R. Knapp: Römer im Schatten der Geschichte

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Titel
Römer im Schatten der Geschichte. Gladiatoren, Prostituierte, Soldaten: Männer und Frauen im Römischen Reich


Autor(en)
Knapp, Robert
Erschienen
Stuttgart 2012: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Fündling, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Überblicksdarstellungen zur antiken Sozial- und Alltagsgeschichte kann es nicht genug geben. Der Neuzugang aus der Feder einer Autorität zu Geographie und Quellenspektrum der Iberischen Halbinsel liest sich wie eine persönliche Entdeckungsgeschichte des Themas. Das gilt für den Schwung und Enthusiasmus, mit dem Robert Knapp seine exzellente, breit gefächerte Quellenauswahl zu einem abgerundeten Lesebuch bündelt – das gilt aber leider auch für seine teils haarsträubend eigenwilligen Grundannahmen.

Im Blickpunkt steht die Bevölkerungsmehrheit des Römischen Reiches in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten. Diese „gewöhnlichen Leute“ oder „Unsichtbaren“ stehen einer beim Dekurionat beginnenden Oberschicht gegenüber, deren Zeugnisse Knapp – weil sie eine markant elitäre Perspektive einnehmen – möglichst ausblendet. Einzelkapitel behandeln „die normale Bevölkerung“ nach Geschlechtern getrennt und sodann in einem separaten Abschnitt die freigeborenen „Armen“. Freigelassene erscheinen neben den Sklaven separat; etwas überraschend findet sich die Armee als Quasi-Randgruppe neben Prostituierten, Gladiatoren sowie Räubern und Piraten. Ihren Existenzbedingungen und -nöten begegnet Knapp mit großer Empathie und feiert ihren Willen, „in einer Welt, die ihnen wenig Chancen bot, dennoch zu Erfolg zu kommen“ (S. 325).

„Der Mensch der römischen Antike“ – in vielerlei Hinsicht erinnern Konzept und Zuschnitt der neun Essays Knapps an dieses Vorbild1 – präsentiert sich wünschenswert vielschichtig; so wird der Alltag des männlichen Durchschnittseinwohners (S. 11–64) über seine Wertmaßstäbe, die praktizierte Sexualmoral, die religiös-magische Daseinssicherung und die Formen der Geselligkeit erschlossen. Für die Sklaven fällt die reizvolle Frage nach Möglichkeiten zur Eigeninitiative und inneren Freiräumen (S. 157–161). Vieles regt zum Weiterdenken an, etwa Knapps Vermerk, wie auffällig der Wunsch von Männern nach sexueller Attraktivität in Artemidors Traumbuch und der astrologischen Literatur fehlt, in Zauberpapyri (übrigens auch auf Defixionstäfelchen) dagegen vorkommt (S. 33). Eine naheliegende Hypothese wäre, dass die magische Selbsthilfe bei Versagensängsten weniger peinlich war, als sein Versagen einem Experten für Zukunftsprognostik zu gestehen. Die These vom Baden als Schmutzfaktor und Seuchenherd (S. 56f.) ist zumindest originell.

Dem gegenüber steht ein brachialer bis grob fahrlässiger Umgang mit zentralen Begriffen. Die Aussage, die tonangebende Elite habe gerade 0,5 Prozent der Reichsbevölkerung umfasst, kann durchaus Staunen hervorrufen – leider vor allem unter Althistorikern. Frauen und Kinder sind gar nicht mitgezählt, obendrein taxiert Knapp die ordines decurionum auf ganze 30–35.000, verteilt auf reichsweit „250 oder 300 Kleinstädte“ (S. 12). Während Plinius der Ältere volle 175 oppida in der Baetica angibt (nat. hist. 3,7), nennt ein Standardwerk allein für Italien mehr als 430 Städte mit vielleicht 30.000 Mitgliedern der einzelnen ordines.2 Die Existenz reicher Sklaven und Freigelassener bleibt ebenso außen vor wie eine Diskussion des notorisch problembeladenen Elitebegriffs überhaupt. Ähnlich problematisch bleibt die Behauptung, „dass die breite Bevölkerung des Römischen Reiches an Armut litt“ (S. 113), genauer, „annähernd 65 Prozent“ (S. 120) – eine Schätzung, die auf nicht erläuterte Weise aus frühneuzeitlichen Analogien abgeleitet ist. „Armut“ steht dabei durcheinander für prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit und akute Existenzbedrohung.

Unzulässige Vereinfachungen stecken hinter der Annahme, Artemidors Vorstellungen zur Sexualmoral seien repräsentativ für „die gewöhnlichen Römer“, anders als beispielsweise die Komödien des Plautus (S. 38). Erstens liegen einige Jahre zwischen beiden, zweitens schreibt der Ephesier natürlich für Leser, deren Moralkosmos beachtliche Unterschiede zu den zeitgleichen (stadt-?)römischen aufweisen kann. Die Unterstellung einer imperiumsweiten, jahrhundertelang konstanten Mehrheitssexualmoral (und implizit einer kaiserzeitlichen Einheitsgesellschaft, in der kleinasiatische Griechen im selben Bezugsrahmen leben wie eine ägyptische Briefschreiberin oder ein Gladiator) ist, vorsichtig gesagt, begründungsbedürftig.

