K. Hoffmann u.a. (Hrsg.): Spiel mit der Wirklichkeit

Cover
Titel
Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen


Herausgeber
Hoffmann, Kay; Kilborn, Richard; Barg, Werner C.
Reihe
Close up 22
Erschienen
Konstanz 2012: UVK Verlag
Anzahl Seiten
428 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Koch, Zentrum für Zeithistorische Forschung

„Edutainment“ befindet sich spätestens seit den 1990er-Jahren auf einem steilen Erfolgskurs, der sich in einem zunehmenden Anteil dokumentarischer Formate in den Programmen der TV-Sender niederschlägt.1 Dieses Kofferwort, das sich aus den englischen Begriffen „education“ und „entertainment“ zusammensetzt, verweist auf den Wunsch vieler Zuschauer und den Anspruch der Programmgestalter, Bildung mit angenehmer Unterhaltung zu verknüpfen. Besonders erfolgreich sind dabei historische Inhalte, die als „Histotainment“ bezeichnet werden. Geschichts- und Medienwissenschaftler kritisieren, dass sich diese Sendungen häufig auf einem schmalen Grat zwischen Fakten und Fiktionen bewegen, deren Grenzen sich darüber hinaus zusehends verwischen.2

Das vorliegende Buch analysiert dieses „Spiel mit der Wirklichkeit“ in doku-fiktionalen Formaten im deutschen und britischen Fernsehen, wobei sowohl der frühere als auch der gegenwärtige Umgang mit Geschichte im Fernsehen untersucht werden. Dazu haben die Herausgeber Kay Hoffmann, Richard Kilborn und Werner C. Barg insgesamt sieben weitere Autoren gewinnen können. In 19 Artikeln nähern sich Theoretiker und Praktiker aus Deutschland und Großbritannien dem Verhältnis von Fakten und Fiktionen im Dokumentar- und Spielfilm an. Zudem untersuchen sie die Entwicklung und die Stilmittel dieser Filmgattungen. Darüber hinaus ergänzen acht Interviews mit Filmemachern die theoretischen Darstellungen. Neben einer knappen Einführung und einem ebenso knappen Ausblick verteilen sich die Artikel und Interviews auf drei Kapitel, in denen es um „Dokument und Fiktion im Spiel- und Dokumentarfilm“, „Entwicklung hybrider TV-Formate“ und „Doku-Drama und historisches Re-Enactment“ geht. Im Anhang des Bandes findet sich neben dem Literaturverzeichnis und den Kurzbiografien der Beitragenden ein ausführlicher Filmindex, der die Suche nach bestimmten Filmen, Serien oder Sendungen erleichtert.

Durch den gesamten Band zieht sich die These, dass „seit den 1990er Jahren eine zunehmende Vermischung der [dokumentarischen und fiktionalen] Formen“ (S. 28) stattfindet. Auf der einen Seite arbeitet der moderne Dokumentarfilm „mit erprobten Dramaturgien des Spielfilms, castet seine Protagonisten und will emotional berühren“ (S. 11). Auf der anderen Seite greift auch die Spielfilmproduktion auf Konzepte des Dokumentarischen zurück, „[u]m ausgedachte Geschichten glaubwürdiger zu machen“ (S. 21). Schließlich, so Martina Döcker, würden sich diese „beiden Abteilungen […] auf einer Skala ohne Grenzverlauf“ bewegen (S. 57). Der gemeinsame Nenner dieser Konvergenz sei, so die einhellige Aussage der Autoren, „dass der Zuschauer ‚bei der Stange bleibt‘“ (S. 321 und vgl. S. 148 et al.). Seit den 1980er-Jahren ist der kommerzielle Druck auf die Sender und somit auch auf die Sendungen stetig gewachsen. Besonders anschaulich wird dies in den Interviews mit den Praktikern: „Jede Produktion stellt Dich als Regisseur vor neue Aufgaben. Meistens sind es finanzielle.“(S. 234), konstatieren Michael Kloft und Marc Brasse von SpiegelTV. Auf der Jagd nach Einschaltquoten mit dem Ziel „to deliver viewers to advertisers“ (S. 241), so Derek Paget, zählt vor allem gute Unterhaltung. In Bezug auf Doku-Soaps kommen Jeannette Eggert in ihrer Analyse und Stephen Lambert im Interview zu dem Schluss, dass Unterhaltung als deren primärer Zweck identifiziert werden kann (S. 151 und S. 124). Eine besondere Rolle für den Unterhaltungswert eines Dokumentarfilms spielen dabei drei Faktoren: Relevanz (S. 95), Glaubwürdigkeit (S. 148) und Emotionalität (S. 171). Vor Letzterer müsste keiner Angst haben, wie Guido Knopp und sein Kollege Stefan Brauburger im Interview versichern (S. 347).

