Titel
Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812


Autor(en)
Furrer, Daniel
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dierk Walter, Hamburger Institut für Sozialforschung

„Eine Geschichtsschreibung, die als Wissenschaft an der Universität betrieben wird und es nicht versteht, sich in verständlicher Form an ein breites Publikum zu wenden, hat geringe Daseinsberechtigung.“ (S. 315f.) So motiviert der Kulturhistoriker Daniel Furrer seine quellennahe Alltagsgeschichte des Russlandfeldzuges von 1812. Zweifellos wendet sich die Darstellung eher an ein „breites Publikum“. Schon das an ein Schulbuch erinnernde Design des Bandes, mit illustrierten und mehrfarbig hinterlegten Kapitelvorsatzblättern, auf deren Rückseite sich jeweils ein (übrigens nicht nachgewiesenes) Mottozitat findet, und mit zahlreichen (allerdings bezaubernden zeitgenössischen) Illustrationen legt das nahe. Die Sprache Furrers ist entsprechend anschaulich und allgemeinverständlich, dabei aber dennoch präzise; für einen wissenschaftlichen Text allerdings würde sie wohl als etwas zu emphatisch („Das war ein gravierender Fehler!“, S. 303) und malerisch empfunden.

Sehr für das „breite Publikum“ gedacht ist sicher auch der Aufbau des Bandes, der nach einer Vorstellung der wesentlichen Zeitzeugen, die in den Quellen zu Wort kommen, in vier kürzeren Kapiteln auf sehr einführendem Niveau die historischen Hintergründe darstellt, vom napoleonischen Kaiserreich über die Mächtekonstellation und die Kriegführung um 1800 zu den unmittelbaren Umständen des Russlandfeldzuges. Stellenweise fühlt man sich hier erneut an ein Schulbuch erinnert, etwa wenn mit einer entsprechenden Schulatlaskarte erneut die Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches hervorgestrichen wird (S. 78f.). Ins Bild passt schließlich auch der sehr spärliche wissenschaftliche Apparat; im Schnitt kommen auf jede Textseite weniger als eineinhalb Endnoten.

Das jedoch nur zur Einordnung: Ein Forschungsbeitrag ist dieses Buch nicht, und selbst wer als Historiker nicht eine der einschlägigen vorliegenden Darstellungen des Russlandfeldzuges von 1812 gelesen hat1, wird bei Furrer wenig Neues entdecken. Vieles, was man hier über das Soldatenleben im Jahr 1812 erfährt, sind letztlich nur die allgemeinen Umstände der Kriegführung unter Bedingungen frühmoderner Hygiene und Transportmittel und miserabler Logistik. Das aber stellt Furrer für den interessierten Leser ohne große Vorkenntnisse ziemlich umfassend, sehr anschaulich und ausgesprochen kenntnisreich und souverän dar. Kern des Buches ist zweifellos das systematische Kapitel 6 zum eigentlichen Soldatenleben. Übernachten im Freien und im Quartier, (Gewalt-)Märsche, Hunger, Durst, Seuchen, Kälte, Gefecht, Gefangenschaft, Plünderung, Desertion und Strafe sowie ein kurzer Bauchladen-Abschnitt „Kurioses und Unglaubliches“ (wo es um aufopfernde Tierfreunde und heimwehkranke Schweizer geht) – alles wird quellennah im Detail berichtet. Dem schließen sich ebenfalls quellennahe Vignetten zu Wendepunkten des Feldzuges an: Die Hauptschlacht bei Borodino, blutigste der napoleonischen Kriege; der Brand von Moskau; der Übergang über die Beresina; die enttäuschte Hoffnung des Desasters von Wilna. Weitere Kapitel widmen sich der Heimkehr der (wenigen) Überlebenden und der Konfrontation zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung anlässlich von Requisitionen bzw. Plünderungen. Die ausführlichen Zitate aus den recht banalen Feldzugserinnerungen einer einzelnen Soldatenfrau, die das ganze Kapitel 13 füllen, lösen allerdings den Anspruch einer „weiblichen Sicht auf den Russlandfeldzug“ (so der Covertext des Buches) nur rein formal ein und sind mit „Kriegsamazonen“ jedenfalls viel zu theatralisch überschrieben. Dass auf dem Rückzug aus Moskau Soldatenfrauen auch Kinder bekommen haben, die dann bei -20°C erfroren sind, ist ebenfalls keine „unglaubliche Geschichte“ (S. 280). Hier wird Alltägliches allzu werbewirksam hochstilisiert. Abgeschlossen wird das Buch mit kurzen Bemerkungen zur Erinnerung an die napoleonischen Kriege.

