: Jüdische Familien in Münster 1918 - 1945 1. Biographische Daten. Münster 2001 : Westfälisches Dampfboot, ISBN 3-929586-48-7 596 S., 400 Abb. € 40,00

: Jüdische Familien in Münster 2,1. Abhandlungen und Dokumente 1918 - 1935. Münster 1998 : Westfälisches Dampfboot, ISBN 3-89691-445-6 584 S., 400 Abb. € 40,00

: Jüdische Familien in Münster 2,2. Abhandlungen und Dokumente 1935 - 1945. Münster 2001 : Westfälisches Dampfboot, ISBN 3-89691-512-6 591 S. € 40,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Rainer Pöppinghege, Uni Paderborn, FB 1

Seit Ende der achtziger Jahre beschäftigen sich Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer mit der Geschichte des jüdischen Bevölkerungsteils in Münster. Was als Privatinitiative begann, erfährt inzwischen breiteste – auch finanzielle – Unterstützung, u.a. durch die Stadt, die Universität und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Aus dem einst geplanten Gedenkbuch ist eine der umfassendsten Untersuchungen über den jüdischen Bevölkerungsteil einer einzelnen Kommune im 20. Jahrhundert geworden. Der besondere Reiz liegt in der Verknüpfung von biographischen Beiträgen mit Überblicksdarstellungen, die die Strukturierung des Stoffes ermöglichen. Denn das von den beiden Autorinnen zusammengetragene Material führte nach dem ersten Nachschlageband zu einem zweiten (Teilband 2,1 u. 2,2), der Abhandlungen und Dokumente der Jahre 1918 bis 1945 präsentiert. Der erste Band ist als biographisches Lexikon gestaltet, wobei die einzelnen Personen in ihren Familienzusammenhängen erscheinen (Angehörige von 564 Familien inkl. Verwandtschaftsverhältnisse). Er bietet einen systematischen biographischen Zugang mit sämtlichen auffindbaren Lebensdaten und Quellenverweisen, außerdem zahlreiche bisher unveröffentlichte Fotos aus Privatbesitz. Es ist hier wie im zweiten Band nicht nur die Vielfalt an schriftlichen, mündlichen und visuellen Quellen, sondern vor allem deren Verzahnung, die es ermöglicht, das Leben der jüdischen Familien multiperspektivisch zu betrachten. Die Autorinnen haben dafür die einschlägigen Bestände von 27 Archiven im In- und Ausland ausgewertet und fast 150 Zeitzeugen befragt sowie umfangreiche Briefwechsel dokumentiert. So ist das Buch in Teilen auch das Kompendium einer persönlichen Aufarbeitung ehemaliger jüdischer Bewohner der Stadt, von denen einige einer Einladung in die alte Heimat folgten und mit emotionaler Betroffenheit ihre Erinnerungen schilderten.

Seit einiger Zeit werden Juden in der Forschung nicht nur als Opfer, sondern als aktive Mitglieder der Gesellschaft untersucht, d.h. auch die Vorgeschichte von Anpassung und Distanz will erforscht und nicht nur im Hinblick auf den Holocaust beschrieben sein. Diesem Anspruch stellen sich die Autorinnen, indem sie einen Teilband den jüdischen Familien während der Weimarer Republik widmen. Dabei wird deutlich, dass es durchaus antisemitische Ausfälle gegeben hat, diese sich jedoch ausschließlich auf bestimmte Milieus wie die Studentenschaft beschränkten. Bei der Untersuchung der Tätergruppen im Nationalsozialismus ist man in Münster relativ weit vorangekommen. Das Handeln von Verwaltung, Justiz und Polizei im Unrechtsstaat ist mehr oder minder intensiv ausgeleuchtet. Der jüdische Bevölkerungsteil (in Münster lag er im Untersuchungszeitraum lediglich zwischen 0,5 und 1 Prozent) wurde dabei aufgrund der Quellenlage vorwiegend durch die Täterperspektive wahrgenommen. Dieses methodische Problem lässt sich mit der hier vorliegenden Arbeit beseitigen, auch wenn sich der behandelte Personenkreis über die kollektive Opferrolle im Nationalsozialismus definiert. Über diese Definition wird das Schicksal von Menschen gemeinsam betrachtet, die durch ihren Glauben verbunden waren sowie durch die sich daraus ergebende Diskriminierung und Verfolgung. Selbst diese Leidensgemeinschaft ist nicht in jedem Fall gegeben, wie Beispiele der vor 1933 Verstorbenen zeigen. Das Judentum war keine homogene Einheit, auch wenn die Definition über die Opferrolle dies suggerieren mag. So finden sich neben dem etablierten Getreidehändler der zwanziger Jahre der ostjüdische Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs und die Tänzerin, die einige Jahre ihrer Kindheit in Münster verbrachte und die Stadt nach kurzer Zeit aus beruflichen Gründen für immer verließ. Das soll das Projekt nicht in Frage stellen, nur wirkt die Präsentation des Quellenmaterials zuweilen recht positivistisch, auch wenn damit das jüdische Leben jenseits von Verfolgung und Drangsalierung gezeigt werden kann. Möllenhoff/Schlautmann-Overmeyer versuchen dem zu begegnen, indem sie zumindest für die große Berufsgruppe der jüdischen Händler ein soziales Profil herausarbeiten. Politisch fanden sich die anpassungswilligen Juden Münsters auf deutschnationalem Boden, ablesbar an den Mitgliederzahlen von Vereinigungen wie dem „Bund deutsch-jüdische Jugend“ oder dem „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“.

