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Titel
Alois Mertes (1921–1985). Das außenpolitische Denken und Handeln eines Christlichen Demokraten


Autor(en)
Schneider, Georg
Reihe
Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 61
Erschienen
Düsseldorf 2012: Droste Verlag
Anzahl Seiten
571 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Als ungewöhnlich profilierter, katholisch und christlich-demokratisch geprägter Denker und Akteur hat Alois Mertes die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland wesentlich beeinflusst. Das war nicht nur in den Jahren der CDU/CSU-geführten Regierung Kohl der Fall, sondern auch in der vorangegangenen Zeit der sozialliberalen Koalition. Im Zeichen der „neuen Ostpolitik“, bei der es um die Entfeindung des Verhältnisses zur UdSSR und ihren Gefolgschaftsstaaten, vor allem auch um auskömmliche Beziehungen im geteilten Deutschland ging, hatte die Regierung Brandt/Scheel im August 1970 ungeachtet geringer parlamentarischer Mehrheit den Moskauer Vertrag abgeschlossen, der bei den Unionsparteien auf heftigen Widerstand stieß, denn er ging vom bisherigen Prinzip der Nichtanerkennung der Veränderungen ab, die Stalin hinsichtlich Deutschlands einseitig herbeigeführt hatte. Zwar hieß es in Bonn offiziell, es sei nur die Respektierung – also die bloße Hinnahme – der vollzogenen Veränderungen vereinbart worden, doch auch diejenigen Christdemokraten, die zum Interessenausgleich mit der östlichen Seite grundsätzlich bereit waren, befürchteten, dass die getroffene Übereinkunft auf eine endgültige Anerkennung hinauslaufe und damit eine deutsche Wiedervereinigung ausschließe. In der Tat ließen es die vereinbarten Texte möglich erscheinen, dass die UdSSR künftig eine derartige Interpretation geltend machen könnte.

Bei Vertragsabschluss hatte die Regierung Brandt/Scheel erklärt, dass die Neugestaltung der Beziehung zum Sowjetblock eine „befriedigende Berlin-Regelung“ einschließen müsse. Die Vier-Mächte-Verhandlungen, die im März 1970 auf Initiative des um globale Entspannung bemühten amerikanischen Präsidenten Nixon begonnen hatten, müssten gewährleisten, dass die westliche Position in der Stadt nicht weiter bedroht werde. Nicht zuletzt deswegen wurde am 3. September 1971 ein Abkommen geschlossen, das dies vorsah. Die UdSSR machte als Gegenjunktim geltend, dass es nur in Kraft treten könne, wenn man in Bonn den Moskauer Vertrag ratifiziere. Dazu bedurfte es der Zustimmung des Bundestages, in dem CDU und CSU die gleiche Stärke erreicht hatten wie die beiden Koalitionsparteien, und des Bundesrates, in dem sie über die Mehrheit verfügten. Alles hing am Votum der Unionsparteien, die damit in das Dilemma gerieten, dass sie den Moskauer Vertrag mit größtem Misstrauen betrachteten, aber das Berlin-Abkommen nicht scheitern lassen wollten.

In dieser schwierigen Situation war Mertes mit seinem Urteil gefragt. Der Mehrheitsführer im Bundesrat, der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl, berief ihn Anfang 1972 zum Staatssekretär, der für die Bundesangelegenheiten – und das waren damals in erster Linie die Verträge – zuständig war. Der Fraktionsvorsitzende der Unionsparteien im Bundestag, Rainer Barzel, ließ sich ebenfalls von ihm beraten. Damit stellte sich eine Aufgabe, für die Mertes wie kein anderer geeignet war. Er gehörte nicht nur der CDU seit Jahren an und hatte für sie bei der Wahl im Herbst 1969 kandidiert, sondern war auch, wie ihm der – auf der politischen Gegenseite stehende – Außenminister Walter Scheel 1971 bescheinigt hatte, „einer der qualifiziertesten Beamten des Auswärtigen Amtes“. Im diplomatischen Dienst war er seit 1952 tätig gewesen. Auf Posten in Frankreich und in Moskau, dazu als Referatsleiter in der Bonner Zentrale und bei einem „Sabbatical“ im Harvard-Institut von Henry Kissinger hatte er Erfahrungen gesammelt, die ihn als Kenner der Ost-West-Beziehungen auswiesen.