Die darstellenden Teile des Bandes basieren, wie bereits gesagt, auf teilweise seitenlang wörtlich wiedergegebenen Zeitzeugenberichten. 28 an der Zahl, reichen sie von der klassischen Memoirenliteratur (Caulaincourt, Larrey, Marbot, Segur, Clausewitz) bis zu Selbstzeugnissen einfacher Soldaten. Zählt man, wie es Furrer tut, den Wahlfranzosen Jomini mit, so stammen zehn der 28 Berichte von Schweizern und einer von einer Schweizerin. Und das führt uns zu einem veritablen (und im Titel unbenannten) Nebenthema von Furrers Darstellung: Es handelt sich nicht zuletzt um eine Geschichte der Schweizer Beteiligung am Russlandfeldzug. Das ist aus mehrfacher Hinsicht interessant: Nicht nur, weil es ein Licht darauf wirft, dass die Grande Armée, die eine halbe Million Mann stark in Russland einfiel, nur zur Hälfte aus Franzosen und gar nur zu einem Viertel aus dem eigentlichen (vornapoleonischen) Frankreich stammte: Unter anderem marschierten vier Schweizer Regimenter nach Moskau (und rund 300 Mann kamen zurück). Ferner ist dieser Umstand interessant wegen der – von Furrer denn auch ausführlich gewürdigten – Tradition des Solddienstes von Schweizern für fremde Heere. In vielen europäischen Kriegen bis ins 19. Jahrhundert kämpften Schweizer, mitunter auf beiden Seiten, stets eng war ihre Verbindung zur Bourbonenmonarchie und überrepräsentiert waren sie noch im 20. Jahrhundert in der französischen Fremdenlegion. Aber für einen Schweizer hat die Teilnahme von Schweizern am Russlandfeldzug von 1812 noch eine tiefere, spezifische Bedeutung: Beresina. Lassen wir noch einmal Furrer selbst sprechen:

„In der Schweizer Geschichtsschreibung wird der Russlandfeldzug in die (glorreiche) Geschichte der fremden Dienste eingeordnet. […] Im Russlandfeldzug erstrahlte nochmals in hellstem Glanz, wofür die Schweiz bis heute gerne steht: Zuverlässigkeit, Präzision und vollkommene Beherrschung eines Handwerks – wobei es sich in diesem Fall um das Söldnerwesen handelt. Die Schlacht an der Beresina wird nämlich als Echo des Heldenmuts der Altvorderen von Morgarten und Sempach verstanden.“ (S. 300f.)

Bis heute kennt man denn auch in der Schweiz das im 20. Jahrhundert (!) popularisierte „Beresinalied“. Kein Wunder also, dass Furrer recht ausführlich diskutiert, ob außergewöhnlicher Heldenmut der Schweizer Truppen an der Beresina die Armee gerettet hat. Mag die Frage von verständlichem Patriotismus beeinflusst sein, so ist die Antwort ein sachliches Nein. Weder war die betreffende Aktion militärisch ausschlaggebend, noch waren die Schweizer die einzigen Helden der Beresina: Die französischen Kürassiere, die sie nach ihrem unklugen Gegenangriff heraushauen durften, vor allem aber die Pioniere, die im eiskalten Wasser die Pontonbrücken erbauten, über die sich die Reste der Grande Armée in Sicherheit brachten, haben für Furrer wenigstens denselben Anspruch auf den Lorbeerkranz – wenn denn Ruhm und Ehre überhaupt relevante historische Kategorien sind, was Furrer klugerweise stark relativiert. Eine gewisse Faszination mit dem Schweizer Heldentum im Jahre 1812 kann die Darstellung dennoch nicht verleugnen.

Anmerkung:
1 Zuletzt sehr anschaulich und erheblich quellenreicher: Adam Zamoyski, 1812. Napoleon’s Fatal March on Moscow, London 2004.

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