Titel
Before the Nation. Muslim-Christian Coexistence and its Destruction in Late-Ottoman Anatolia


Autor(en)
Doumanis, Nicholas
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
35,00 GBP
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Ioannis Zelepos, Institut für Byzantinistik, Byzantinische Kunstgeschichte und Neogräzistik, Ludwigs-Maximilians-Universität

Diese Monographie hat das interkommunale Zusammenleben von Muslimen und Christen in Kleinasien in spätosmanischer Zeit sowie dessen Zerstörung während der Kriegsjahre von 1912 bis 1922 zum Gegenstand. Der Verfasser zieht dabei nach eigenem Bekunden kulturanthropologische Forschungsansätze heran, verortet seine Arbeit jedoch im Bereich der Geschichtsschreibung (S. xv).

Die Einleitung (S. 1–14) beginnt mit einer kurzen Erörterung von Begriff und Phänomen der Interkommunalität sowie einigen kritische Bemerkungen zum diesbezüglichen Forschungsstand, dessen Unzulänglichkeit der Verfasser nicht nur auf mangelnde Beschäftigung, sondern auch auf ideologisch bedingte Fehlsichtigkeit zurückführt: „Another reason why modern historians in particular have been unable to ‘see’ intercommunality is because, as Eric Wolf once put it, they continue to see ‘nations, societies, or cultures with the qualities of internally homogenous and externally distinctive and bounded objects.“ (S. 3) Auf dieser Grundlage erfolgt eine Absteckung des theoretischen und methodologischen Rahmens sowie eine Vorstellung des Quellenmaterials, auf das sich die vorliegende Untersuchung weitgehend stützt (S. 8–14). Dabei handelt es sich um das von der griechischen Volkskundlerin Melpo Merlier (1889–1979) ins Leben gerufene „Archiv Mündlicher Überlieferung“ („Archeio Proforikis Paradosis“), das aus etwa 5.000 Gedächtnisprotokollen von Interviews besteht, die im Zeitraum von Mitte der 1930er- bis Mitte der 1970er-Jahre mit Kleinasienvertriebenen geführt wurden, und das sich heute im ebenfalls von Merlier gegründeten „Centre for Asia Minor Studies“ in Athen befindet.1

Dieses Archiv stellt eine wertvolle frühe Pionierarbeit der Oral History dar, was jedoch zugleich bedeutet, dass seine wissenschaftliche Auswertung besondere Anforderungen an das dabei anzuwendende methodologische Instrumentarium stellt. Dessen ist sich der Verfasser zwar nach eigenen Angaben bewusst, doch verwundert es angesichts dessen, dass er daraus keinerlei erkennbare Konsequenzen für seinen eigenen methodologischen Zugang zieht, sondern es mit einer allgemeinen Bemerkung über den besonderen Wert mündlicher Quellen bewenden lässt. Dies ist umso erstaunlicher, als der Verfasser in seinem Material sogar eine „Gegengeschichte“ zur etablierten Nationalhistoriographie mit ihren Freund-Feind-Schemata erkennen will: „[…] the dominant line in Greece was strictly monocultural. […] hence the histories of Anatolian coexistence were not only deemed fictions but a cause of shame. It was this threat to historical truth that Merlier’s archive was designed to counteract.“ (S. 12) Hierbei handelt es sich um eine subjektive Deutung, der später auch eine soziokulturelle Dimension zugeschrieben wird: „The refugees knew that the morphomeni (sc. „Gebildete“) controlled the writing of history and dominated national/official memory, but they could at least pose a counter-narrative in oral form.” (S. 60f.) Diese vermeintliche Dichotomie zwischen „Gebildeten“ und „Flüchtlingen“, welche die gesamte Arbeit bestimmt, ist in verschiedener Hinsicht fragwürdig; nicht zuletzt, weil damit impliziert wird, dass die kleinasiatischen Flüchtlinge im Wesentlichen nur aus bildungsfernen Gruppen bestanden. Dies hat jedoch viel weniger mit tatsächlichen Befunden als mit der spezifischen Optik des Verfassers zu tun, der sein Desinteresse an „gebildeten“ Flüchtlingen unter anderem dadurch dokumentiert, dass er das von Merlier seinerzeit parallel zum mündlichen und nach dem selben Frageschema aufgebaute schriftliche Archiv („Archeio Cheirografon“), bestehend aus 504 handschriftlichen Selbstzeugnissen, verschweigt und in keiner Weise in seine Untersuchung einbezieht, obwohl er hier ohne Zweifel geeignetes Material gefunden hätte, um seine These von der „Gegengeschichte“ zu überprüfen und gegebenenfalls belastbar zu machen.

