Studien erfolgversprechend, für die das von Wejwoda gebrachte Material wertvolle Ansatzpunkte liefert. Bocksdorfs Studienaufenthalt ist nämlich durch umfangreiche autografe Vorlesungsmitschriften zu den Digesten- und Codexlecturae seines bislang kaum bekannten Lehrers Giovanni Petrucci da Montesperello (gest. 1464) dokumentiert. Dieser aus dem lokalen Adel stammende, jahrzehntelang in Perugia lehrende und auch in der städtischen Politik aktive Jurist steht in gewissem Gegensatz zu den in der Forschung meist favorisierten überregional berühmten und vielfach umworbenen Starjuristen und war dennoch in seiner Zeit sehr angesehen und einflussreich.

Die Karriere seines sächsischen Schülers sollte in ähnlichen Bahnen verlaufen. Nach der Promotion zum Doctor utriusque iuris kehrte Bocksdorf an die Leipziger Universität zurück und blieb hier für die gesamte Zeit seiner juristischen Laufbahn (S. 56–81). Hier erhielt er das Amt des Ordinarius der Juristenfakultät und hatte maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der Universität. Gleichzeitig übernahm er wichtige Funktionen für die Stadt Leipzig (S. 81–92) und gehörte auch, zumindest von Zeit zu Zeit, zum Kreis der Ratgeber und Gesandten des sächsischen Kurfürsten Friedrich II. (S. 92–128). In dieser Funktion war er auch mit den großen politischen Fragen seiner Zeit beschäftigt, etwa dem Basler Schisma und der Frage der kurfürstlichen Neutralität. Er war auf den Nürnberger Reichstagen des Jahres 1443 ebenso präsent wie auf dem Regensburger Türkenreichstag 1454, spielte sich aber – anders als seine Juristenkollegen Niccolò Tudeschi, Nikolaus von Kues oder auch Johann von Lieser – nie als Redner in den Vordergrund, sondern wirkte allenfalls als Verfasser oder Mitunterzeichner politischer Gutachten an der Diskussion mit.

Dennoch war sein Erfolg beachtlich. Gemessen am Pfründenreichtum als sicherem Indikator einer erfolgreichen Klerikerkarriere, erreichte er durchaus das Niveau der profiliertesten Kurialen und Konzilsteilnehmer seiner Zeit (S. 128–145). Hinzu kamen Einnahmen aus universitären Gebühren und aus der rechtspraktischen Tätigkeit, so dass Bocksdorf zu immensem wirtschaftlichen Wohlstand gelangte (S. 145–156), welcher sich in einer umfangreichen Bibliothek und großzügig dotierten Stiftungen widerspiegelte (S. 194–207).

Die dritte Karrierephase Bocksdorfs, seine Zeit als Naumburger Bischof (1463–1466), war eher ein honoriger Abschluss der Karriere des inzwischen von Alter und Krankheit gezeichneten Juristen (S. 214–220). Nachdem er sich hier gegen den päpstlichen Kandidaten Rudolf von Rüdesheim durchgesetzt hatte, konnte er in dem Kirchenamt kaum gestalterische Impulse setzen. Ein Exkurs (S. 176–193) diskutiert die Existenz einer kollektiven Berufsidentität für deutsche Juristen des 15. Jahrhunderts. In Abgrenzung zu bislang vertretenen Forschungspositionen stellt Wejwoda an der Person Bocksdorfs durchaus Anhaltspunkte für einen spezifisch juristischen Standesethos fest, der vor allem von einem quasi asketischen Arbeitseifer und klaren Vorstellungen vom notwendigen Wissenshorizont und den technischen Kompetenzen seines Berufsstandes geprägt war.

Die im zweiten Hauptteil (S. 227–341) analysierten rechtspraktischen Schriften sind in vier Handschriftenkomplexen erhalten: Ein Kopialbuch aus der Zeitzer Domherrenbibliothek und eine in Breslau erhaltene Kompilation von "informaciones domini ordinarii" enthalten Parteischriften, Urteile und Rechtsgutachten Bocksdorfs. Hinzu kommen einzelne in eine Breslauer ‚Summa‘ aufgenommene Schöffensprüche. Ungleich größere Bedeutung kommt aber einer in drei Handschriften überlieferten Sammlung von über 100 lateinischen Consilia aus der Feder Bocksdorfs zu, darf sie doch als eines der frühestens deutschen Zeugnisse dieser in Italien weit verbreiteten Gattung der juristischen Literatur angesehen werden. Die Entdeckung dieser bislang unbekannten Sammlung ist das Glanzstück der Arbeit!

