Titel
A Laboratory of Liberty. The Transformation of Political Culture in Republican Switzerland, 1750–1848


Autor(en)
Lerner, Marc H.
Reihe
Studies in Central European Histories 54
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 371 S.
Preis
€ 99,00 / $136.00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
André Holenstein, Historisches Institut der Universität Bern

Als einen Experimentierraum republikanischer politischer Kultur stellt Marc Lerner die Schweiz im Jahrhundert zwischen 1750 und 1848 vor. Wie vor ihm schon Barbara Weinmann1 und Oliver Zimmer2 fokussiert Lerner für seinen Überblick über die schweizerische Verfassungs- und Politikgeschichte auf die sogenannte „Sattelzeit“, um die entscheidenden Etappen und Weichenstellungen im politischen Transformationsprozess von der vormodernen alten Eidgenossenschaft zur modernen Schweiz des Bundesstaates angemessen zu beschreiben. Mit dieser überzeugenden Periodisierung vermeidet es der Verfasser, die Revolutionen von 1789 bzw. 1798 als Anfänge und Gründungsereignisse in den Mittelpunkt zu stellen. Er hebt stattdessen – in Anlehnung an das Interpretament eines Jahrhunderts der Revolution – den revolutionären Charakter der ganzen Übergangsepoche hervor. Als herausstechendes Merkmal dieser Epoche stellt die Grundthese des Buches das Aufkommen und den Durchbruch einer prinzipiell neuen politischen Kultur heraus, die die Legitimität politischer Ordnung auf die Grundsätze der Volkssouveränität und der individuellen Bürgerrechte gründete. Für den Begriff der politischen Kultur orientiert sich der Verfasser an Lynn Hunts weitgefasster Definition „as the common assumptions and implicit rules of society that shape collective intent and actions“.3

Konzeptionell überzeugend ist Lerners Entscheidung, sein Argument nicht in einer durchgängigen, auf Vollständigkeit abzielenden Erzählung auszubreiten, sondern die Analyse auf krisenhafte Verknotungen in drei verschiedenen Kantonen zu konzentrieren. Die Kantone Zürich, Schwyz und Waadt sind insofern als Fallbeispiele klug ausgewählt, als der zu untersuchende Transformationsprozess dort jeweils von sehr unterschiedlichen Voraussetzungen ausging, die involvierten Gesellschaften vor variierende Herausforderungen stellte und in der Folge Krisen ganz unterschiedlichen Charakters hervorgerufen hat. Mit diesem analytischen Vorgehen fängt Lerner ein enorm breites Spektrum an einschlägigen Beobachtungen ein, die letztlich nicht nur unterstreichen, wie verschiedenartig sich der Übergang je nach den verfassungsrechtlichen und polit-ökonomischen Bedingungen in den einzelnen Kantonen gestaltete, sondern auch zeigen, wie sehr der Wandel der politischen Kultur kein linearer Vorgang, sondern von zahlreichen Rückschlägen geprägt gewesen ist. Zürich ist in Lerners Studie das Fallbeispiel für den Typus des eidgenössischen Stadtkantons, der sich im Verlauf der Transition vom Obrigkeitsstaat mit Landesherrschaft des städtischen Rates über ein großes Territorium mit starker Untertanenschaft zu einem Gemeinwesen mit parlamentarischer Demokratie fortbildete, in dem seit der liberalen Revolution von 1830 die ehemals regierende Stadt und die vordem untertänige Landschaft einander verfassungsrechtlich gleichgestellt waren. Schwyz repräsentiert den Typus des Landkantons mit Landsgemeindeverfassung, wo die Korporation der Landleute – der Verband der erwachsenen Männer im Besitz des Landrechts – in der alten Eidgenossenschaft jeweils bei ihren jährlichen Versammlungen die wichtigsten politischen Entscheidungen fällte. Von diesen weitreichenden direktdemokratischen Mitwirkungsrechten ausgeschlossen waren in der vorrevolutionären Zeit sowohl die Angehörigen der äußeren Bezirke, die als Untertanen mit starken lokalen Autonomierechten der Schwyzer Landeshoheit unterstanden, als auch die Beisassen. In Schwyz spielte sich der politische Transformationsprozess folglich zwischen den politischen Emanzipations- und Integrationsbestrebungen der äußeren Bezirke und der Beisassen auf der einen und der restaurativ-konservativen Interessenpolitik der sogenannten „altgefryten“ Landleute auf der anderen Seite ab, die für sich den exklusiven Besitz der traditionellen korporativen Privilegien und der damit verknüpften ökonomischen Nutzungsrechte behaupteten und diese Vorrechte nach dem Ende der Helvetik vollumfänglich zurückzuerlangen suchten. Die Waadt vertritt in Lerners Argumentation schließlich den Typus eines Territoriums, das zur Zeit der alten Eidgenossenschaft Untertanengebiet einer städtischen (bernischen) Obrigkeit war, das jedoch im Zuge der Helvetischen Revolution 1798 die bernische Herrschaft abstreifen und sich 1803 als souveräner Kantontalstaat und eigenständiges Mitglied der Schweizerischen Eidgenossenschaft konstituieren konnte. Mit dem Zusammenbruch der französischen Hegemonie 1813 sah sich der Kanton Waadt mit Restitutionsforderungen des bernischen Patriziats konfrontiert, das seine frühere Herrschaft über das ausgedehnte Untertanengebiet wieder errichten wollte.

