M. Dumoulin u.a. (Hrsg): Ces chers voisins

Cover
Titel
Ces chers voisins. L’Allemagne, la Belgique et la France en Europe du XIXe au XXIe siècles


Herausgeber
Dumoulin, Michel; Elvert, Jürgen; Schirmann, Sylvain
Reihe
Studien zur Geschichte der Europäischen Integration 2
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Brüll, Département des sciences historiques, Université de Liège

Ces chers voisins ist ein seit 2006 bestehendes Forschernetzwerk, in dem deutsche, französische, belgische und luxemburgische Historiker die Beziehungen dieser Länder untersuchen. Nicht zufällig sind die federführenden Wissenschaftler Michel Dumoulin, Jürgen Elvert und Sylvain Schirmann (Louvain-la-Neuve, Köln und Straßburg) alle ausgewiesene Spezialisten der Geschichte der europäischen Integration. Im Rahmen von Ces chers voisins haben in den letzten Jahren verschiedene Tagungen stattgefunden. Die Beiträge der ersten Tagung (März 2006) werden im vorliegenden Band von den Projektverantwortlichen herausgegeben. Die Beziehungen zwischen Belgien, Frankreich und Deutschland sind auch das Forschungsthema der französischen Historikerin Marie-Thérèse Bitsch, der zu Ehren dieser Band erscheint 1 – bemerkenswerterweise in einem deutschen Verlag. Anstelle einer klassischen Einleitung ordnet Robert Frank die wissenschaftliche Leistung Bitschs in die (französische) Forschungslandschaft ein. Überhaupt kommt der gesamte Band ein wenig auf halbem Weg zwischen Tagungsband und Festschrift daher.

Die insgesamt achtzehn Beiträge gliedern sich in vier Teile: Etat, Nation, Révolution (I), L’Allemagne, la Belgique et la France dans le monde (II), Des occupations à l’intégration européenne (III) und Economies, sociétés et aires régionales (IV). Drei Beiträge sind in Deutsch verfasst, alle anderen in Französisch. Hilfreich für die Benutzung sind jedoch die Zusammenfassungen in Englisch und in Deutsch bzw. Französisch. Form, Umfang und Qualität der einzelnen Aufsätze sind sehr unterschiedlich. Dies liegt vor allem daran, dass vom Autor, der seinen Vortrag in der schriftlichen Fassung überarbeitet und ausgebaut hat, bis hin zum Autor, der wohl nur seinen Vortrag in Druck gegeben hat, alles in dem Band versammelt ist. Eine Homogeneisierung war hier offensichtlich von den Herausgebern nicht angestrebt. Noch erstaunlicher mag anmuten, dass letztlich nicht alle Beiträge systematisch das im Titel enthaltene nachbarschaftliche Dreiecksverhältnis aufgreifen. Gerade die politikgeschichtlich arbeitenden Autoren thematisieren vielfach bilaterale Beziehungen und hier, naturgemäß, das deutsch-französische Verhältnis. Anders verhält es sich bei den wirtschaftsgeschichtlichen Texten, in denen ces chers voisins – zumeist auch in multilateralen Bezügen – tatsächlich den Untersuchungsgegenstand bilden. Beiträge zur Kulturgeschichtliche der deutsch-belgisch-französischen Beziehungen sucht der Leser vergebens. Die in den Beiträgen verzeichnete Literatur bewegt sich durchgehend auf dem Forschungsstand des Jahres 2006.

Da – aus Platzgründen – nicht alle Beiträge gewürdigt werden können, soll es im Folgenden hauptsächlich um jene Aufsätze gehen, die das Dreiecksverhältnis zum Gegenstand haben. Den ersten Teil eröffnet Mitherausgeber Jürgen Elvert mit Überlegungen „zum Verhältnis von Revolution, Nation und Staat“ in Frankreich, Belgien und Deutschland. Nach einer Analyse der nationalen Diskurse über Revolutionen seit dem 19. Jahrhundert wirft er schließlich die Frage auf, „ob man Revolutionen wirklich als Bausteine unserer Europäischen Union betrachten sollte“ (S. 25). Damit sind wir mitten in europäischen Geschichtskonstruktionen, was Elvert betonen lässt, dass Revolutionen (gemeint sind wohl: Diskurse über Revolutionen) „der Angrenzung, nicht der Verbindung [dienten]“. Zwei weitere Beiträge aus dem ersten Teil sind bemerkenswert – aus unterschiedlichen Gründen. Rainer Hudemann unterzieht in seinem Aufsatz die Forschung zur französischen Deutschlandpolitik der 1940er und 1950er Jahre einer kritischen Überprüfung. Hudemanns Analysen zeichnen sich dabei durch ihren sehr selbstreflexiven Ton aus. Ausführlich thematisiert er die sich stetig wandelnde wissenschaftliche Annäherung an die deutsch-französisch Beziehungsgeschichte und plädiert für eine noch stärkere Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen bzw. nicht-gouvernementalen Akteure durch die Historiker. Genau dies leistet Alfred Wahl in seiner dem Fußball gewidmeten Dreiecksgeschichte – auch wenn hier bei näherem Hinsehen recht klassische Institutionengeschichte geschrieben wird. Wahl stellt die Geschichte des belgischen Fußballverbandes und seiner Beziehungen zum deutschen DFB und dem französischen Sportverband USFSA in den Mittelpunkt. Er zeigt, wie belgische Funktionäre nach der Gründung der FIFA dort über längere Zeit Posten besetzen konnten, die die Bedeutung des kleinen Landes weit überstiegen – aufgrund der Zusammenarbeit mit deutschen und französischen Kollegen. Wahl greift auch die Problematik der Kollaboration belgischer Fußballfunktionäre mit der deutschen Besatzungsmacht in den beiden Weltkriegen auf, wobei hier gerade für den Zweiten Weltkrieg noch einige Fragen offen bleiben.

