F. Westerman: Das Schicksal der weißen Pferde

Cover
Titel
Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Westerman, Frank
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mieke Roscher, Landesbibliothek Oldenburg

Eines muss vorweg angemerkt werden: Die essayistische Dokumentation des niederländischen Journalisten Frank Westerman über die Geschichte der Lipizzaner während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist kein wissenschaftliches Werk. Angesichts des neuen Trends in den Geschichtswissenschaften, der dem „Animal Turn“ folgend versucht, der Rolle der Tiere in der Geschichte gerecht zu werden, sie als Akteure mit Wirkungsmacht darzustellen, steht es dementsprechend hinter den Erwartungen zurück, wissenschaftlich neue Erkenntnisse in diesem Bereich zu befördern. Ihm geht es darum über die Beschäftigung mit dem Pferd, „mehr Einblick in die Eigenheiten unserer eigenen Art“ (S. 46) zu erlangen und eine Reportage zu liefern, die quellendicht sein soll. Mit anderen Worten, es liegt ihm daran eine „humane history“ zu schreiben, wie Erica Fudge sie definiert hat1, in der das Tier als eine Art Folie benutzt wird, mithilfe derer die Geschichte der Menschen um neue Nuancen erweitert werden könne. Dennoch: Dass das Pferd eine ganz besondere Rolle in der europäischen Geschichte einnimmt, wissen wir spätestens seit Reinhart Kosellecks Epochalisierung des „Pferdezeitalters“2 und es bietet sich auch im Kontext zeithistorischer Forschung durchaus für eine Untersuchung an.

Das Buch ist in drei Abschnitte mit jeweils fünf bis sechs Unterkapiteln gegliedert, wobei der erste Teil die Leser/innen an das Erkenntnisinteresse des Autors heranführt und in groben Strichen die Geschichte der Lipizzanerzucht bis zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich erzählt. Der zweite Teil greift sowohl die Bedeutung der eugenischen (Linien-)Zucht- und Rückzuchtsprogramme bis in die heutige Zeit als virulentes Thema auf, als auch die Bemühungen der Nazis, die Lipizzaner in den osteuropäischen Gebieten, ähnlich der Tierbestände der Zoologischen Gärten, „Heim ins Reich“ (S. 123) zu holen. Er endet mit den letzten Kriegstagen, in denen die Lipizzaner auf dem Gestüt Hostouň die Begehrlichkeiten der vorrückenden Alliierten weckten und zum Spielball russisch-amerikanischer Auseinandersetzungen wurden. Der dritte Teil schließlich umfasst die Rolle der Lipizzaner in den Jugoslawienkriegen, insbesondere dem Kroatienkrieg, sowie ihre symbolische Aufladung im Ost-West-Konflikt vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte von Vererbungs- und Züchtungslehren. Ein bibliografisches Essay schließt das Buch ab, im Text selbst finden sich keine Quellenverweise.

Das erste Kapitel beginnt mit den Kindheitserinnerungen des Autors, beschreibt den „Erstkontakt“ zu Lipizzanern, und die Faszination mit der Rasse sowie ihrer Züchtung, beschäftigt sich aber insbesondere mit dem Hengst Conversano Primula, dessen Bekanntschaft gemacht zu haben den Autor antreibt, der Geschichte der Lipizzaner nachzugehen. Mit Kapitel Zwei beginnt dann die Erzählung über des Autors Spurensuche auf den Fährten der Lipizzaner, die ihn zunächst nach Wien an die Hofreitschule, anschließend nach Lipica im heutigen Slowenien, in Archive nach Tschechien, in die Gestüte Piber und Hostouň führen, wohin die Nazis den Zuchthengst Conversano Bonavista, den Großvater Primulas bringen ließen, und schließlich wieder zurück nach Kroatien. Über das Anliegen des Autors, die Orte zu besuchen, an denen Lipizzaner ihre eigene „Diaspora“ (S. 75) erlebten und ihrem Schicksal insbesondere im Zweiten Weltkrieg nachzugehen, erfährt man indes erst auf Seite 65! Überraschend ist auch, dass sich eine weitere Erzählung anschließt: der Autor verwebt die Geschichte der Pferde im Jugoslawienkrieg, als vermeintliche „Kriegsgefangene“ (S. 200), mit seinen eigenen Erfahrungen als Kriegsberichterstatter.