Dass die Münsteraner Juden zu einem großen Teil dem Bildungsbürgertum angehörten, mag als Besonderheit der städtischen Sozialstruktur in dieser Verwaltungs- und Universitätsstadt gelten, doch eine allgemeine Anpassungswilligkeit und eine deutschnationale Grundhaltung ist auch andernorts anzutreffen – nur ist dies jetzt für eine Stadt systematisch untersucht worden. „Überwiegende gesellschaftliche Integration und starke Assimilierung der jüdischen Bevölkerung Münsters zeigen, dass ihre Verwurzelung zunächst stärker wirkte als das erlebte Unrecht in den ersten Jahren der NS-Zeit.“ (Bd. 2,2 S. 705) Viele Juden hatten sich dem bildungsbürgerlichen Milieu der Stadt angepasst, was nicht ausschloss, dass sie Teile ihrer religiös-kulturellen Identität beibehielten. Möllenhoff/Schlautmann-Overmeyer bevorzugen in den meisten Fällen bewusst den Begriff der „Akkulturation“ gegenüber jenem der „Assimilierung“, der anhand der präsentierten Quellen offensichtlich zu weit gehen würde. Denn aus den Überblicksdarstellungen zur Weimarer Zeit wird deutlich, dass der Austausch zwischen jüdischem und nichtjüdisch-katholischem Milieu nur eingeschränkt funktionierte. Jüdische Auszubildende lernten in der Regel bei jüdischen Geschäftsleuten, jüdische Studenten fanden sich in rein jüdischen Korporationen zusammen, und auch Schülerfreundschaften überwanden die Konfessionsgrenzen nur selten. Dies kann sowohl Ausdruck eines gewachsenen Zusammengehörigkeitsgefühls sein als auch ein Beleg für die behinderte Integration: Denn das homogene katholische Milieu erschwerte für Nicht-Katholiken die Akzeptanz in den örtlichen Vereinen – auch Protestanten wussten davon ein Lied zu singen. Zwischen 4 und 5 Prozent des traditionellen „Vereins der Kaufmannschaft“ rekrutierten sich im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts aus jüdischen Mitgliedern (Bd. 2,1 S. 142), ein Wert, der bei einem nicht bezifferten jüdischen Gesamtanteil an den Kaufleuten wenig über deren Integrationsmöglichkeiten aussagt. Statt einer Auflistung von Einzelbeispielen wäre eine systematische prozentuale Auswertung gemäß dem jeweiligen Bevölkerungsanteil wünschenswert.

