B. Diestelkamp: Ein Kampf um Freiheit und Recht

Cover
Titel
Ein Kampf um Freiheit und Recht. Die prozessualen Auseinandersetzungen der Gemeinde Freienseen mit den Grafen zu Solms-Laubach


Autor(en)
Diestelkamp, Bernhard
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
X, 360 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Bähr, Institute for British-Irish Studies, University College Dublin

Bernhard Diestelkamp ist einer der Gründerväter der neuen, interdisziplinären Reichsgerichtsforschung. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an sein neues Buch, das jetzt als über 300 Seiten starke Einzelfallstudie vorliegt. Diestelkamp analysiert darin die langwierigen und komplizierten Auseinandersetzungen zwischen der hessischen Gemeinde Freienseen und den Grafen zu Solms-Laubach, die von 1554 an über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren vor dem Reichskammergericht geführt wurden. Wissenschaftlich relevant ist der Rechtsstreit vor allem deshalb, weil die Gemeinde ausschließlich den Kaiser als Schutz- und Schirmherrn anerkannte und deshalb für sich in Anspruch nahm, reichsunmittelbar zu sein. Als Reichsdorf hätte sich Freienseen den gräflichen Herrschaftsansprüchen entziehen und konkrete Forderungen abwehren können. Es geht also um einen klassischen Fall von Justiznutzung. Diestelkamp will dabei insbesondere die Frage beantworten, „wann und wodurch“ die Argumentationsstrategie der Reichsfreiheit im Konflikt entscheidend wurde (S. 4).

Das Buch zeichnet die schwer zu durchschauende Abfolge der einzelnen Prozessschritte – teilweise überlappten sich mehrere Verfahren – minutiös nach und lässt dabei keine Wünsche offen. Hier zeigt sich Diestelkamps enorme Erfahrung im Umgang mit den Quellen: Er gliedert seine Untersuchung in insgesamt zwanzig Kapitel, die sich eng am Prozessverlauf orientieren. Die verschiedenen Parteienkonstellationen (S. 1–14), die Zwischen- und Endurteile (zum Beispiel S. 64–108) und die Bemühungen um einen außergerichtlichen Vergleich (S. 146–196) werden zu den narrativen Eckpfeilern. Den lokalen Konflikt zeichnet er weitgehend auf der Grundlage der Gerichtsakten nach.

Im Verlauf seiner Arbeit kommt Diestelkamp zu wichtigen Forschungsergebnissen, die ältere Befunde schärfen oder erweitern. So bestätigt sich etwa die These, dass das Reichskammergericht gerade in Untertanenkonflikten in der Regel beide Parteien zu disziplinieren versuchte, um den Konflikt einzuhegen und eine außergerichtliche Lösung zu ermöglichen (S. 69–71, 195). Die Tatsache, dass es im Prozessverlauf zu erheblichen innergemeindlichen Konflikten kam, ist zwar nicht neu.1 Dass sich aber gewissermaßen „zwei Gemeinden mit jeweils eigenständigen Selbstverwaltungsorganen“ (S. 55) gegenüberstanden, ist bemerkenswert und müsste systematisch untersucht werden.

Besonders aufschlussreich ist der Konflikt um die Freienseer Kirche: Der herrschaftstreue Pfarrer verweigerte den – aus seiner Perspektive – rebellischen Gemeindemitgliedern den Zugang zum Gottesdienst und zog den Kirchenschlüssel ein. Der Streit um die Verfügungsgewalt über die Kirche wurde zum Lackmustest für die kommunale Autonomie an sich (S. 84–87, 99, 110–111). Hier wird die typisch vormoderne unauflösbare Verflechtung von Politik, Religion und Recht auf außergewöhnlich instruktive Weise deutlich. Diestelkamp kann außerdem nachweisen, wie sich die finanziellen Belastungen, die in Untertanenprozessen typisch waren, in der Gemeinde konkret auswirkten (S. 169, 239, 281). Schließlich zeigt er anschaulich, wie die Juristen Ende des 18. Jahrhunderts die polizeirechtlichen Befugnisse des Landesherrn und die Freiheit des Privateigentums gegeneinander ausspielten (S. 283–332). Diese vielfältigen Ergebnisse belegen, wie wichtig quellenkritisch fundierte Einzelfallstudien für die Reichsgerichtsforschung nach wie vor sind.