Ein zentraler Aspekt des Buches umfasst die Frage nach der „Rasse“, der Züchtung und der „Auslese“. Dass der Mensch das Pferd und andere Haustiere nach seinen Bedürfnissen modellierte, ist dabei nur eine Seite der Medaille. Rassentheorien wurden eins zu eins auf Menschen übertragen. Die Aussage „der Mensch ließ sich nicht so kneten und formen […], er hatte sich […] als unfähig erwiesen, sich selbst im Wesentlichen zu verbessern“ (S. 31), verkennt schlechterdings Kontinuitäten bzw. redet der Züchtung als einem Primat der Verbesserung implizit das Wort. Und auch Ausführungen zum Lipizzaner als einem Tier der „höchsten Sprosse der Rasseveredlung“ (S. 32) sind hoffentlich der Übersetzung aus dem Niederländischen geschuldet. Dass sich Zuchtbücher als eine mögliche Quelle der Tiergeschichte eignen, darauf hat Erica Fudge schon andernorts hingewiesen.3 Diese müssen jedoch unbedingt auf ihre rassenideologischen Implikationen gegengelesen werden. Immerhin, das Wort „Blutauffrischung“ (S. 46) mit dem die Mischung von Lipizzanerrassen gemeint ist, schmeckt auch dem Autor nicht. Diese anfänglich problematischen Verwendungen des Rassebegriffes sind umso bedauerlicher, als dass es zentrales Anliegen des Buches ist, die „Ariertabellen“ der Nazis mit den Zuchtbüchern der Lipizzaner zu vergleichen, die Eugenik also als Folge der tierischen Rassezüchtungen beschreibbar zu machen. Allerdings befindet er jegliche Ähnlichkeiten – und da ist ihm zu widersprechen – als „ungewollt“. Eben diese Überlappung machten die Tierzüchtungen, insbesondere während des Nationalsozialismus, aus.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Verhandlung der österreichischen Identität, die sich in den Leib der Lipizzaner, als „Verkörperung des Österreichischen schlechthin“ (S. 101) eingeschrieben habe – sowohl in Bezug auf nostalgische Mystifizierung der Habsburger Monarchie als auch auf deren Tradierung über den Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Leider wird diese Geschichte nicht systematisch zu Ende erzählt, sondern taucht an verschiedenen Stellen des Werkes auf. Und dennoch liegen hier die Stärken. Wenn er schreibt, dass es der „Spanischen Hofreitschule unter großdeutscher Regierung gut ergangen war“ (S. 159), so verweist dies nicht bloß auf die eindeutige Aufladung von als wertvoll erachteten Tieren, sondern auch darauf, dass sich der großdeutsche Mythos auf Österreich erstreckte. Mit der Kartographie der Fluchtrouten der Lipizzaner, die Hand in Hand ging mit der Nutzung der Pferde für die Eroberung Osteuropas und dem „Generalplan Ost“, zeichnet er relevante Demarkationslinien der Zuschreibung von Freund und Feind nach. Dass im Kalten Krieg an dieser Mythenbildung weiter geschrieben wurde und sie bis in die USA reichte (vor allem mit Lipizzanerschauen und der Walt-Disney-Verfilmung „Miracle of the White Stallions“ von 1963), verdankte sich insbesondere der spektakulären Evakuierung des Gestüts Hostouň 1945 vor dem Vormarsch der Sowjetarmeen, bezeichnenderweise „Operation Cowboy“ benannt. Auch im Jugoslawienkrieg wurden ähnliche Bilder der Gemeinschaft von Pferd und Mensch beschworen: dies zeigt wie transportabel dieser Mythos war.

Es lässt sich resümieren, dass das Werk nicht an einer Geschichte der Tiere mitschreibt, in der auf den Akteursstatus der Lipizzaner rekurriert wird. Die Darstellung ist zudem nicht linear, historische Ausführungen zur langen Geschichte der Lipizzanerzucht und ihrer multiplen kriegsbedingten Odysseen seit 1797 wechseln sich mit persönlichen Anekdoten ab. Aber auch die historische Erzählung folgt einer nur rudimentären Chronologie. Darüber hinaus gibt es immer wieder Einschübe, beispielsweise über den Stand und die Ethik der Gentechnik. Diese multidimensionale Sicht ist zwar mitunter fruchtbar, kommt aber zumeist etwas unverhofft daher. Zudem werden Fäden aufgegriffen und wieder fallen gelassen, die der näheren Befassung bedurft hätten. Die vom Autor vorgestellten Personen werden darüber hinaus zwar zu ihrer Meinung, nicht aber zu ihrem Verhältnis zum Tier befragt. Das Ansinnen des Autors, über das Mensch-Tier-Verhältnis nähere Auskünfte über menschliche Geschichte zu erhalten, bleibt deshalb zwangsläufig hinter dem zurück, was er eingangs verspricht. Die angesprochenen Themenkomplexe „Rasse“ und „nationaler Mythos“ hätten mit ihrem Bezug zum Tier bei einer gründlicheren Aufarbeitung viel Aufschlussreiches liefern können. In diesem Werk kommen sie aber fragmentarisch und teilweise krude daher. Eine „andere Geschichte des 20. Jahrhunderts“ (Titel) wird hier jedenfalls nicht geschrieben. Dies wird von Anderen zu leisten sein.

Anmerkungen:
1 Erica Fudge, A Left-Handed Blow: Writing the History of Animals, in: Nigel Rothfels (Hrsg.), Representing Animals, Bloomington 2002, S. 3–18, hier S. 8.
2 Reinhart Koselleck, Das Ende des Pferdezeitalters, in: Süddeutsche Zeitung, 25.9.2003, S. 18.
3 Erica Fudge, Animal Lives, in: History Today 54 (2004) H.10, S. 21–26, hier S. 22.

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