Trotz sinkender Mitgliederzahlen Mitte der dreißiger Jahre entfaltete die jüdische Gemeinde auch unter schwersten Bedingungen ein reges Leben. Eine der besonderen Stärken des Buches ist die Darstellung der innerjüdischen Konflikte um das Thema der Auswanderung. Vor allem der Disput zwischen Zionisten und Antizionisten nahm an Schärfe zu und zeigt klare Differenzierungslinien: „Die innerhalb der jüdischen Gemeinde ausgefochtenen Spannungen zwischen Zionisten und ihren Gegnern veränderten sich parallel zur allgemeinen Auswanderungssituation und Berichterstattung der Presse.“ (Bd. 2,2 S. 682) Waren die Zionisten im deutschnationalen jüdischen Milieu Münsters anfangs noch in der Minderheit, so wuchs ihr Einfluss mit zunehmender Drangsalierung. Rabbiner Dr. Fritz L. Steinthal unternahm bis zuletzt zahlreiche Überredungsversuche, um die Gemeindemitglieder zum Bleiben zu bewegen, wobei er selbst die Ausreisepapiere schon in der Tasche hatte. Sein Nachfolger Dr. Julius Voos stand der zionistischen Bewegung vermutlich aufgrund des wachsenden äußeren Drucks auf die jüdische Gemeinde nicht mehr so ablehnend gegenüber. Die Frage „gehen oder bleiben“ wurde zum alles beherrschenden Thema, wobei ersichtlich wird, dass vielschichtige Motive und Faktoren den Entschluss zur Auswanderung beeinflussten: berufliche oder private Gründe, Immobilienbesitz oder eine mangelnde Perspektive im Exil.

Die Studie/Dokumentation ist auch für den Einsatz im Schulunterricht interessant, um den Opfern des Holocaust ein Gesicht zu geben und exemplarisch den gesellschaftlichen Beitrag der Juden zur deutschen Kultur nachzuvollziehen. Das Buch bietet darüber hinaus ein gutes Beispiel dafür, wie lokalgeschichtliche Studien über die Stadtgrenzen hinaus ausstrahlen können. Denn nicht nur weisen die Autorinnen zahlreiche persönliche Beziehungen der jüdischen Bevölkerung mit anderen Kommunen nach, weshalb das Buch Dank eines umfangreichen Orts- und Personenregisters auch für Historiker in anderen Gemeinden Westfalens interessant ist. Darüber hinaus bieten sie durch die Verknüpfung der Alltagsebene mit der Makrohistorie einen Einblick in die Funktionsweisen des nationalsozialistischen Machtapparats vor Ort. Was auf Reichsebene entschieden wurde, machte sich früher oder später in der Stadt bemerkbar, wobei damit die vorhandenen Spielräume bei der Umsetzung behördlicher Bestimmungen nicht klein geredet werden sollen.

Ein abschließendes Kapitel mit einer Einordnung der gewonnenen Ergebnisse in die Forschungslandschaft hätte dem quellengesättigten Werk zweifellos gut getan. Denn die Ergebnisse – ein keineswegs kontinuierlicher, sondern mit unterschiedlichen Dynamiken ablaufender Verfolgungsprozess – deuten darauf hin, dass der intentionalistische Ansatz, wonach der Holocaust relativ früh programmatisch festgelegt war, anhand dieser Studie nicht zu halten ist, von Goldhagens „eliminatorischem“ Antisemitismus ganz zu schweigen. Eine durchgängig sich steigernde Verfolgungsintensität ist nicht nachzuweisen. Fast zu jeder Zeit bestanden große Spielräume vor Ort. Repressalien konnten zunächst einsetzen und danach jahrelang kaum spürbar sein, bevor sie erneut durchbrachen. Eine neue Dimension eröffnete sich indes mit dem Pogrom vom 9./10. November 1938, der bei vielen Münsteraner Juden den Entschluss zur Emigration unumkehrbar machte. Vor 1938 hatte es dagegen vergleichsweise wenige Übergriffe gegeben, was sicherlich mit der speziellen Situation in der Stadt zusammenhing: Münster stellte als einstige „Hochburg“ der Zentrumspartei für die Nationalsozialisten ohnehin schwieriges Terrain dar.

Auch wenn die Frage der Mitwisser- bzw. -täterschaft des nichtjüdischen Bevölkerungsteils am gesamten Vernichtungssystem letztlich nicht völlig geklärt werden und in der vorliegenden Untersuchung nicht im Zentrum des Interesses stehen kann, so legt die soziale Einbindung der Juden in Münster vor dem Jahre 1933 nahe, dass die Diskriminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen für jeden offensichtlich sein mussten. Wenn der Kegelbruder nicht mehr erschien, wenn Nachbarn ihre Wohnungen räumen mussten oder das Modegeschäft an der Ecke schloss, dann mussten die Gründe für jedermann offensichtlich sein – übrigens auch für den in dieser Hinsicht schweigsamen „Löwen von Münster“, Bischof von Galen.

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