B. Goldberg: Die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein

Titel
Abseits der Metropolen. Die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein


Autor(en)
Goldberg, Bettina
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte der Juden in Schleswig-Holstein 5
Erschienen
Neumünster 2011: Wachholtz Verlag
Anzahl Seiten
786 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Richarz, Berlin, vormals Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

Die regionale und lokale Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums weist in der Bundesrepublik eine große Ungleichzeitigkeit auf für die einzelnen deutschen Regionen. Sie begann in Baden-Württemberg in den 1970er-Jahren, setzte sich fort in Hessen und Bayern und fasste nach 1989 nur zögernd in den neuen Bundesländern Fuß. Diese Forschung kulminierte aber vor allem in der Darstellung des jüdischen Lebens in den großen Metropolen wie Berlin, Frankfurt oder Hamburg und berücksichtigte erst seit den 1990er-Jahren auch stärker die Landgemeinden. Schleswig-Holstein war die Region, in der es aus nur zu vermutenden Gründen am längsten dauerte, bis auch hier das wissenschaftliche Interesse an jüdischer Geschichte Ende der 1990-Jahre erwachte.

Die jetzt als Flensburger Habilitationsschrift vorliegende Gesamtdarstellung von Bettina Goldberg macht das mehr als wett. Sie nutzt den großen Vorteil, dass sich inzwischen in den letzten vierzig Jahren eine intensive Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte entfaltete, die in internationaler Kooperation zu sehr beachtlichen Leistungen geführt hat. Goldberg kann so eine echte Regionalgeschichte der Juden schreiben, die nicht, wie fast alle älteren Studien, nur eine Sammlung von Monographien jüdischer Gemeinden bietet und dabei ganz auf den lokalen Blick beschränkt bleibt. Sie behandelt das Thema vielmehr exemplarisch und sozialgeschichtlich vergleichend, es voll in die Fragestellungen der modernen Forschung integrierend. In der Einleitung heißt es: „Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Sozial- und Alltagsgeschichte der Juden in Deutschland, zugleich soll sie eine zentrale Lücke in der landesgeschichtlichen Forschung schließen.“ (S.10)

Die erste Reaktion beim Anblick des schön gestalteten Buches ist Verblüffung: Lohnt es sich, eine so umfangreiche Regionalgeschichte über eine so kleine Minderheit zu verfassen? Lebten doch im Untersuchungsbereich (ohne Altona) 1925 nur knapp 2.000 Juden, von denen fast zwei Drittel in Lübeck und Kiel ansässig waren und der Rest sich auf 123 Kleinstädte und Landgemeinden verteilte. Diese geringe jüdische Besiedlung hatte eine lange Tradition, zunächst bedingt durch die Beschränkung des Niederlassungsrechtes, nach der Emanzipation eher verursacht durch die Randlage der Region und ihre primär agrarische Struktur. Doch das Vorurteil gegen die geringe Zahl verliert der Leser schnell angesichts der Tatsache, dass hier sozusagen die Grundprobleme der deutsch-jüdischen Geschichte am Beispiel der Juden in Schleswig-Holstein wie in einem Mikrokosmos analysiert und dargestellt werden.

Goldberg hat eine große Anzahl historischer Quellen aus staatlichen und aus jüdischen Archiven neu erschlossen, private Nachlässe und die jüdische Presse benutzt. Vor allem aber die 80 Interviews, darunter 51 von ihr selbst primär 1997 geführte, tragen erheblich bei zu einer sehr lebendigen Darstellung in diesem gut lesbaren Buch. Die Interviews ermöglichen oft eine Einbeziehung informeller Netzwerke der Familien und werden ergänzt durch sozial sehr aussagefähige Fotos aus Privatbesitz.

Die zeitliche und geographische Abgrenzung der Studie war nicht einfach. Erst im 17. Jahrhundert siedelten sich vereinzelte Juden mit und ohne Privileg des dänischen Königs erstmals in den Herzogtümern Schleswig und Holstein an, gefolgt von der kleinen sephardischen Gemeinde in Glückstadt und der Gemeinde in Friedrichstadt, einer religiösen Freistätte der Gottorfer Herzöge. Das 17. und 18. Jahrhundert findet im Werk nur kursorisch als Vorgeschichte Beachtung, die systematische Darstellung setzt im Wesentlichen erst bei der spät beginnenden Emanzipation Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Zeit 1918–1945, und sie endet mit dem Ausblick auf die bedrückende Situation der Nachkriegszeit, in der fast alle überlebenden Juden Schleswig-Holstein verließen, so dass 1968 die wenigen Verbliebenen sich formal der Jüdischen Gemeinde Hamburg anschlossen.