Die Analyse der Schriften Bocksdorfs verfolgt weniger rechtsdogmatische Fragestellungen; vielmehr werden soziale und geografische Wirkungsräume, inhaltliche Tätigkeitsfelder und Fragen der juristischen Arbeitsweise thematisiert. Im Ergebnis zeigt sich hier eine sehr starke lokale Konzentration auf das wettinische Herrschaftsgebiet und die mitteldeutschen Diözesen Merseburg, Meißen und Naumburg. Demgegenüber erweist sich das soziale Spektrum der Auftraggeber als ausgesprochen breit: Den Schwerpunkt bilden bürgerliche Schichten und Angehörige des Niederadels, allerdings kommt auch der bäuerlichen Landbevölkerung Sachsens ein bemerkenswerter Anteil zu (S. 254–260).

Das reiche Quellenmaterial ermöglicht ausgesprochen präzise Einblicke in die Anwendbarkeit des gelehrten ius commune in der sächsischen Rechtspraxis. Naturgemäß sind vor allem Prozessschriften für geistliche Gerichte stark von gelehrter Argumentationstechnik geprägt (S. 261–268). Allerdings zeigt sich auch für weltliche Gerichte, in denen traditionell Schöffen ohne juristische Ausbildung nach Billigkeitserwägungen urteilten, eine Tendenz zum verstärkten Zurückgreifen auf die Kompetenzen des gelehrten Juristen (S. 268–282). Bocksdorfs großes Verdienst war hierbei die behutsame Einpassung gelehrter Inhalte in traditionelle Rechtsfiguren. Seine Bedeutung für die deutsche Rechtsgeschichte liegt vor allem in der Kommentierung, analytischen Durchdringung und Verortung des Sachsenspiegels in der Rechtsquellenlehre des römischen Rechts, dem hierin als kaiserlich autorisiertes ius commune in loco ein überragender Platz zugewiesen wird.

Ansonsten bleibt Bocksdorf, trotz seines Studiums an der Wirkungsstätte der großen Legisten Bartolus und Baldus, vor allem Kanonist. Neben den Kodifikationen des kanonischen Rechts (hier vor allem dem Liber Extra, kaum aber dem Decretum Gratiani und dem Liber Sextus), seltener des römischen Rechts, benutzt er gelegentlich kanonistische Kommentarwerke, wobei er hier – im Gegensatz zu vielen Juristen seiner Generation – den jüngeren Autoren wie Antonio da Butrio, Giovanni da Imola und Niccolò Tudeschi weitaus größere Bedeutung einzuräumen scheint als den Kanonisten des 13. Jahrhunderts (Guido de Baysio, Innozenz IV., Hostiensis).

Im Anhang findet sich eine Stammtafel der Familie (S. 360) sowie Editionen einzelner Quellenzeugnisse: ein Bericht über die Leipziger Universitätsreform von 1446 (S. 363–379), die beiden Testamente Dietrichs von Bocksdorf von 1459 und 1464 (S. 380–395) und verschiedene Gutachten und Briefe (S. 396–426). Obwohl hier auf eine Trennung von kritischem Apparat und Sachkommentar verzichtet wurde und nicht alle juristischen Zitate aufgelöst wurden, ist die Edition eine verdienstvolle und hilfreiche Leistung. Der Band wird durch ein Personen- und Ortsregister (S. 457–468) erschlossen.

Insgesamt erweist sich die Lebensgeschichte Dietrichs von Bocksdorf wegen der Tätigkeitsschwerpunkte seines Protagonisten vor allem für landesgeschichtliche Fragestellungen als aufschlussreich; eine überregionale Übertragbarkeit der Ergebnisse darf freilich vermutet werden. In jedem Fall demonstriert die Studie die nach wie vor spürbare Notwendigkeit und Fruchtbarkeit der qualitativen Vertiefung prosopografischer Reihenuntersuchungen durch Mikroanalysen von Lebensbildern und Institutionen.

Anmerkung:
1 Marek Wejwoda, Die Leipziger Juristenfakultät im 15. Jahrhundert. Vergleichende Studien zu Institution und Personal, fachlichem Profil und gesellschaftlicher Wirksamkeit, Stuttgart 2012; ders., Sächsische Rechtspraxis und gelehrte Jurisprudenz. Studien zu den rechtspraktischen Texten und zum Werk des Leipziger Juristen Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410–1466), [erscheint Hannover 2012]. Eine Studie „Dietrich von Bocksdorf und seine Bücher“ ist für 2013 geplant.

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