M. Hammond u.a. (Hrsg.): British Silent Cinema and the Great War

Cover
Titel
British Silent Cinema and the Great War.


Herausgeber
Hammond, Michael; Williams, Michael
Erschienen
Basingstoke 2011: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
197 S.
Preis
£50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Stiasny, Berlin

Mit „War Horse“ (2011) hat Steven Spielberg gerade erst die Hollywood-Adaption eines populären englischen Kinderbuches in die Kinos gebracht, in dem es um Menschen und Pferde, Leid und Tod, Zusammenhalt und Bewährung auf den Schlachtfeldern Frankreichs geht. Ein Spektakel, von dem man annehmen darf, dass es die Vorstellung vieler Menschen vom Ersten Weltkrieg mit prägen wird und das nebenbei an die Zigtausend Pferde erinnert, die im Krieg vor allem als Transportmittel zum Einsatz kamen. Einen US-amerikanischen Film mit dem Titel „The War Horse“ gab es auch schon 1927: die abenteuerliche, anscheinend eher komödiantische Geschichte eines Cowboys und seines Pferdes im Weltkrieg. In Großbritannien stießen dieser und zahlreiche andere Kriegsfilme aus Hollywood wegen ihrer standardisierten Mischung von Heroismus und Romantik, Kommerz und Grauen oft auf Ablehnung, zumindest in der zeitgenössischen Kritik. Befürchtet wurde, dass sie eine originär britische Erinnerung an den Krieg auf trivialisierende Weise um- und überschreiben könnten.

Eine Frage, die sich in „The War Horse“ so nicht stellt, ist die, ob man seinen besten Kameraden auch verspeisen darf. Sie steht im Zentrum eines bis vor Kurzem vollkommen vergessenen britischen Films, der im Sammelband „British Silent Cinema and the Great War“ als Forschungsgegenstand in den Blick gerät, wenn auch nur am Rande: „A Couple of Down and Outs“ (1923) handelt von einem arbeitslosen, tief enttäuschten Weltkriegsveteranen, der in London ausgerechnet am Remembrance Day, an dem der toten Veteranen feierlich gedacht wird, die Verladung von Pferden beobachtet, die in Belgien zu Konservenfleisch verarbeitet werden sollen. Der Mann erkennt Jack wieder, das Pferd, das im Krieg sein Kamerad gewesen war und ihn schwer verletzt ins Lazarett gebracht hatte. Kurzerhand stiehlt er das Pferd und löst eine Verfolgungsjagd aus. Schließlich finden beide Unterschlupf bei einer jungen Frau, die selbst einen Bruder im Krieg verloren hat.

Der Film verknüpft Inhalte, Ästhetiken und Kontexte, die für britische Filme der Nachkriegsjahre durchaus typisch sind: Das Motiv des öffentlichen und privaten Gedenkens, die Traumatisierung des Kriegsteilnehmers, der in der Zivilgesellschaft nicht mehr zurecht kommt und von furchtbaren Erinnerungsschüben geplagt ist, die merkwürdige Mixtur fiktionaler und dokumentarischer Elemente (die Aufnahmen des Remembrance Day sind ebenso dokumentarisch wie die in die Rückblenden einmontierten Aufnahmen von der Front), die eher beiläufige Schilderung sozialer Umstände wie Arbeitslosigkeit und Armut; schließlich die Einbindung all dessen in eine Erzählung, die die populären Unterhaltungsformen von Melodram, Abenteuer und Romanze einschließt und mit der nur knapp abgewendeten Schlachtung des Pferdes, des unbesungenen Kriegshelden, eine starke Symbolik entwickelt. Mit zahlreichen amerikanischen Kriegsfilmen der 1920er-Jahre hat „A Couple of Down and Outs“ eine gewisse Formelhaftigkeit des Genrefilms gemeinsam. Der britische Film unterscheidet sich von ihnen aber dadurch, dass der Krieg als eine Vergangenheit erscheint, um deren Sinn in der Gegenwart gerungen wird, dass er auf eine allzu platte Heroisierung verzichtet und im Übrigen ein spezifisch britisches Gedenken an den Krieg postuliert, wie es sich etwa im Ritual des Remembrance Day ausdrückt. Tatsächlich akzentuierten viele britische Filme über den Ersten Weltkrieg durch eindeutig codierte Begriffe, Ortsnamen und Zitate aus Liedern und Gedichten schon im Titel ihre „Britishness“.