Die Darstellung beginnt mit einem Einführungskapitel, das eine auf Sekundärliteratur gestützte historische Skizze zu Kleinasien vom 11. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert sowie eine Erörterung der Gruppenbezeichnungen „Pontier“ „Zentralanatolier“ und „Kleinasiaten“ im Griechischen enthält, wobei der Verfasser die Wandelbarkeit kollektiver Identitäten betont. Das folgende Kapitel enthält eine Darstellung des interkommunalen Zusammenlebens von Christen und Muslimen im Alltag, wobei die harmonischen Aspekte in den Vordergrund gerückt werden. Neben Interviewauszügen aus dem Archiv zieht der Verfasser dabei als Quellengrundlage auch griechische Belletristik des 20. Jahrhunderts heran und verweist auf Giorgos Theotokas, Ilias Venezis, Dido Sotiriou und nicht zuletzt Stratis Myrivilis, dessen 1949 erschienener Roman „Panagia i Gorgona“ ausgiebig zitiert wird. Seine in diesem Zusammenhang gemachte Feststellung, dass „refugee memory not only had no place in national Greek memory but was anathema to it“ (S. 57) erscheint angesichts der Tatsache, daß es sich ausnahmslos um prominente und vielgelesene Autoren handelte, einigermaßen widersprüchlich. Es folgt ein Exkurs über „Bildung“ und „Unbildung“ in der griechischen Gesellschaft, wobei erstere im Wesentlichen mit Nationalismus gleichgesetzt wird (S. 58). Erst dann widmet sich der Verfasser der Darstellung konkreter Aspekte des interkommunalen Zusammenlebens, darunter „Friendship and empathy“ (S. 65f.), „Women and men“ (S. 70ff.), „Festivals and weddings“ (S. 74ff.) und „Home visits“ (S. 78ff.). Darauf folgt eine Betrachtung der in den Interviews artikulierten Heterostereotype, für deren Einordnung am Ende ein eigenwilliges Deutungsmuster angeboten wird: „To rescue the intercommunal Anatolian, it is necessary to consider refugee nostalgia, with its hyperbole, caricatures and prejudices, so as to glean the stark historical realities on which it based.“ (S. 87)

Die beiden folgenden Kapitel haben die religiöse Dimension des interkommunalen Zusammenlebens zum Gegenstand. Darin wird ein exotisches, wenn auch in weiten Teilen nicht spezifisch kleinasiatisches Potpourri von volkstümlicher Religiosität und Aberglauben präsentiert, darunter der Glaube an den Bösen Blick, Geister, Dämonen, Dschinns, Meerjungfrauen, lokale Kulte, Formen von religiösem Synkretismus etc., wobei der Verfasser sich weitgehend auf Sekundärliteratur und namentlich auf Frederick Hasluck stützt, dem er ein gesondertes Unterkapitel widmet. Dabei werden gelegentlich auch die Interviewquellen herangezogen, „which corroborate much of what is documented by Hasluck, Garnett and others“ (S. 110f.), was nicht verwundert, da sie hier wie in der gesamten Arbeit rein affirmativ – und grundsätzlich nur in Auszügen, teilweise sogar nur in Halbsätzen – zitiert werden, um das, was der Verfasser aufgrund der Sekundärliteratur bereits als gesichertes Wissen betrachtet, zu bestätigen. Nicht immer will dies jedoch recht gelingen: So enthält das mündliche Quellenmaterial zwar viele Erwähnungen des Interesses von Muslimen an christlichen Ikonen, Reliquien etc., jedoch kaum einen Hinweis für ein reziprokes Interesse am Islam: „Comparison here exposes a weakness in the oral sources that suggests that the interviewees found the subject too compromising“ (S. 111), was jedoch reine Hypothese bleibt, da abgesehen von einem nicht weiter spezifizierten Hinweis auf „Western accounts“ keine Gegenindikationen genannt werden. Muslimisch-türkische Quellen wären hier zur Klärung sicherlich hilfreich gewesen, werden in der Untersuchung jedoch nicht berücksichtigt. Insgesamt gleicht die vom Verfasser projizierte Lebenswelt Anatoliens einem ethnologischen Erlebnispark, der seinem Charakter nach monokulturell und somit homogen ist. Dass in diesem Teil der Welt während des Untersuchungszeitraums auch Menschen lebten, die mit Darwins Evolutionstheorie vertraut waren, zeitgenössische französische Literatur lasen und auch Verdis Rigoletto oder böhmischer Blasmusik etwas abgewinnen konnten, wird geflissentlich ignoriert. Damit geht eine entsprechende Ausblendung von historischer Zeit einher, denn die hier behandelten Befunde werden so präsentiert, als wären sie von jeglichen kulturgeschichtlichen Entwicklungen abgekoppelt.

