B. Clements: A History of Women in Russia

Cover
Titel
A History of Women in Russia. From Earliest Times to the Present


Autor(en)
Evans Clements, Barbara
Erschienen
Anzahl Seiten
XXV, 386 S.
Preis
€ 22,07
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carmen Scheide, Center for Governance and Culture in Europe GCE-HSG, Universität St. Gallen

Die emeritierte amerikanische Russlandhistorikerin Barbara Evans Clements hat eine Überblicksdarstellung zur Geschichte von Frauen in Russland auf Grundlage von überwiegend englischer und amerikanischer Forschungsliteratur vorgelegt. Zwei Ziele sind damit verbunden, die auch die wissenschaftliche Sozialisation der Verfasserin im Rahmen der Wiederentdeckung von Frauen- und Geschlechtergeschichte seit den 1970er-Jahren wiederspiegeln: Frauen sollen einerseits als Subjekte und Objekte der Geschichte sichtbar gemacht werden, andererseits wird die Kategorie „gender“, die (De-)Konstruktion von Differenz immer wieder reflektiert.

Das Kompendium ist in acht chronologisch angeordnete Kapitel unterteilt, die den Zeitraum von der Kiewer Rus im 9. Jahrhundert bis zum Jahr 2010 umfassen. Barbara Evans Clements folgt dabei einer etablierten Periodisierung, die nach Herrschaftsdaten ausgerichtet ist. Das Adjektiv russisch bezieht sich nicht nur auf die ethnische, sondern auch auf die staatliche Zugehörigkeit von Frauen. Deshalb werden jüdische Frauen, Frauen in Sibirien, im Kaukasus oder in Zentralasien in eigenen Unterkapiteln betrachtet. In chronologischer Hinsicht nehmen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert bis heute den größten Raum ein, was die gute Quellen- und Forschungslage für diese Jahre wiederspiegelt. Alle Kapitel folgen dem Narrationsmuster vom Allgemeinen zum Besonderen: Zunächst wird jeweils der historische Kontext und der Ausgangspunkt überwiegend männlicher Herrschaft knapp umrissen, dann folgen Bezüge zur spezifischen Frauenpolitik, die Darstellung unterschiedlicher Lebensweisen in Stadt und Land sowie Kurzbiographien ausgewählter, berühmter Frauen. Die meisten Portraits sind hinlänglich bekannt (z.B. Großfürstin Olga für die Kiewer Rus, Katharina die Große, Sofia Kowalewskaja, Alexandra Kollontaj, Pascha Angelina, Valentina Tereschkowa oder Julia Timoschenko). Die Darstellungsweise, Entscheidungen mit regierenden Personen zu verknüpfen, blendet andere Institutionen und Gruppierungen aus, die ebenfalls Einfluss auf Debatten hatten, wie etwa die Volkskommissariate für Bildung, für Arbeit oder Gesundheit in der frühen Sowjetzeit.

Barbara Evans Clements verfolgt einleitend vier Thesen: spätestens seit Peter dem Großen habe es immer wieder Versuche gegeben, Genderrollen von oben zu verändern, was zu einer frühen Frauenbewegung, revolutionären Konzepten und der Industrialisierung seit Ende der 1920er-Jahre geführt habe. Zudem sei die Geschichte des Imperiums um die Perspektive handelnder Frauen zu erweitern, da diese entweder ethnische Traditionen bewahrt hätten oder zwischen Kolonisierern und Einheimischen vermittelten und Gendermodelle des Imperiums weitergaben. Zu allen Zeiten seien Frauen durch ihre Arbeitsleistung integraler Bestandteil der Wirtschaft gewesen. Obwohl es in Russland einige Besonderheiten in Bezug auf die Frauengeschichte gab, folgten die großen Entwicklungslinien allgemeinen europäischen und globalen Mustern. Damit positioniert Barbara Evans Clements Russland als Teil Europas und widerspricht einem Rückständigkeitsparadigma.