Wohl die größte Schwachstelle sind die Thesen zum Sozialprestige der Sklaven und Freigelassenen (exemplarisch S. 166 u. 219f.). Knapp macht es sich allzu einfach, wenn er überlieferte Vorurteile zum Alleinbesitz einer neidischen, aufsteigerfeindlichen Elite erklärt (dann aber ausgerechnet den mehr als elitären Petronius als Protokollanten eines ungebrochenen Selbstbewusstseins der liberti zitiert: S. 212). Die offenkundige Integration – abzulesen an Begräbnissen, Vereinsleben und sozialem Umgang – schließe das oft unterstellte Leben „unter dem Schatten eines Stigmas“ (S. 219) methodisch aus. Niemand behauptet aber, Freigelassene wären beim Bäcker immer zuletzt bedient worden. Vorurteile und Stigmatisierungen unterliegen keinem Entweder-Oder-Mechanismus. Sie melden sich situativ; ein Zeitgenosse kann Appelle gegen Ausländerfeindlichkeit unterschreiben, stößt aber vielleicht xenophobe Flüche aus, wenn ihm beim Autofahren ein „Schwarzer“ die Vorfahrt schneidet. In einer statusorientierten Gesellschaft, die den einzelnen vorwiegend als Gruppenangehörigen wahrnimmt, wäre das heldenhafte Ignorieren von Statusdefiziten sensationell. Knapp selbst findet es mit Recht „[h]öchst verblüffend“, dass uns kein einziger Bericht eines Exsklaven über sein Vorleben überliefert ist (S. 145) – wenn sie nun nicht daran erinnert werden wollten?

Regelrecht konfus behandelt das Buch den Rechtsstatus der infamia. Für Prostituierte akzeptiert Knapp sie als Teil des prätorischen Edikts (S. 269), beim Thema Gladiatoren ist sie auf einmal „bestenfalls ein diffuser Begriff und ganz zweifellos keine Rechtsfloskel“ (S. 314), „im Wesentlichen ein Hirngespinst der Elite“ (S. 316); dazwischen heißt es: „Allerdings hatte die infamia rechtliche Auswirkungen“ (S. 315). Hinter solchen Widersprüchen steht der starke Wunsch des Autors, den realen Verlust an Lebensqualität, der im Vorenthalten sozialer Privilegien bestand, durchweg zu leugnen, um den Ausgesperrten innere Autonomie zu verschaffen. Nicht nur einmal wird insistiert, den Freigelassenen, „vielseitig, sozial gewitzt und ökonomisch gerüstet“ (S. 220), wie den Normalrömern überhaupt seien Aufstiegschancen egal gewesen: „Sie hatten weder Hoffnung noch Ehrgeiz noch die geringste Absicht, sich in die Reihen der lokalen Elite zu drängen, von der Elite des Reiches ganz zu schweigen“ (S. 198; vgl. S. 208, 216 u. 315). Dann versteht man weder die täuschend echten Imitationen des Ritterrings noch die rückwirkende Verleihung der freien Geburt, die Statussymbole der über 800 vicomagistri in Rom oder die ornamenta decurionalia, die offenkundig für nicht ‚ratsfähige‘ Personen erfunden sind. Woanders erscheint der Dekurionat als Fernziel für angehende Soldaten, „denen der Sinn nach Höherem stand“ (S. 257) – also doch? Hier wie anderswo belastet Knapp die Parteinahme für ‚seine‘ ganz normalen Römer, die 99,5-Prozent-Gesellschaft, deren unbequeme Seiten, allen voran ihre Werturteile, er in die bornierte, selbstbezogene Elite auslagern möchte. Solcher Manichäismus scheitert an Charakterzügen der Unterschichten, die Knapp selbst aus der Fabelliteratur gewinnt (S. 120–142, eine der stärksten Passagen des Buches): eine von Fatalismus durchzogene Haltung der Fügsamkeit und des gleichzeitigen Misstrauens der Obrigkeit wie der eigenen Umgebung gegenüber.

Das ebenso sympathiegetriebene wie sympathische Buch hat schwer an diesen blinden Flecken zu tragen – es ist nicht zu Ende gedacht. Noch sein Schlusswort rennt offene Türen ein, wenn es gegen imaginären Widerstand eine Lanze für den Quellenwert von Apuleius oder Petronius bricht. Die „unsichtbaren Römer“ sind schon einige Jahrzehnte lang Gegenstand der Forschung und fester Lehrinhalt. Selten sind Paradestücke der antiken Sozialgeschichte wie Lukian und Apuleius allerdings in solchem Detailreichtum mit unterschiedlichsten Quellengattungen zusammengeführt worden. Hierin liegt der bleibende Wert des oft problematischen Rundblicks, nicht in der Pionier- und Verteidigerrolle, in die Knapp selbst sich setzt.

Die Übersetzung hat mitunter ihre Mühe mit griechischen Eigennamen, ist aber flüssig und transparent. Etwas umständlich erscheint die Anmerkung S. 79 zur Redewendung „Schließ die Augen und denk an England“, die Kasernenbauten heißen S. 232–235 konsequent „Baracken“, und die „nice girls“ (S. 290) sind statt „netten“ sicher als „brave Mädchen“ wiederzugeben. Der quartermaster auf einem Piratenschiff ist nicht „Quartiermeister“, sondern Steuermann (S. 351). Unaufdringlich ansprechend präsentiert sich die Buchausstattung, nur hat ein Scan tüchtig Rasterpunkte hinterlassen (S. 98, Abb. 4). Sehr erfreulich ist neben Auswahlbibliographie und Register ein Verzeichnis der für die deutsche Version benutzten Textausgaben.

Anmerkungen:
1 Andrea Giardina (Hrsg.), Der Mensch der römischen Antike, Frankfurt am Main 1991.
2 François Jacques / John Scheid, Rom und das Reich in der Hohen Kaiserzeit 44 v.Chr.–260 n.Chr., Bd. 1: Die Struktur des Reiches, Stuttgart 1998, S. 334; vgl. dort einleitend 334–342 zu den Überschneidungen rechtlich-sozialer und finanzieller Spitzenstellungen.

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