Bezeichnenderweise trägt daher auch das letzte Unterkapitel den Titel „The end of sacred time“ (S. 130), das zugleich den Übergang zum nachfolgenden Schlussteil (S. 131–169: „Catastrophes. Nationalism and the War Years (1908–22)“) bildet. In diesem geht es um den Zusammenbruch des interkommunalen Zusammenlebens in besagtem Zeitraum infolge des Nationalismus, der im Wesentlichen als ein Importprodukt aus Griechenland dargestellt, seine Übernahme durch die Anatolier hingegen in Kategorien eines geradezu biblischen Sündenfalls gefasst wird. Als Überträger des Übels werden dabei einerseits die „Gebildeten“ lokalisiert, andererseits vertriebene muslimische Kreter, die auf ihrer Insel zuvor Opfer ethnischer Gewalt von griechischer Seite geworden waren und denen in dieser Hinsicht gar eine Schlüsselrolle zugeschrieben wird. Sie hätten, so der Verfasser, zur „Politisierung“ der Bevölkerung beigetragen und damit eine Art Tabubruch begangen, denn: „In merely talking politics the Cretans were refusing to observe an important social convention of communal coexistence […].“(S. 138) Unter Rückgriff auf Bruce Clark2 stellt der Verfasser dabei unter anderem fest, dass in den Augen der Muslime „Having betrayed the intercommunal compact, the Romioi (and the Armenians) gave the Muslims no choice but to become nationalists themselves.“ (S. 136) Die Frage, ob der türkische Nationalismus möglicherweise auch über eine Eigendynamik verfügte, wird nicht gestellt. Stattdessen folgt in Affinität zur biblischen Genesiserzählung auf den „Sündenfall“ die „Vertreibung aus dem Paradies“ (die für die Armenier bekanntlich den Genozid bedeutete).

Ihre Darstellung macht den zweiten Teil des Schlusskapitels aus (S. 148ff.) und folgt einem chronologischen Muster, in das verschiedentlich Auszüge aus Interviews eingeflochten und mit Deutungen ergänzt werden, die jedoch größtenteils nicht quellengestützt sind, z.B. „The refugees were aware that their neighbours were not being their true selves“(S. 153) und „The commonplace claim found in the oral testimonies that the culprits were ‘outsiders’ is borne out by the evidence“(S. 161) (was jedoch im Widerspruch zur vorangegangenen Aussage steht); ferner: „the refugees could retain a critical perspective of the Greek-Turkish conflict from an ethically independent view“(S. 166) und „The refugees recognized that the base activities of soldiers and paramilitaries, the tortures, sexual assaults […] were essentially aimed at destroying the moral environment and creating national spaces“ (S. 167) (was unwillkürlich fragen läßt, ob dies für die Betroffenen wohl ein Trost gewesen sein mag).