Mal mehr, mal weniger dezidiert und teilweise unter Rückgriff auf unterschiedliche Begriffe setzen sich die hier versammelten Beiträge mit der Bedeutung von Unterhaltung und kommerziellem Druck auseinander. Daneben bietet der Sammelband eine medienhistorische Dimension, da er als Ausgangspunkt der aktuellen Situation auf die Geschichte des Dokumentarfilms verweist – so etwa in dem Beitrag von Dafydd Sills-Jones zur Entwicklung der Rekonstruktion im britischen Fernsehen. Dabei wird auch die technikhistorische Seite berücksichtigt, indem auf die Fortschritte in der Kamera-, Licht- und Tontechnik sowie die Etablierung der Computeranimationen als wesentliche Faktoren bei der Genese des Dokumentargenres hingewiesen wird.

Der Band lässt kaum eine Form des dokumentarischen Fernsehens aus. So werden in Jeannette Eggerts Beitrag auch Formate wie die Coaching-Show „Die Super Nanny“ und die Scripted Reality „Mitten im Leben“ thematisiert. Hoffmann, der alleine sechs Beiträge des Buches stellt, gewährt einen Einblick in das „Vergnügen, mit dokumentarischen Erwartungen zu spielen“ (S. 41), das sich Dokumentationen erlauben, die darauf angelegt sind, als Fälschung enttarnt zu werden. Richard Kilborn, der zwei Artikel zum Band beiträgt, offenbart das „Changing Face of TV wildlife Documentary“ (S. 195). Dokumentationen mit zeithistorischem Inhalt und Filme mit zeithistorischem Setting nehmen gleichwohl den größten Anteil an den ausgewählten Beispielen ein, etwa in den Beiträgen von Matthias Steinle zur „DDR im Nachwende-Doku-Drama“ (S. 305), Christian Hißnauer zur „RAF als Baader-Meinhof-Komplex“ (S. 355) und Tobias Ebbrecht zum historischen Ereignisfernsehen (S. 377). Auch Living-History-Formate, in denen Menschen der Gegenwart in einem historischen Setting ihren Alltag bewältigen, und „AnimaDoks“, vollständig oder zum Teil mit Zeichentricktechnik animierte Dokumentationen, finden in Beiträgen von Hoffmann eine eingehende analytische wie historische Betrachtung. Leider spart der Band jedoch den Blick auf Dokumentationen mit archäologischen bzw. ur- und frühgeschichtlichen Inhalten vollständig aus, obwohl sich gerade diese in Großbritannien einer hohen Beliebtheit erfreuen und auch im deutschen Fernsehen einen festen Platz einnehmen.3

