A. Bauerkämper u.a. (Hrsg.): Gesellschaft und Europäische Integration

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Titel
Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren. Migration – Konsum – Sozialpolitik – Repräsentationen


Herausgeber
Bauerkämper, Arnd; Kaelble, Hartmut
Reihe
Studien zur Geschichte der Europäischen Integration 8
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
187 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Reinfeldt, Historisches Seminar, Arbeitsbereich Europäische Geschichte, Universität Hamburg

Forderungen nach einer gesellschaftsgeschichtlichen Erweiterung der Europa- bzw. europäischen Integrationshistoriographie wurden in der historischen Forschung zuletzt mehrfach erhoben. Movens derartiger Forderungen ist zumeist das durchaus begründete Unbehagen gegenüber einer primär politik- bzw. diplomatiegeschichtlich ausgerichteten Integrationsforschung, die den Anfängen der Institutionalisierung des europäischen Integrationsprozesses nach 1945 nur in Ansätzen und dem seither fortschreitenden Integrationsprozess gar nicht mehr gerecht wird. Das Spektrum reicht dabei von Forderungen nach einer sozialwissenschaftlichen Fundierung politikgeschichtlicher Fragestellungen zur Analyse von Europäisierungs- oder Verflechtungsprozessen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften (EG) bzw. Europäischen Union (EU) bis hin zu Forderungen, europäische Integrationsgeschichte als integralen Bestandteil einer umfassenden gesellschaftsgeschichtlich ausgerichteten Europäischen Geschichte zu konzipieren.1 In diesem Spektrum bewegen sich auch die Beiträge in dem von Arnd Bauerkämper und Hartmut Kaelble herausgegebenen Band zur gesellschaftlichen Dimension der europäischen Integration seit den 1950er-Jahren.

In ihrer Einleitung formulieren Bauerkämper und Kaelble die für den Band zentrale Frage nach den Auswirkungen des europäischen Integrationsprojektes auf die europäische Gesellschaft bzw. auf die nationalen Gesellschaften in Europa – eine Frage, die laut Bauerkämper und Kaelble „lange Zeit“ weder Öffentlichkeit noch Wissenschaften interessiert habe. Selbst die zeitgenössischen europapolitischen Akteure hätten bis in die 1970er-Jahre gesellschaftliche Fragen der europäischen Integration weitgehend vernachlässigt. Erst die zunehmende Politisierung und Kompetenzausweitung der EG/EU sowie eine steigende Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit gesellschaftlicher Rückkopplung seitens der europapolitischen Akteure hätten in der Folgezeit ein Bewusstsein für die Bedeutung gesellschaftlicher Zusammenhänge für die europäische Integration entstehen lassen.

Angesichts der Vielzahl offener Fragen verwundert es nicht, dass die einzelnen Beiträge das Thema aus ganz unterschiedlichen Perspektiven angehen. Neben konzeptionellen Beiträgen zur Vermessung des Forschungsfeldes „Europäische Gesellschaft“ (Bo Stråth, Wolfram Kaiser) stehen Beiträge, die einzelne gesellschaftliche Teilaspekte der europäischen Integration in den Blick nehmen: Migration (Leo Lucassen/Charlotte Laarman, Georg Kreis), Konsum und Sozialpolitik (Detlef Siegfried, Béla Tomka, Bernd Schulte) sowie Repräsentationsformen einer europäischen Gesellschaft (Rolf Petri, Anne-Marie Autissier).

Der Band geht zurück auf die Tagung „50 Jahre Römische Verträge. Supranationale Institutionen und transnationale Erfahrungsräume“, die am 16./17. März 2007 im Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas stattgefunden hat. Für die Veröffentlichung sind die Beiträge überarbeitet worden, bewegen sich allerdings – wie bereits der Blick in die Anmerkungsapparate der meisten Beiträge deutlich macht – von einigen Ausnahmen abgesehen auf dem Forschungsstand etwa dieser Zeit. Das schmälert indes nicht den Erkenntnisgewinn aus der Lektüre des Bandes.