Im Blick auf die Ostverträge hatte Mertes vor allem die Sorge, dass Mehrdeutigkeit zu gegensätzlichen Ausdeutungen und damit zu Konflikten statt zu Einvernehmen führen würde. Das sei umso mehr zu erwarten, als die UdSSR keinen Zweifel bezüglich der antiwestlichen Ausrichtung ihrer Politik gelassen habe. Man müsse nur ihre Aussagen ernst nehmen. Daher hielt er eine Zustimmung nur dann für möglich, wenn die Bundesregierung nachweise, dass es um einen Modus vivendi, einen beiderseits akzeptierten Dissens in der Anerkennungsfrage, gehe, der die Option der Wiedervereinigung eindeutig aufrechterhalte. Als Opposition habe die CDU/CSU die nationale Pflicht, berechtigte Bedenken anzumelden und Korrekturen zu verlangen, um nicht berücksichtigte Erfordernisse zur Geltung zu bringen. Als die Regierung erwiderte, alles Nötige sei bereits geschehen, nahmen Mertes und ein Kieler Parteifreund Einsicht in vertragsrelevante Unterlagen und kamen zu dem Schluss, dies sei nicht der Fall. Ein Scheitern der Ratifikation wurde aber durch Gespräche mit der sowjetischen Seite unter Beteiligung von Mertes abgewendet, in denen sich diese informell, aber verbindlich mit der Bonner Vertragsinterpretation einverstanden erklärte. Auch wenn die Unionsabgeordneten daraufhin, anders als von Barzel beabsichtigt, meist nicht zur Zustimmung bereit waren, ließen sie immerhin die Ostverträge mittels Enthaltung passieren.

Bei den folgenden Bundestagswahlen errang Mertes ein Mandat und konnte damit erstmals auf direkte Weise politisch tätig werden. In den Oppositionsjahren nahm er entscheidenden Einfluss auf die Haltung der Unionsparteien vor allem zur damals sehr aktuellen Frage der Rüstungskontrolle. Er sah die Rüstung nicht als Ursache der Konflikte, sondern umgekehrt. Der UdSSR gehe es bei ihrer massiven, offensiv strukturierten Überrüstung nicht um Kriegführung, sondern um die politische Wirkung. Im Blick darauf hielt er ein wechselseitig vom Krieg abschreckendes militärisches Gleichgewicht sowie – zur Verhinderung eines separat auf die Bundesrepublik ausgeübten sowjetischen Drucks – eine Kollektivität aller Verpflichtungen aufseiten der NATO für notwendig. Innerparteilich warb er für das Bekenntnis zu den Ostverträgen. Diese seien auch für eine künftige unionsgeführte Regierung bindend. In der Auseinandersetzung um die Neutronenwaffe wandte er sich gegen Egon Bahr und die hinter ihm stehenden Kräfte in der SPD und hielt ihnen entgegen, es gehe dabei nicht um die Schonung von Sachen auf Kosten von Menschenleben, sondern um die Beseitigung der Kriegsoption der UdSSR, indem deren offensiv ausgerichteten überlegenen Panzermassen ihren Wert verlören.

Noch ehe die NATO beschlossen hatte, die auf Westeuropa zielenden sowjetischen SS-20-Raketen mit einer diese Option aufhebenden „Nachrüstung“ zu beantworten, formulierte Mertes diesen Standpunkt und befürwortete in der CDU/CSU-Fraktion eine konstruktive Sachzusammenarbeit mit Bundeskanzler Schmidt in diesem Sinne. Als das Vorhaben der westlichen Gegenstationierung in der Öffentlichkeit auf immer größeren Widerstand stieß, gehörte er zu denen, die sich auf allen Ebenen mit aller Energie damit auseinandersetzten. Nach der Regierungsübernahme durch Kohl im Herbst 1982 wurde er als parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt für die Fragen der internationalen Rüstungskontrolle zuständig. Auch engagierte er sich bis zur Erschöpfung gegen die anschwellende Bewegung der Nachrüstungsgegner und sah 1983/84 mit tiefer Befriedigung nicht nur die Aufstellung der NATO-Gegenraketen, sondern auch den folgenden Zerfall der Protestbewegung. Wegen seines frühen Todes 1985 war es ihm nicht vergönnt zu erleben, wie sich seine unbeirrbare Erwartung erfüllte, dass die Freiheit über den Kommunismus siegte und Deutschland seine Einheit wiedergewann.

Mertes stand stets nur in der zweiten Reihe, hatte jedoch aufgrund seines in Jahrzehnten aufgebauten Netzwerks persönlicher, gesellschaftlicher und kirchlicher Verbindungen im In- und Ausland, aufgrund seiner Bereitschaft zur offenen Kommunikation auch mit politischen Gegnern und aufgrund des Respekts, den seine christlich-ethisch geprägte Haltung weckte, weit größeren Einfluss, als es nach außen hin den Anschein hatte. Sein Leben und Wirken hat Georg Schneider sehr detailliert, genau und klar dargestellt. Dem Buch, das auch weithin wenig bekannte politische Vorgänge in Bonn beleuchtet, sind viele Leser zu wünschen.

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