Während die auch im vorliegenden Band behandelten behördlichen Propaganda- und Dokumentarfilme der Kriegsjahre und die damals rapide zunehmende gesellschaftliche Bedeutung des Kinos gut untersucht sind, ist die Forschung speziell an den Kriegsfilmen der 1920er-Jahre bislang vorbeigegangen.1 Diesem Korpus widmen sich hier Fallstudien von Amy Sargeant zur Rezeption von „The Battles of the Coronel and Falkland Islands“ (1927), einem „Re-enactment“ der beiden Seeschlachten vom November 1914, und von Michael Williams zum Spielfilm „The Guns of Loos“ (1928) sowie Toby Haggith’ detaillierte Recherche zu Lokalaufnahmen von den feierlichen Enthüllungen von Gefallenendenkmälern.

Lawrence Napper befasst sich mit dem Regisseur Walter Summers, dessen Filme drei wesentliche Kategorien des Umgangs mit der Kriegserfahrung veranschaulichen, die Napper mit den Begriffen „remembrance“, „re-membering“ und „recollection“ charakterisiert. Unter „remembrance“ ist das Bemühen zu verstehen, einen individuell und als sinnlos erfahrenen Verlust aufzufangen durch einen öffentlichen Diskurs über den Sinn des Krieges; Sinn werde dabei durch das Gedenken an das freiwillige Opfer und die Ehre der Gefallenen und die moralische Verpflichtung der Überlebenden gegenüber den Toten gestiftet. Musterhaft zeige das Summers’ „A Couple of Down and Outs“. Das Moment des „re-membering“ (im Sinne von Joanna Bourke), des Wieder-Zusammenfügens, erkennt Napper in einer Reihe von offiziösen, halb dokumentarischen, halb dramatisierten Filmen über berühmte Ereignisse und Orte des Krieges, darunter Summers’ „The Battles of the Coronel and Falkland Islands“ und „Ypres. The Story of the Immortal Salient“ (1924). Vergleichbar mit dem Genre der Regimentsgeschichte, das auch in Deutschland verbreitet war, ordnen diese Filme die heterogenen und chaotischen Fragmente individueller Erfahrungen zu einer nachvollziehbaren historischen Erzählung über eine bedeutende militärische Aktion und sprechen damit primär die Veteranen selbst an. In die Kategorie der „recollection“, des Rückerinnerns, ja Wieder-Erlebens, fallen frühe Tonfilme wie „Suspense“ (1930), die die physische und psychische Anspannung und die Hilflosigkeit der Frontkämpfer speziell durch akustische Mittel nacherlebbar machten.

Eine andere Art der Periodisierung nehmen Bryony Dixon und Laraine Porter vor, die die Nachkriegszeit mit Blick auf die Filme und ihre Themen grob unterteilen in die Jahre 1918-1924, in denen das Trauern im Vordergrund gestanden habe, und die Jahre 1924-1928, in denen sich eine Antikriegsstimmung entwickelte. Was klare Antikriegspositionen angeht, so scheinen diese allerdings erst im Tonfilm durchzuschlagen; sie bilden im populären Kino jedoch eine Minderheit. Gleichwohl gibt es eine noch unbestimmte Anzahl von Filmen, die die traumatischen Auswirkungen und zerstörerischen Folgen des Krieges vor Augen führten, ohne eine ausgesprochene Antikriegshaltung einzunehmen: Die Rede ist von Spielfilmen mit dem „war touch“, ein zeitgenössischer Ausdruck, der Filme beschreibt, die vordergründig nicht vom Krieg handeln und doch auf die spezifischen Erfahrungen der Kriegsgeneration von Invalidität und krisenhafter Männlichkeit Bezug nehmen. Christine Gledhill analysiert den „war touch“ etwas näher am Beispiel von „The Wonderful Story“ (1922) und „The First Born“ (1928). Den Resonanzen der Kriegserfahrungen in solchen scheinbar außerhalb des Korpus liegenden Filmen sollte weiter nachgespürt werden.2