Patriarchat und Senioritätsprinzip galten für Frauen in der Kiewer Rus (900–1462) wie auch in anderen Regionen Europas. Aufgaben von Frauen waren eng mit ihren Rollen in Familie und Haushalt verbunden, sie kümmerten sich um die Kinder und die Versorgung. Das zweite Kapitel umfasst das Moskauer Reich und wird als Zeitalter des russischen Hausbuchs Domostroi (1462–1695) tituliert. In diesem Moralkodex wird die Unterordnung der Frau unter den Mann als Ideal der Familie propagiert. Doch diese Ordnungsvorstellungen wurden graduell durch Kulturkontakte nach Westeuropa verändert, nichtadlige Frauen traten zunehmend in der Öffentlichkeit auf.

Ein langsamer, aber deutlicher Wandel erfolgte seit der Regentschaft von Peter dem Großen und betraf zunächst Frauen der Oberschichten, die jedoch nur eine Minderheit in der Gesellschaft ausmachten: Sie sollten stärker in der Öffentlichkeit auftreten, nach der Reform der Ehegesetzgebung 1720 ein Mitspracherecht bei der Ehevermittlung erhalten und durften fortan auch regieren. Dies war bei den Zarinnen Katharina I., Anna, Elisabeth und Katharina der Großen (geboren 1729, gestorben 1796, Regentschaft seit 1762) der Fall. Letzte vermittelte das Bild einer Landesmutter und propagierte somit Mütterlichkeit als neue Tugend von adligen Frauen. Gleichzeitig eröffnete sie aber auch Bildungsmöglichkeiten für weibliche Oberschichten und ernannte Fürstin Ekaterina Daschkowa zur ersten Direktorin der Russischen Akademie der Wissenschaften. Parallel zu neuen Rollenentwürfen setzte sich in ganz Europa der Kult der Häuslichkeit durch, was an der wachsenden Ratgeberliteratur zu dem Thema aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzulesen ist. Der Ehekodex von 1832 bestätigte patriarchale Strukturen, Frauen erhielten keinen eigenen Pass, eine Scheidung der kirchlichen Ehe war nahezu unmöglich. Aber innerhalb des Adels setzte ein Wandel ein, da es ab 1843 höhere Bildungseinrichtungen für Mädchen gab und sich zunehmend die Schicht der „Intelligenzija“ herausbildete.

Berühmt wurde der Salon von Awdotia Elagina in Moskau oder die Schriftstellerin Ekaterina Sumarokowa. Schreibende Frauen sahen sich nicht nur in Russland mit männlichen Vorurteilen konfrontiert, weshalb sie eher „familiäre“ Textgenres wie Autobiographien, Tagebücher oder Briefe wählten. Auf dem Land war die Mobilität durch die Leibeigenschaft weitgehend eingeschränkt, Frauen waren den Männern oder den jeweils älteren Frauen unterstellt. Verstarb der Mann, konnte die Witwe den Haushalt alleine fortführen. Durch den für das Zarenreich desaströsen Krimkrieg 1853–1856 wurde ein dringender Reformbedarf offensichtlich. Erstmals waren Krankenschwestern unter Anleitung des Arztes Nikolaj Pirogow eingesetzt worden und die Publizistin und Ökonomin Maria Wernadskaja stellte die Frage nach der Rolle und dem Ort von Frauen in der Gesellschaft. Im Zuge der sukzessiven Modernisierung eroberten Frauen nun neue Räume und Aufgaben, ausgehend von breiteren Bildungsmöglichkeiten und getragen von Reformvorstellungen für die gesamte Gesellschaft.

Soziale Mobilität und Differenzierung führten unter Frauen zu unterschiedlichen Politisierungsstrategien, die an parallele europäische Entwicklungen erinnern: Einige engagierten sich in Wohltätigkeitsvereinen, es gab Feministinnen, die für Frauenwahlrecht und Gleichstellung kämpften – Forderungen, die erst nach der Februarrevolution 1917 umgesetzt werden konnten – und Sozialistinnen, die auch die soziale Frage und den allgemeinen gesellschaftlichen Wandel diskutierten. Die bolschewistische Revolution 1917 ermöglichte einen radikalen Wandel, da die Bauern befreit wurden, es eine formale Gleichstellung von Männern und Frauen gab, Zivilehe und Scheidung eingeführt und Abtreibungen erlaubt wurden. Frauen sollten durch eine weitreichende Entlastung von Reproduktionsaufgaben in die Arbeitskraft eingebunden werden, jedoch scheiterte die Umsetzung an finanziellen Ressourcen und auch am Widerstand der Frauen selbst. Durch eine einfache Scheidung per Postkarte sahen sich besonders verheiratete Mütter im Nachteil, da sie dann schwerer Alimentenzahlungen einfordern konnten. Kantinenessen und Kinderkrippen galten zunächst als teuer und qualitativ schlechter, weshalb an einer häuslichen Betreuung und Versorgung festgehalten wurde.