Neben verschiedenen Kurzführungen, Argumentationsschwächen und logischen Brüchen weist die vorliegende Arbeit inhaltliche Ungenauigkeiten und formale Mängel auf, über die an dieser Stelle nicht hinweggegangen werden kann, da ihr Umfang den Rahmen des Üblichen überschreitet. Abgesehen von der schwachen Organisation des Textes, die sich unter anderem in zahlreichen Redundanzen niederschlägt (S. 57, 63, 69, 86–87, 129,135, 195), betrifft dies eine Reihe von Sachfehlern, die insbesondere im Bereich der religiösen Kultur, deren Behandlung einen zentralen Teil der Untersuchung bildet, zum Teil frappierende Wissenslücken offenbart. Dazu gehört etwa die Behauptung, das Ende des Ramadan würde auf den 20. August fallen (S. 190; als beweglicher Fastenmonat hat der Ramadan kein festes Enddatum), oder die Erwähnung eines „St Sotiris“ (S. 123; ein solcher ist im Heiligenkalender der Orthodoxen Kirche nicht vermerkt, der Name bezieht sich auf die Verklärung Christi, „Metamorfosi tou Sotiros“). Der Text enthält ferner zahlreiche Verlesungen, welche in ihrer Art und Häufung auf ein etwas gespanntes Verhältnis zur Quellensprache deuten.3 Die gelegentlich verwendeten Graeca sind fast ausnahmslos orthographisch falsch. In diesem Punkt trägt sicherlich auch das Lektorat eine gewisse Mitverantwortung, denn bei einem so renommierten Wissenschaftsverlag wie Oxford University Press sollte man sich eigentlich darauf verlassen können, dass derartige Stümpereien ausgeschlossen werden.

Nicholas Doumanis’ „Before the Nation“ ist eine handwerklich unzulängliche, methodologisch fragwürdige und ideologisch kontaminierte Arbeit, die ihre zentralen Untersuchungsziele verfehlt; denn weder gelingt es dem Verfasser, ein schlüssiges Bild des interkommunalen Zusammenlebens von Christen und Muslimen im spätosmanischen Kleinasien zu zeichnen, noch liefert er eine plausible Erklärung dafür, wie und warum dieses zusammengebrochen ist. Seine Projektion einer vermeintlich homogenen Lebenswelt des „intercommunal Anatolian“ ist vielmehr ein Vexierbild der von ihm zu Recht kritisierten nationalen Geschichtsnarrative, deren problematische Deutungsmuster auf diese Weise jedoch nicht überwunden, sondern lediglich unter ausgetauschten Vorzeichen fortgeschrieben werden. Wer etwas Substantielles über das behandelte Thema erfahren möchte, ist nach wie vor gut beraten, sich an einschlägige Forschungen zu halten, von denen – dies ist immerhin zu loben – viele im bibliographischen Anhang genannt werden.4

Anmerkungen:
1 Das primäre Erkenntnisinteresse des Archivs lag in der Lokalisierung bzw. Identifizierung von kleinasiatischen Ortschaften, die im Gefolge der Kriege aufgelassen oder umbenannt wurden. Darüber hinaus ging es um die Dokumentation bzw. Rekonstruktion institutioneller Gemeindestrukturen, des Wirtschafts- und Alltagslebens, lokaler Bräuche etc. Die Interviews folgen einem dementsprechend festgelegten Schema aus sechsundzwanzig Einzelfragen, von denen sich nur eine auf die Beziehungen zwischen Griechen und Türken bezieht. Diese Informationen werden im Buch nicht erwähnt.
2 Bruce Clark, Twice a Stranger: How Mass Expulsion Forged Modern Greece and Turkey, Cambridge/Mass. 2009
3 So werden etwa Bewohnerinnen von Aivali/Ayvalık als „Ai Valiotises“ geschrieben (S. 154), (Herr) Ananias Zachariadis wird zu (Frau) „Anania Zahariadi“ (S. 146), aus Odysseas bzw. Odyssefs Ladikos wird „Oddiseus Diakos“ (S. 153/201), (Frau) Chryso Karageorgi aus Karatepe wird zu (Herrn) „Christos Karageorgiou“ aus „Karateite“ (S. 204) und dergleichen mehr.
4 S. beispielsweise Sia Anagnostopoulou, Mikra Asia, 19os ai. – 1919. Oi Ellinorthodoxes Koinotites. Apo to Millet ton Romion sto Elliniko Ethnos (Kleinasien, 19. Jh. – 1919. Die griechisch-orthodoxen Gemeinden. Vom millet-i-Rum zur griechischen Nation), Athen 1997 (Neuauflage 2013).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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