Historisch gesehen, ist Hamburg durch seine wirtschaftlichen Möglichkeiten immer der große Konkurrent und Magnet für die Juden in Schleswig-Holstein gewesen, die ein stetes Reservoir der Hamburger Juden bildeten. Die benachbarte Stadt Altona, die schon früh eine stattliche und kulturell bedeutende jüdische Gemeinde besaß, gehörte mit den beiden Herzogtümern bis 1867 zum dänischen Königreich, wurde dann preußisch und 1937 in Hamburg eingemeindet. Die Autorin klammert daher Altona aus ihrer Untersuchung weitgehend aus, bezieht andererseits die Hansestadt Lübeck mit ein, die erst 1937 ihren Sonderstatus verlor und in die nunmehrige preußische Provinz Schleswig-Holstein integriert wurde. Die Grenzen des Untersuchungsgebiets entsprechen also dem heutigen Bundesland Schleswig-Holstein. So verständlich die Entscheidung der Autorin ist, Altona nur am Rande mit zu behandeln, so sehr muss man das als eine gewisse Verzerrung bedauern, lebten doch 1925 nicht weniger als 58 Prozent der Juden Schleswig-Holsteins in der damals noch selbständigen Stadt Altona, die ihr soziales und kulturelles Zentrum bildete.

Das Werk gliedert sich in zwei unterschiedlich strukturierte Hauptteile von etwa gleichem Umfang, von denen der erste bis 1933 reicht und systematisch gegliedert ist, der zweite die NS Zeit in mehr chronologischer Reihenfolge behandelt. Im ersten Teil werden in fünf Kapiteln sozialgeschichtliche Themen untersucht, wie Migration und Bevölkerungsentwicklung, Berufsstruktur und soziale Schichtung, Gemeinde und Familie, Bildung und Vereinswesen, Umweltbeziehungen und die Reaktion auf den Antisemitismus. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede vor allem im Vergleich der beiden größten Gemeinden Lübeck und Kiel mit 1925 je etwa 600 Mitgliedern. Die Lübecker Gemeinde hatte eine breite bürgerliche und neoorthodoxe Mittelschicht und etwa ein Viertel osteuropäische Juden als Mitglieder, die kaum sozialen Kontakt miteinander pflegten. In Kiel dagegen gab es eine osteuropäische, meist galizische Minderheit von fast vierzig Prozent in der Gemeinde, so dass es hier zu starken religiösen Spannungen mit der liberalen Mehrheit kam. Die intensive Darstellung des ostjüdischen Lebens gehört zur besonderen Qualität dieser Studie, zumal die ‚Ostjuden‘ nicht, wie üblich, separat abgehandelt werden, sondern immer integriert in die jeweilige Thematik von Familie, sozialem Aufstieg, Bildungsstreben und religiöser Praxis. Verglichen mit Kiel und Lübeck waren Kleingemeinden wie Flensburg, Friedrichstadt oder Rendsburg von starker Abwanderung gekennzeichnet, während auf dem Lande Juden zumeist sehr versprengt lebten, oft ganz vereinzelt ohne Kontakt zu jüdischen Gemeinden.

In der Weimarer Republik sahen sich die hiesigen Juden schon früh bedrängt und isoliert. Antisemitische Einstellungen fanden in Schleswig-Holstein schnell Rückhalt, was am Beispiel des Bäderantisemitismus und der Studentenschaft in Kiel gezeigt wird. Die Nationalsozialisten erzielten gerade in Schleswig-Holstein 1930 und 1932 bei Wahlen die reichsweit besten Ergebnisse von zuletzt 51 Prozent. Die von Goldberg geschilderte umfangreiche Abwehrarbeit der jüdischen Vereine und Gemeinden fand keine Solidarität mehr in der Bevölkerung.

Der zweite Teil der Studie befasst sich in drei Kapiteln mit der Zeit unter dem Nationalsozialismus, wobei die jüdische Perspektive im Vordergrund steht. Die Interviews erlauben Aussagen zum Alltag und zu Verfolgung, Ausplünderung und Flucht vieler einzelner Familien. Ein ausführliches Kapitel thematisiert die jüdische Selbsthilfe. Berufsverbote und wirtschaftliche Ausplünderung führten zu einer besonders schnellen Verarmung der Verfolgten. Nach dem Novemberpogrom wurden nur noch etwa zehn Betriebe „arisiert“, der Rest lohnte den Verkauf nicht und wurde aufgelöst. Eine Besonderheit in Schleswig-Holstein war, dass die dortigen polnischen Juden erst im Mai 1939 die Ausweisung erhielten. Viele von diesen konnten zwischenzeitlich noch flüchten, bevorzugt nach Palästina.

Die jüdische Bevölkerung Schleswig-Holsteins nahm rapide ab – zwischen 1933 und 1939 um fast sechzig Prozent. Als die Deportationen begannen, waren viele Juden nach Hamburg gezogen und wurden von dort deportiert, wie später auch aus Zufluchtsorten in Belgien, Holland und Frankreich. Aus Schleswig-Holstein selbst führten zwei Deportationen nach Riga und Theresienstadt. Vor der Verschleppung begingen nachweislich 30 Juden Selbstmord. Aus den gut besuchten Versteigerungen jüdischer Haushalte nahm die Finanzverwaltung in Lübeck rund 46.000 RM ein (S. 492f.).

Die Studie Bettina Goldbergs ist, trotz einiger Längen in den biographischen Teilen, methodisch und inhaltlich eine außerordentliche Leistung. Immer aus der aktuellen Forschung argumentierend, ist hier ein Werk entstanden, wie es in dieser Form und Qualität für kein anderes Bundesland vorliegt. Mit Recht erhielt es 2012 den Preis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte. Dringend zu erhoffen bleibt nur die Integration der Ergebnisse in die Landesgeschichte.

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