Zur Durchsetzung der neuen Lebensweise wurde die Frauenabteilung der Partei (Zhenotdel) 1919 unter maßgeblicher Beteiligung von Inessa Armand und Alexandra Kollontaj gegründet. Jedoch hatten die Genossinnen starke Gegner innerhalb der Parteiführung und keine Lobby in den mittleren und unteren Parteigremien. Barbara Evans Clements verweist darauf, dass die Bolschewiki den „neuen Mann“ als Arbeiter fördern wollten, übersieht jedoch, dass es die Idee eines „neuen Menschen“ gab – der männlich gedacht wurde. Zudem hätte zumindest kurz der marxistische Kontext erwähnt werden müssen, wonach Reproduktionsarbeit keinen Mehrwert schafft und Frauenrollen deshalb als nachgeordnet betrachtet wurden. 1930 wurde die Frauenabteilung geschlossen, fortan gab es keine explizite Frauenpolitik mehr, der sozialistische Feminismus war beendet worden. Offiziell propagierte Stalin die erreichte Lösung der Frauenfrage.

Im Rahmen des Ersten Fünfjahrplans und der geplanten Industrialisierung wurden Frauen massiv als Arbeitskräfte angeworben, parallel gab es aber wenig staatliche Hilfen, die Doppelbelastung durch zusätzliche Familien- und Erziehungsarbeit zu bewältigen. In den Führungsebenen von Partei und Staat sank der Frauenanteil seit der Revolution beständig ab. Politische Maßnahmen bezogen sich auf demografische Fragen wie die Geburtenzahlen, die Regelung von Abtreibungen oder die Bezahlung von Kolchosmitarbeiterinnen. Anfänge einer neuen Frauenbewegung formierten sich kurz in den 1970er-Jahren, dann in der Perestroika und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991.

Das Buch bietet eine Fülle von Informationen, hinterlässt aber einen ambivalenten Leseeindruck: für Kenner der einschlägigen Literatur bietet es keine neuen Erkenntnisse – dafür aber viele Unschärfen in der Bewertung des Wandels und seiner Ursachen. Wichtige deutschsprachige oder finnische Forschungsergebnisse sind nicht rezipiert worden.1 Frauen ethnischer Minderheiten werden immer wieder erwähnt, aber die Auswahl ist weder durchgängig noch nachvollziehbar. Es findet keine argumentative Auseinandersetzung mit Interpretationsangeboten statt, noch werden neue Forschungsfragen oder -desiderate vorgeschlagen. Die Relativierung im Fazit, der Ort von Frauen in vielen Gesellschaften sei die Familie, Geschlechterrollen würden sich nur langsam wandeln, ist nicht falsch. Aber es hätte stärker analysiert werden müssen, wieso sich eine hierarchische Geschlechterordnung trotz enormer historischer Wandlungsprozesse stets bewahren konnte. Interessierten seien deshalb vergleichbare Werke von Carsten Goehrke oder Barbara Alpern Engel empfohlen.2

Anmerkungen:
1 Boškovska, Nada, Die russische Frau im 17. Jahrhundert, Köln 1998; Rosenholm, Arja, Gendering Awakening. Femininity and the Russian Woman Question of the 1860s, Helsinki 1999; Pietrow-Ennker, Bianka, Russlands „neue Menschen”. Die Entwicklung der Frauenbewegung von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, Frankfurt am Main 1999; Rustemeyer, Angela; Dienstboten in Petersburg und Moskau 1861–1917, Stuttgart 1996.
2 Alpern Engel, Barbara, Women in Russia, 1700–2000, Cambridge 2004; Goehrke, Carsten, Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde., Zürich 2003–2005.

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