Besonders in den Interviews vermittelt das Buch einen prägnanten Eindruck von der Arbeit der Dokumentar- und Spielfilmer und erhellt in der Verknüpfung mit den auf anschauliche Beispiele rekurrierenden Artikeln einen umfassenden Einblick in die Produktionshorizonte von doku-fiktionalen Fernsehformaten. Damit eröffnet es ein weites Feld, in dem sich zahlreiche Projekte der gegenwärtigen Mediengeschichte und der Public History bewegen. Leider häufen sich jedoch Wiederholungen und zahlreiche Schlüsse, die gezogen werden, liegen an anderer Stelle bereits vor.4 Was darüber hinaus zu oberflächlich bleibt, ist die Perspektive der Zuschauenden, um die sich alle Produktionsbemühungen drehen. Ob die Rezipienten zwischen Fakten und Fiktionen unterscheiden können und was schließlich von einer Dokumentation im Bewusstsein bleibt, darüber spekulieren Autoren und Interviewpartner lediglich (S. 30, S. 274 und S. 375f.). Auch die grundlegende Frage, welchen Zielen im Sinne einer historischen oder politischen Bildung sich die Dokumentationen verpflichten (sollten) und welche Verantwortung sie in diesem Kontext tragen, wird leider nur angerissen (S. 375f.).

Anmerkungen:
1 Edgar Lersch und Reinhold Viehoff weisen diesen Trend empirisch für Geschichtssendungen seit 1995 nach. Vgl. Edgar Lersch / Reinhold Viehoff, Geschichte im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Genres und der Gattungsästhetik geschichtlicher Darstellungen im Fernsehen 1995 bis 2003, Berlin 2007, hier S. 119; vgl. Michael Meyen: Rezension zu: Lersch, Edgar; Viehoff, Reinhold: Geschichte im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Genres und der Gattungsästhetik geschichtlicher Darstellungen im Fernsehen 1995 bis 2003. Berlin 2007, in: H-Soz-u-Kult, 30.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-082> (11.12.2012). Richard Kilborn und Stephen Lambert verweisen in ihren Beiträgen im vorliegenden Band ebenfalls auf diese Entwicklung (S. 107f. und S. 123).
2 Vgl. unter anderem: Thomas Fischer / Rainer Wirtz (Hrsg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008; vgl. Judith Keilbach: Rezension zu: Fischer, Thomas; Wirtz, Rainer (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008, in: H-Soz-u-Kult, 15.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-229> (16.12.2012); Barbara Korte / Sylvia Paletschek (Hrsg.), History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009, bes. S. 147–214; vgl. Olaf Hartung: Rezension zu: Korte, Barbara; Paletschek, Sylvia (Hrsg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld 2009, in: H-Soz-u-Kult, 30.10.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-095> (16.12.2012).
3 Vgl. Lersch / Viehoff, Fernsehen, hier S. 113.
4 Beispielsweise sind ähnliche Beiträge von Steinle, Ebbrecht und Hißnauer bereits an anderer Stelle erschienen: Vgl. Matthias Steinle, Good Bye Lenin – Welcome Crisis! Die DDR im Dokudrama des historischen Event-Fernsehens, in: Tobias Ebbrecht (Hrsg.), DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg 2009, S. 322–342; vgl. Andreas Kötzing: Rezension zu: Ebbrecht, Tobias; Hoffmann, Hilde; Schweinitz, Jörg (Hrsg.): DDR – Erinnern, Vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg 2009, in: H-Soz-u-Kult, 23.02.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-139> (16.12.2012); Tobias Ebbrecht, History, Public Memory and Media Event. Codes and Conventions of Historical Event-Television in Germany, in: Media History 13 (2007), Nr. 2/3, S. 221–234; Christian Hißnauer, Mogadischu. Opferdiskurs doku/dramatisch – Narrative des Erinnerns an die RAF im bundesdeutschen Fernsehen 1978–2008, in: Carsten Gansel / Norman Ächtler (Hrsg.), Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008. Heidelberg 2010, S. 99–126; vgl. Alexandra Tacke: Rezension zu: Ächtler, Norman; Gansel, Carsten (Hrsg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008. Heidelberg 2010, in: H-Soz-u-Kult, 16.11.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-116> (16.12.2012).

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