Der Übergang von der vorrevolutionären ständisch-korporativen Ordnung zur postrevolutionären, liberal-konstitutionellen Ordnung war in allen drei Fallbeispielen von heftigen politischen Krisen geprägt. Diese stehen im Zentrum der Analyse und Darstellung, wobei Lerner besonders die in Streitschriften und Memorialen fassbare politische Sprache sowie die divergierenden Verfassungsvorstellungen der politischen Strömungen und Parteiungen untersucht hat. Anders als vielfach in klassischen ideen- oder verfassungsgeschichtlichen Studien bewegt sich Lerner mit dem Studium dieser politischen Pamphlete für das politisch interessierte Publikum sehr nahe an den politischen Auseinandersetzungen und Vorstellungswelten der involvierten Akteure, zu denen neben den bekannteren Meinungs- und Parteiführern auch die vielfach anonymen Vertreter eines frühen politischen Journalismus zählten.

Lerner gelingt auf diese Art ein faszinierender Einblick in die Vielfältigkeit, Hybridität und Uneinheitlichkeit des Republikanismus und seiner Freiheitsvorstellungen am Übergang in die Moderne. Die politischen Erschütterungen im Jahrhundert der Revolution ließen in der Schweiz ganz gegensätzliche Vorstellungen republikanisch-freiheitlicher Staatlichkeit und gesellschaftlicher Ordnung entstehen, deren Harmonisierung im Rahmen eines föderalen Zentralstaates 1848 ein halbes Jahrhundert politischer Auseinandersetzungen über das richtige Verständnis politischer Freiheit und die Beziehung zwischen kantonalstaatlicher Souveränität und föderalstaatlicher Gesamtordnung erforderte. Es gehört auch zu den Verdiensten dieser Studie, darauf bedacht zu sein, das Fallbeispiel Schweiz nicht isoliert zu betrachten, sondern den politischen Transformationsprozess in der Eidgenossenschaft konsequent in die großen europäischen Entwicklungslinien einzubetten und damit als Beitrag für das bessere Verständnis der Transitionsperiode in einer europäischen Perspektive zu verstehen. Zu Recht erinnert Lerner in diesem Zusammenhang in der Einleitung seines Buches daran, wie Ereignisse der nationalen Geschichte nicht nur ein Spiegel des europäischen Jahrhunderts der Revolution waren, sondern diese Epoche immer wieder auch wesentlich mitgestalteten – angefangen von Jean-Jacques Rousseaus staatstheoretischen und politischen Einlassungen im Rahmen der politischen Unruhen in dessen Vaterstadt Genf 1762ff. über die Helvetische Revolution 1798 als Reflex und Folge der großen Revolution in Frankreich bis hin zum Sieg der liberalen Kräfte im Sonderbundskrieg 1847, der damals als Fanal der bürgerlich-liberalen Revolutionen in Europa gedeutet wurde.

Anmerkungen:
1 Barbara Weinmann, Eine andere Bürgergesellschaft. Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2002.
2 Oliver Zimmer, A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in Switzerland, 1761–1891, Cambridge 2003.
3 Lynn Hunt, Politics, Culture and Class in the French Revolution, Berkeley 1984, S. 10.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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