A. Weinrich: Weltkrieg als Erzieher

Titel
Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus


Autor(en)
Weinrich, Arndt
Reihe
Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte - Neue Folge 27
Erschienen
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Rudolf Wahl, Fachbereich 10, Universität Bremen

In seiner Dissertation behandelt Arndt Weinrich einen generationenspezifischen Aspekt, der in der Genese des deutschen Faschismus von besonderer Bedeutung ist: Während das Gros der Führung der NS-Bewegung der sogenannten Frontsoldatengeneration angehörte – also jener Generation junger Männer, die den Ersten Weltkrieg vielfach als junge Soldaten an den Fronten mitgemacht hatten – war die Masse ihrer unmittelbaren Anhänger und vor allem der Aktivisten der nachfolgenden Generation zugehörig. Den „großen Krieg“ hatten diese als Kinder und Jugendliche, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren waren, daheim erlebt. Diese heute in der Forschung zumeist „Kriegsjugendgeneration“ genannte Alterskohorte wurde ihrerseits in erheblichem Umfang und Ausmaß vom Nationalsozialismus geprägt und stellte gesamtgesellschaftlich gesehen seine demografisch wichtigste Trägerschaft dar. Dies gilt insbesondere für den männlichen Teil dieser Generation.

Arndt Weinrichs Analyse dieses Phänomens geht in vier systematischen Schritten vor. Im ersten Schritt wird der spezifische Erlebnisraum von Kindern und Jugendlichen im Deutschland des Ersten Weltkriegs erkundet. Dabei wird die existentielle Bedeutung des Krieges für diese Generation deutlich – aber auch ihre ganz eigene subjektive Rezeption der Vorgänge. Der Ausbruch des Krieges wurde vielfach als Einbruch des Außerordentlichen in den normalen kindlichen Alltag erfahren. Ihm folgte dann jedoch in der Regel eine jahrelange, sich über das eigentliche Kriegsende hinaus krisenhaft verstärkende „Prekarität als generationeller Erfahrungsraum“ (S. 41). Mangelernährung, ständige Abwesenheit der Väter, schließlich das Hineinwachsen in die ökonomischen und sozialen Katastrophen der Weimarer Republik, die mit besonderer Härte gerade diese Generation trafen, sind als generationstypische Lebenserfahrungen zu kennzeichnen. Aus ihnen generierte sich ein gesellschaftliches Protestpotential, das allerdings keineswegs spezifisch für Deutschland war. Die Brisanz dieses Protestpotentials macht Arndt Weinrich mit einem Blick auf die demografischen Strukturen deutlich: Nicht zuletzt bedingt durch die enormen Todesraten der Frontsoldaten-Generation hatte keine Generation Jugendlicher davor – und auch keine seither – in Europa einen derart hohen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Das Besondere an den deutschen Jugendlichen dieser Generation war nun freilich die politische Richtung, die ein Großteil von ihnen einschlug. Weinrich zufolge war es geradezu „paradox“ , dass sich diese Generation am Heroenkult um die „Frontkämpfer“ des Weltkrieges orientierte, obwohl sich in den meisten anderen europäischen Ländern der Jugendprotest der 1920er- und 1930er-Jahre eben gegen diesen Heldenkult richtete. Wie konnte es also zu dieser bemerkenswerten deutschen Abweichung von der europäischen Regel kommen?

Arndt Weinrich beantwortet diese Frage, indem er erneut auf den subjektiven Erfahrungsraum der Kriegsjugendgeneration insbesondere in Deutschland rekurriert – nun allerdings nicht nur in sozialer sondern auch in kultureller und mentalitärer Hinsicht. Er greift dazu den von Peter Merkl geprägten analytischen Begriff der „Victory-watchers“ auf1 und nimmt die subjektiv bedingten Folgen ernst, die die deutsche Kriegspropaganda für die Generation besaß, das heißt die Spannungen, die sich bei den Heranwachsenden aus dem parallelen Erleben gravierender Mangelerfahrungen im Alltag, scheinbarem permanenten Siegen der stets abwesenden „Heldenväter“ an den Fronten und dann dem scheinbar plötzlich und aus schwer erklärbaren Gründen verlorenen Krieg mit in der Folge sich zur Permanenz entwickelnden Mangel- und Noterfahrungen ergaben. Mit anderen Worten: Diese Generation hatte vier bittere Kriegsjahre hindurch Deutschland beständig siegen sehen, um dann mit einer in ihren Ursachen nie wirklich verstandenen Kriegsniederlage konfrontiert zu werden, die für sie zu sozial desaströsen Einschränkungen ihrer Lebensperspektiven führte.