Wenn der schmale Band den Leser am Ende mit gemischten Gefühlen entlässt, so liegt das vielleicht daran, dass der Titel „British Silent Cinema and the Great War“ Erwartungen weckt, die der Band nicht erfüllt: Es ist nicht die erhoffte Monografie zum Thema. Zu unterscheiden ist zwischen wirklichen Mängeln und verpassten Gelegenheiten. Zu den Mängeln gehört, dass die Autoren mit wenigen Ausnahmen nicht gründlich mit dem vorhandenen Filmmaterial arbeiten, es also nicht genau genug beschreiben und analysieren. Vielfach bleibt es bei ein paar Sätzen zum Inhalt. Vor dem Hintergrund, dass bestimmte Filme hier erstmals etwas näher vorgestellt werden, ist so ein Verzicht auf Quellenbeschreibung nicht gut nachvollziehbar. Wenn in einem Spielfilm zur Herstellung eines Effekts von Authentizität dokumentarisches Material aus einer anderen Quelle hineingeschnitten wird, wollen wir doch wissen, was dieses Material genau zeigt, woher es stammt, wie häufig es recycelt wurde und warum gerade dieses Material einen Effekt von Authentizität versprach.

Nicht nachvollziehbar ist auch, warum im Band die Quellen, in diesem Fall die untersuchten Filme, nicht ordentlich ausgewiesen werden; mit wenigen Ausnahmen fehlen Angaben zu Archivstandorten und Überlieferungszustand der Filme, sodass weder eine Überprüfung der Beobachtungen noch eine Weiterarbeit möglich sind. Dabei sind unter den Beiträgern hervorragende Experten und Archivmitarbeiter. Weiter fehlt eine zahlenmäßige Erfassung des Korpus besonders für die 1920er-Jahre: Wie viele britische Filme gibt es überhaupt, die zum Korpus gehören?3 Und wie viele amerikanische oder auch deutsche Kriegsfilme wurden im Vergleich damit importiert und wie lange liefen diese im Kino?

Zu den verpassten Gelegenheiten: Wünschenswert wäre es gewesen, weiter bestehende Forschungsdesiderate deutlicher auszusprechen, etwa eine Rezeptionsanalyse der in Großbritannien in den 1920er-Jahren gelaufenen Hollywoodfilme. Zu berücksichtigen wäre hier, dass die Filme, wie damals üblich, je nach Zensurbestimmungen und kulturellen Vorlieben und Abneigungen in unterschiedlich bearbeiteter Form herausgebracht wurden. Überhaupt sollten die internationalen Wechselbeziehungen stärker berücksichtigt werden. Ein Beispiel: Der britische Kriegsfilm „The Somme“ verwendete 1927 historisches Material. Da liegt es nahe zu fragen, wie sich der deutsche, ebenfalls mit historischem Material arbeitende Kriegsfilm „Die Somme“ (1930) dazu verhielt und worin sich die britische und die deutsche Interpretation der Schlacht auf der Leinwand unterschieden und ob es gewissermaßen einen gemeinsamen Pool von Bildern und Vorstellungen gab.4

Wenn der Sammelband und die in ihm offengebliebenen Fragen neue Recherchen anstoßen, wäre das ein gutes Ergebnis. Und wenn dann weitere Filme wie „A Couple of Down and Outs“ wieder zum Vorschein kommen, hat sich die Suche gelohnt.5

Anmerkungen:
1 Eine der wenige Ausnahmen ist der kompakte Überblick von Michael Paris, Enduring Heroes. British Feature Films and the First World War, 1919-1997, in: ders. (Hrsg.): The First World War and Popular Cinema. 1914 to the Present, New Brunswick 2000, S. 51-73.
2 Für das deutsche Kino der Nachkriegszeit siehe Anton Kaes, Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War, Princeton 2009.
3 Michael Paris listet 18 Spielfilme aus den Jahren 1919 bis 1930 auf; die Rekonstruktionen oder Re-enactments historischer Schlachten sind dabei nicht mitgezählt. Vgl. Paris, Enduring Heroes, S. 73.
4 Ein anderes Beispiel: Der deutsche Spielfilm über die Skagerrakschlacht, „Die versunkene Flotte“ (1926), kam 1928 in Großbritannien in einer stark umgearbeiteten Version mit dem Titel „When Fleet meets Fleet – A Romance of the Great Battle of Jutland“ heraus. Dazu Jan Kindler, Flottenpropaganda, Völkerversöhnung und Heldenverehrung, in: Filmblatt 10 (2005), Nr. 28, S. 5-15.
5 Eine Kopie von „A Couple of Down and Outs“ liegt übrigens im niederländischen Filmmuseum in Amsterdam – dem Eye Film Institute – in einer niederländischen Version mit dem Titel „De twee overgeblevenen“; ein Indiz dafür, dass der Film auch im Ausland lief.

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