Gleichzeitig verschenkt das Buch allerdings auch viel Potential: Die spannende Frage, wie man in der Gemeinde überhaupt auf die Idee kam, sich als Reichsdorf neu zu erfinden, bleibt weitgehend unbeantwortet. Das lässt sich nicht allein mit der Quellenlage erklären. Diestelkamp erwähnt selbst, dass es in der Region ein historisches Bewusstsein dafür gegeben haben dürfte, was Reichsunmittelbarkeit konkret bedeutete und welche politischen Ziele man mit der Behauptung, eigentlich „frei“ zu sein, erreichen konnte (S. 11). Als strategisch ausgerichtete „historische Gegenkonstruktionen“2 waren derartige Vorstellungen von Freiheit in der ländlichen Gesellschaft zwar ungewöhnlich, aber nicht beispiellos. In der Regel kamen in diesem Zusammenhang politische Erfahrungen aus dem Nahraum ins Spiel. Auch für das Freienseer Beispiel wäre es deshalb interessant gewesen zu erfahren, ob es in der Nachbarschaft vergleichbare Untertanenprozesse gab, an denen man sich orientierte. Sammelten Gemeindedeputierte Informationen in Dörfern, die ähnliche Prozessstrategien verfolgten? Die offenbar sehr weitläufigen Netzwerke der kommunalen Eliten (S. 47, 105f.) scheinen das nahezulegen.

Die Vorstellung, die Gemeinde sei auf städtische Verbündete mit „weiterem Horizont“ angewiesen gewesen, um ihre Reichsunmittelbarkeit zu fingieren (S. 11f.), greift angesichts der verbreiteten Kaiserrhetorik in der ländlichen Gesellschaft vermutlich zu kurz. Dafür spricht auch, dass die Gemeinde die politischen Verhältnisse im Reichsverband offenbar gut genug kannte, um direkt an den Kaiser zu supplizieren (S. 174f.). Zumindest im 18. Jahrhundert war der Gemeindevorsteher nachweislich mit den verschiedenen Appellationsmöglichkeiten vertraut (S. 274). Unter Umständen unterschätzt Diestelkamp also den politischen Horizont des ‚Gemeinen Mannes‘.

Es wäre wichtig gewesen, diese zentralen Fragen im Buch konkret zu diskutieren. Stattdessen bleibt der Leser im Unklaren darüber, welche Interpretationen Diestelkamp stillschweigend vorausgesetzt und welche er möglicherweise verworfen hat. Die konkrete Forschungsleistung verbirgt sich zu häufig hinter den Kulissen. Diestelkamp entscheidet sich zudem immer wieder dagegen, an sich korrekte Feststellungen mit Belegen aus der Literatur abzusichern. Beispielsweise hätte er meines Erachtens die Erträge der Kommunalismusforschung (S. 99), der Konfessionalisierungsforschung (S. 111) und der Kriminalitätsgeschichte (S. 134–140) ausdrücklich berücksichtigen müssen. Mehrere Kapitel sind überhaupt nicht in die Forschungsdiskussion eingebettet und beschränken sich auf eine gründliche, aber gewissermaßen „freistehende“ Quellenanalyse. Ein Literaturverzeichnis fehlt völlig.

Insgesamt scheinen mir die Erkenntnismöglichkeiten, die der Konflikt bietet, noch nicht ausgeschöpft. Diestelkamp hat eindrucksvoll und souverän die Grundlagen gelegt und den Fall wissenschaftlich zugänglich gemacht. Allerdings hätte man sich stellenweise mehr Interpretation und weniger Deskription gewünscht.

Anmerkungen:
1 David M. Luebke, His Majesty’s Rebels. Communities, Factions, and Rural Revolt in the Black Forest, 1725–1745, Ithaca 1997; Werner Troßbach, Individuum und Gemeinde in der ländlichen Welt, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001, S. 197–217.
2 Andreas Suter, Der Schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte – Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997, S. 417.

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