Arndt Weinrich führt zwei weitere sozialpsychologische Aspekte von zentraler Bedeutung für diese Generation an: das gravierende Defizit an männlichen Vorbildern, ja, generell an Männlichkeit, sowie die mangelnde eigene soldatische Erfahrung. Jenseits der zentralen Kindheitserfahrung der permanent abwesenden Väter waren viele Jugendliche dieser Generation kriegsbedingte Halbwaisen – und viele der Väter, die schließlich doch zurückkehrten, waren an Leib und Seele vom Krieg schwer gezeichnet und als männliche Rollenvorbilder kaum geeignet. Kompensiert wurde dieses Defizit bei ihren Söhnen einerseits durch ein forciertes emotionales Bedürfnis nach Männlichkeit und männlicher Gemeinschaft, was in der Folge die Milieus übergreifende Attraktivität männerbündischer Organisationen für diese Generation ausmachte. Andererseits wurden die mangelnden männlichen Rollenvorbilder der Lebenswirklichkeit vor allem durch medial vermittelte Männlichkeitsstereotypen ersetzt. Arndt Weinrich sieht vor allem hier die Ursachen des generationstypischen Hangs zur Militanz und zur uniformierten „Soldatenspielerei“.

Damit hängt dann auch der zweite zentrale Aspekt eng zusammen: erstmals seit über einem Jahrhundert wuchs hier wieder eine Generation junger Männer heran, die im Gegensatz zu ihren Vätern weder einen Krieg aus der Perspektive kämpfender Soldaten kennengelernt noch eine Kaserne von innen gesehen hatte. Wie Arndt Weinrich überzeugend darlegen kann, trug dieses zu einem Generationenkonflikt bei, denn die lebensweltlichen Erfahrungen der Frontsoldaten unterschieden sich oft radikal von denen ihrer Söhne. Entsprechend marginalisiert wurden die Jugendlichen und jungen Männer in den etablierten Organisationen, die – je weiter der Krieg zurück lag desto stärker – von der Generation der Frontsoldaten übernommen wurden. Dies war im bürgerlich-protestantisch-deutschnationalistischen Milieu nicht viel anders als im katholisch-konservativen, aber auch in dem der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Gleichzeitig rückte mit dieser sukzessiven Übernahme von Führungspositionen durch die Frontsoldaten-Generation aber auch ein spezifischer „Heldenkult“ in das Zentrum der politischen Kultur der Weimarer Republik, der dem Trend der jungen Generation zur pseudomilitärisch-männerbündischen Militanz entgegenkam.

In seinem dritten Analyseschritt zeigt Arndt Weinrich am Beispiel des Weltkriegsgedenkens der Hitler-Jugend auf, wie diese Entwicklung von nationalsozialistischer Seite, insbesondere von der SA, erfolgreich instrumentalisiert wurde. Arndt Weinrich knüpft in diesem Zusammenhang an George L. Mosses These von der „sekundären Brutalisierung“2 an: Nicht der Krieg selbst habe zur Brutalisierung der politischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik geführt sondern die wesentlich medial gesteuerte Rezeption und politische Instrumentalisierung des Krieges. Im Gegensatz zu den meisten anderen politischen Milieus und Strömungen hatten führende Vertreter der Frontsoldaten-Generation in der NS-Bewegung Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre offenkundig ein Sensorium und eine strukturelle Offenheit für die mentalen Dispositionen der nachwachsenden Generation und profitierten gleichzeitig von der Ignoranz und den emotional bedingten Aversionen ihrer Generationsgenossen in anderen Bereichen des politischen Spektrums. Den Marginalisierungserfahrungen in anderen Lebenszusammenhängen wurde auf diese Weise in der NS-Bewegung ein selbstbewusster Führungsanspruch der jungen Generation entgegengesetzt, der den allgemeinen Heldenkult um die Weltkriegstoten zum Heldenkult um die „Opfer der Bewegung“ quasi umpolte. Auf diese Weise erfolgte dann mit großem Erfolg eine „Erziehung zum Soldaten“ bzw. zur „Soldatenschwester“ im nationalsozialistischen Sinne. Dieses Erfolgsrezept wurde, wie Arndt Weinrich in seinem vierten und abschließenden Analyseschritt am Beispiel der nationalsozialistischen Instrumentalisierung des Langemarck-Mythos’ aufzeigt, dann schließlich auch staatsoffiziell inauguriert und nach 1933 zur systematischen Wehrerziehung hin auf den nächsten großen Krieg genutzt.

Insgesamt lässt sich Arndt Weinrichs Studie als ein sehr valider Beitrag zur Genese des deutschen Faschismus einordnen. Sie zeigt die wissenschaftliche Erkenntnisträchtigkeit eines kultur- und mentalitätsgeschichtlich ausgerichteten Forschungsansatzes, der die Dimension subjektiver Erfahrungs- und Erlebniswelten ernst nimmt und dabei nicht zuletzt auch die genuin medialen Aspekte von Wirklichkeitsrepräsentanz und Wirklichkeitsaneignung in die Rekonstruktion von Handlungsweisen historischer Menschen einbezieht.

Anmerkungen:
1 Peter Merkl, The Making of a Stormtrooper, Princeton 1980.
2 George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993.

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