Cover
Titel
Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte


Autor(en)
Birkhan, Helmut
Erschienen
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Krischke, Institut für Englische Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

In seiner neuesten Publikation "Kulturgeschichte der Pflanzen im Mittelalter" nimmt Helmut Birkhan den Leser mit auf eine, wie es auf der Buchrückseite heißt, „kulturgeschichtliche Zeitreise“ in die Welt des Mittelalters, in der „die Beziehungen zwischen Pflanzen und Menschen eine besondere Bedeutung hatten“. Birkhan richtet sich mit dieser Publikation an ein an Kulturgeschichte interessiertes Fach- und Laienpublikum und äußert in der Einleitung explizit die Hoffnung, sein Buch möge auch für Botaniker und Botanikerinnen interessant sein: Besonders für Botaniker und Botanikerinnen müsse die Fremdheit des kulturellen Systems des Mittelalters in Bezug auf die Pflanzenwelt nicht nur interessant sein, sondern könne sogar eine Art „Kulturschock“ (S. 7) auslösen, nämlich wenn die für den heutigen modernen Menschen ganz selbstverständliche Trennung von Botanik, Religion, Medizin und Magie in der Welt des Mittelalters als schlichtweg nicht vorhanden erkannt wird, und der Leser neben der Linde und dem Kerbel auch den Kreuzbaum Christi und den Baum der Erkenntnis im Index der Pflanzennamen wiederfindet, wobei letztere im Kontext des mittelalterlichen Weltbildes als ebenso ‚botanisch real‘ dargestellt werden wie die erstgenannten.

Allerdings ist die Zielsetzung Birkhans „nicht […] eine Gesamtdarstellung der Pflanzenmagie und auch nicht […] eine objektivierende Untersuchung der magischen ‚Möglichkeiten‘ der Pflanzen, sondern […] die Vermittlung der subjektiven Sicht besonders bei zwei herausragenden und angesehenen mittelalterlichen Autoren: Hildegard von Bingen […] und Konrad von Megenberg“ (S. 11). Ausgehend von den in der Physica der Hildegard von Bingen und in Konrad von Megenbergs deutscher Bearbeitung des Liber de natura rerum (des Thomas von Cantimpré) beschriebenen Pflanzen werden in sechs Kapiteln die wirtschaftliche Nützlichkeit der Pflanzen (Kap. 2), ihre Verwendung zu magischen Zwecken (Kap. 3), der Garten als Nutz- und Lustort (Kap. 4), die Pflanzen im Normen- und Rechtssystem des Mittelalters (Kap. 5), die Stellung und Bedeutung bestimmter Pflanzen im biblischen Kontext (Kap. 6) sowie das Pflanzenbild in der weltlichen Tradition des Mittelalters (Kap. 7) besprochen. Das einleitende Kapitel begleitet die Pflanzen „auf dem langen Weg in die Wissenschaft“, wobei Identifikationsprobleme, die angesichts von Polysemie und Synonymie sowohl bei den volkssprachlichen als auch bei den mittellateinischen Pflanzennamen mehr Regel als Ausnahme sind, mit einbezogen und erläutert werden. Abgerundet wird das Werk durch einen Index der im Hauptteil erwähnten Pflanzen, sowie durch eine umfangreiche Bibliografie.

Mit dieser Gliederung beschreitet Birkhan thematisch alle kulturhistorisch relevanten Wege und liefert neben interessanten Detailstudien auch überblicksartig angelegte Analysen, wenn er zum Beispiel die Rolle der Pflanzenwelt als literarischen Topos in der mittelalterlichen Lyrik vorstellt. Bei der Auswahl der in den einzelnen Teilkapiteln (insbesondere in Kap. 2 und 3) besprochenen Pflanzen begibt er sich jedoch in methodischer Hinsicht bisweilen auf schwieriges Gelände, wenn er sich nicht an die bei Hildegard und Konrad implizit oder explizit vorhandene Gliederung hält, sondern sich die Entscheidung, „ob eine Pflanze ‚Nutzpflanze im engeren Sinn‘ sei, […] ob etwa der Ernährungs- oder der Heilwert im Vordergrund steht“ (S. 60), vorbehält, sozusagen seiner eigenen Interpretation unterwirft. Damit läuft er Gefahr, den Pflanzen und deren Nutzwert eine moderne Sichtweise überzustülpen, die der mittelalterlichen möglicherweise nicht entspricht: Wie Birkhan es selbst deutlich formuliert, gibt es „Grenzen unseres heutigen Verständnisses“ (S. 48), und zwar nicht nur im Hinblick auf die botanische Volkstaxonomie und Nomenklatur, sondern auch auf die einleitend angedeutete, unauflösbare Verbindung von Magischem, Religiösem und Botanischem im kulturellen System des Mittelalters. Darauf weist er auch wiederholt hin: Immer wieder liefert er dem Leser neben den kulturgeschichtlich relevanten Informationen, deren Fokus die Schriften Hildegards und Konrads sind, die aber auch aus Quellen wie den Schriften von Hippokrates, Aristoteles und Albertus Magnus, aus der Bibel, aus den Etymologiae des Isidor von Sevilla, aus der Minnelyrik und den Märchen schöpfen, auch Hinweise auf die Grenzen des modernen Verständnisses, das den „trüben Schein des Binsenlichtes“ (z. B. S. 149) nicht immer zu durchdringen vermag.