Der zweite Teil ist der Rolle des Dreiecks Deutschland-Frankreich-Belgien in der Welt gewidmet. Er beginnt mit einem gleichbetitelten Aufsatz des Mitherausgebers Michel Dumoulin, der auf der Basis seiner früheren Forschungen die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den drei Ländern vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart herausstellt. Hier wird deutlich, dass wer deren politische Beziehungsgeschichte schreiben will, an den Wirtschaftsverflechtungen nicht vorbei kommt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den wirtschaftlichen Aktivitäten in den früheren Kolonien. Darauf folgt der informativste Beitrag des Bandes, in dem Wolfram Kaiser die deutschen und französischen Auftritte bei den Weltausstellungen zwischen 1878 und 1958 analysiert. Unter dem Titel „Wettbewerb durch Repräsentation“ zeigt er, wie diese Auftritte einerseits „das jeweilige politische System legitimieren und stabilisieren [konnten]“, und andererseits ermöglichten, „ein bestimmtes nationales Image für einen globalen Kommunikationsraum zu konstruieren“ (S. 103). Der Vergleich der Auftritte der jungen Bundesrepublik und der siechenden IV. Republik bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel gibt Kaiser die Gelegenheit, auch die belgischen Teilnahmen und Ausrichtungen an Weltausstellungen zu thematisieren. Erst die Schwäche Deutschlands und Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, so dabei seine These, ermöglichte dem kleinen Nachbarn Raum für „internationale Selbstinszenierung“ und Erfolgsaussichten für eine „Mittlerrolle“ (S. 114).

Unter den Beiträgen des dritten Teils ist derjenige von Dzovinar Kevonian hervorzuheben, dessen Aufsatz zur Internationalen Arbeitsorganisation in der Zeit zwischen den Weltkriegen weniger staatliche Politik denn deutsche, französische und belgische Persönlichkeiten und Personenkonstellationen innerhalb der OIT in den Blick nimmt. Jean-Christophe Romer beschäftigt sich mit der Rolle der drei Länder in der europäischen Verteidigungspolitik seit den 1980er Jahren. Dabei kommt er unter anderem auf die seinerzeit heiß diskutierten diplomatischen Initiativen anlässlich der Ablehnung der amerikanischen Intervention im Irak (2003) zurück.

In den Beiträgen des vierten Teils ist die Thematik der Nachbarschaft und der Grenzüberschreitungen vielleicht am greifbarsten. Françoise Berger und Eric Bussière befassen sich in ihrem sehr lesenswerten Text mit Kartellbildungen als einer Methode für die wirtschaftliche Organisation Europas. Dabei zeigen die Zahlen, wie wichtig Kartelle in den 1920er und 1930er Jahren als Wirtschaftsakteure in den drei Ländern waren, und inwieweit sie das „Vertragsmodell“ als bevorzugte Wirtschaftsform gegenüber dem Freihandel einerseits und dem Protektionismus andererseits förderten. Berger und Bussière diskutieren schließlich das Erbe dieser Wirtschaftsform bis in die 1980er Jahre. Birte Wassenberg beleuchtet die grenzüberschreitende Zusammenarbeit am Oberrhein seit den 1990er Jahren auf institutioneller Ebene, wobei der dritte Nachbar hier natürlich die Schweiz ist. Dabei stellt sie auch die alltäglichen Probleme heraus, für die trotz aller Initiativen im Grenzraum die Lösung manchmal dann doch nur aus Brüssel kommen könnte. Im letzten Beitrag beschäftigt sich Pierre Tilly in historischer Perspektive mit den Grenzgängern in zwei verschiedenen Regionen an der belgisch-französischen Grenze und der daraus resultierenden Gewerkschaftszusammenarbeit. Hier wäre für daran anschließende Forschungen der Vergleich etwa mit dem deutsch-belgischen und/oder dem belgisch-niederländischen Grenzgebiet spannend.

Am Ende des Bandes steht eine Zusammenfassung von Sylvain Schirmann, in der er anhand von Beispielen einige lange Linien des deutsch-französisch-belgischen Dreiecksverhältnisses vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart aufzeichnet. Dabei scheint (im Jahr 2006) vorsichtiger Optimismus durch, dass die Suche nach Europas Platz in der Welt auch weiterhin von den „lieben Nachbarn“ angetrieben werden kann. Würde er dies – einige Jahre und Wirtschaftskrisen später – heute auch noch so schreiben?

Anmerkung:
1 Stellvertretend seien genannt Marie-Thérèse Bitsch, La Belgique entre la France et l’Allemagne, 1905-1914, Paris 1994; dies., Histoire de la Belgique, Paris 1992; dies., Histoire de la construction européenne de 1945 à nos jours, 3. Aufl., Brüssel 2004 (1. Aufl. 1996).

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