Die Betrachtung der Nutz- und Heilpflanzen (Kap. 2 und 3) stützt sich insbesondere auf deren Primärqualitäten im Sinne der von Hippokrates entwickelten Humoralpathologie und diskutiert zum einen den Nutzen der Pflanzen als Färberpflanzen, als Bau- und Brennholz oder als Kerzenersatz (z. B. die Binse, S. 99), um nur ein paar Beispiele zu nennen, zum anderen ihren Wert mit Blick auf ihre heilende oder schmerzlindernde Wirkung. Mit dem „Garten als Nutz- und Lustort“ (Kap. 4) löst sich Birkhan von den Schriften Hildegards und Konrads und zeigt, wie die Vorstellungen vom biblischen Garten Eden mit den friedlich miteinander lebenden wilden und zahmen Tieren, den heimischen und exotischen Pflanzen im eingehegten Kräuter- und Nutzgarten zunächst der Benediktiner, später auch anderer Orden, nachempfunden wurden und schließlich als locus amoenus in der lyrischen und erzählenden provenzalischen, französischen und deutschen mittelalterlichen Dichtung ihren Niederschlag fanden. Die Bedeutung der Pflanzen als Symbole in der Heraldik und deren Stellenwert im Rechtssystem – unter anderem als Objekte, über die verfügt werden und deren Diebstahl oder Zerstörung nach geltendem Recht bestraft werden konnte (Kap. 5) – wird von der Vorstellung der in der Bibel bedeutsamen Pflanzen (Kap. 6) gefolgt. Der Leser lernt hier nicht nur, dass beispielsweise der biblische paradis paum nicht den Apfelbaum, sondern die Dessert-Banane (musa paradisiaca) meinte, sondern wird auch in die reiche marianische Botanik eingeführt. In Kapitel 7 runden die Darstellung der Pflanzen in der Ornamentik, ihre Bedeutung in der Onomastik sowie der Einsatz der Pflanzen als allegorische oder symbolische Zeichen in der weltlichen Lyrik und Prosa des frühen und späten Mittelalters die kulturgeschichtliche Reise in die Pflanzenwelt ab.

Auf das Quellen- und Abkürzungsverzeichnis folgt ein Index der modernen und mittelalterlichen Pflanzennamen. Leider enthält der Index nicht alle erwähnten Termini. So fehlen z.B. althochdeutsch lauh und altenglisch lēac (oder neuenglisch woodruff), wohingegen altnordisch laukr im Index erscheint, und es wird nicht gekennzeichnet, ob etwa laukr ein alt- oder mittelhochdeutsches, ein angelsächsisches oder ein nordgermanisches Wort ist. Jedoch wäre es gerade für ein des Althochdeutschen (oder auch der älteren Sprachstufen anderer germanischer Sprachen) nicht notwendigerweise mächtigen Lesepublikum bereichernd und oft auch für das Verständnis wichtig, wenn etwa altnordisch laukr, angelsächsisch lēac, althochdeutsch lauh, neuhochdeutsch Lauch und lateinisch Allium miteinander in Bezug gesetzt würden. Wer sich etwa für den Apfelbaum interessiert und im Index alle Belege nachschlagen will, muss zunächst wissen, dass sich die über den Index verteilten Lemmata afall, affaldra, apaldr, Apfalter, Apfel(baum) und Málus doméstica alle auf den Apfelbaum und seine Früchte beziehen. So sind auch an einigen Stellen (jedoch nicht überall) althochdeutsche Passagen unübersetzt geblieben. Wer des Althochdeutschen unkundig ist, kann zwar vermuten, was Folgendes heißt – „Sicher ist nur eines: wer diß krut by im hait vnd gewyhet wirt zu vnßer frauwen tag assumptionis den mag keyn zauberey geschaden“ (S. 44) –, dessen „sicher“ ist er oder sie aber vermutlich nicht.

Trotz dieser kleineren Mängel lässt sich Birkhans Studie zusammenfassend als äußerst gelehrte und sachkundige kulturhistorische Einführung in die mittelalterliche Sicht auf die Pflanzenwelt und deren Bedeutung im Grenzbereich zwischen Magie, religiöser Mystik, Botanik, Medizin und Literatur beschreiben. Zum Leserkreis des Buches gehören sicherlich Laien und Fachkundige gleichermaßen, wobei sich die Lektüre der vielen Detailstudien insbesondere für ein vorgebildetes Fachpublikum anbieten dürfte.