In seinem grundlegenden Beitrag zu den Perspektiven eines sozialen Europas thematisiert Bo Stråth die „europäische Spaltung zwischen der Ökonomie und dem Sozialen“ (S. 27) im Integrationsprozess, „die Entbindung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dimension durch die europäische Marktintegration“ (S. 28) nach 1945, die die Verantwortung für den gesellschaftlichen Teilbereich des Sozialen bei den EG-/EU-Mitgliedstaaten belassen habe. Hierin sieht Stråth einen wesentlichen Unterschied zur Entwicklung der Nationalstaaten im Europa des 19. Jahrhunderts. Zaghafte Versuche Anfang der 1970er-Jahre, Ökonomie und Soziales miteinander zu verknüpfen und so die Marktintegration durch eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik um eine soziale Dimension zu ergänzen, blieben erfolglos. Im Scheitern dieser europäischen wirtschaftspolitischen Ambitionen und dem Durchbruch einer neoliberalen Marktwirtschaftspolitik um 1980 sieht Stråth „das Ende der EG als ein föderales Projekt“ (S. 33). Ein soziales Europa hält Stråth nicht mehr für wahrscheinlich. Wolfram Kaiser macht in methodisch-konzeptioneller Hinsicht die Fokussierung der europäischen Integrationshistoriographie auf zwischenstaatliche Verhandlungen, supranationale Institutionalisierung und politische Entscheidungsprozesse dafür verantwortlich, dass die Geschichte der EG/EU nach wie vor ein randständiges Forschungsfeld in der europäischen Zeitgeschichte sei. Doch auch die Gesellschaftsgeschichte habe sich noch nicht ausreichend transnationalen Fragestellungen geöffnet. Kaiser plädiert daher dafür, die europäische Integration „als Prozess einer europäischen Vergesellschaftung zu verstehen“ (S. 45) und unter Rückgriff auf entsprechende politik- und sozialwissenschaftliche Konzepte insbesondere gesellschaftliche Interaktions- und Transferprozesse sowie die Rolle transnationaler Netzwerke zum Analysegegenstand einer erneuerten Zeitgeschichte zu machen.

Der nachfolgende Beitrag zum Themenfeld „Migration“ fügt sich nicht ohne weiteres in den vorgegebenen Gesamtrahmen des Bandes ein, wenngleich er ein für eine europäische Gesellschaftsgeschichte relevantes Thema behandelt. Leo Lucassen und Charlotte Laarman untersuchen das Heiratsverhalten ausgewählter Migrantengruppen in Deutschland, Frankreich, England, Belgien und den Niederlanden seit den 1980er-Jahren. Für die Bereitschaft, Ehen mit Angehörigen anderer Ethnien bzw. der einheimischen Bevölkerung zu schließen, spielt demnach in den untersuchten Ländern – anders als etwa in den USA – Religionszugehörigkeit eine weitaus größere Rolle als Hautfarbe und ethnische Zugehörigkeit, was Lucassen/Laarman im wesentlichen auf die Sozialisation vor der Migration zurückführen. Inwiefern hier Auswirkungen der europäischen Integration berührt sind, bleibt offen. Mit dem Aspekt Migration befasst sich im Anschluss Georg Kreis wiederum eher am Rande. In seinem Beitrag analysiert Kreis die Anfänge einer europäischen Entwicklungspolitik auf Grundlage der Römischen Verträge. Kreis verdeutlicht am französischen Beispiel, „dass ein enger Zusammenhang zwischen der Konstruktion der europäischen Gemeinschaft und der Dekonstruktion der Kolonialreiche besteht“ (S. 93). Über die kontinentale Integration, so Kreis, sollte die Dekolonisation aufgefangen werden. Dabei sei bewusst der vormals nationale in einen supranationalen Kolonialismus transformiert worden. Erst allmählich habe sich eine tatsächliche Entwicklungszusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten und den ehemaligen Kolonialgebieten etabliert. Das Bewusstsein in Europa für die Kolonialvergangenheit sei dabei nur defizitär ausgeprägt. Auch hier hätte das Verhältnis von europäischer Entwicklungspolitik und gesellschaftlichem Bewusstsein noch deutlicher herausgearbeitet werden können.

Der Abschnitt zum Themenfeld „Konsum und Sozialpolitik“ ist ähnlich heterogen. Detlef Siegfrieds Beitrag zum Konsumenten als Bürger zeigt, wie sich gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen und nationales bzw. supranationales politisches Handeln wechselseitig beeinflussten – mit integrativen und legitimierenden Effekten für die Institutionalisierung des vereinten Europas. Siegfried arbeitet in seinem Beitrag heraus, wie Konsumstile und intellektuelle Debatten über Konsum in Europa zunächst primär von national-spezifischen strukturellen Bedingungsfaktoren und Traditionen bestimmt waren. Auf Druck von Verbraucherorganisationen, vor allem aber in Reaktion auf die von den konsumpolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten verursachten Beeinträchtigungen des Wettbewerbes im Gemeinsamen Markt entwickelte die EG dann in den frühen 1970er-Jahren eine eigene Verbraucher- bzw. Verbraucherschutzpolitik. Die daraus resultierende europaweite Kodifizierung und Vereinheitlichung des Verbraucherschutzes und die Entstehung des aktiven Verbrauchers als politisch handelndem Individuum habe Europäer und europäische Institutionen einander prinzipiell näher gebracht. Béla Tomka analysiert die Anpassung der wohlfahrtsstattlichen Strukturen in ausgewählten mittel- und osteuropäischen Ländern (Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei und Polen) an westeuropäische Wohlfahrtsstaatsmodelle nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Laut Tomka wurden dabei einzelne Elemente bestehender Modelle miteinander kombiniert; entstanden seien so, angesichts einer nur gering entwickelten post-kommunistischen Zivilgesellschaft, relativ volatile „mixed or hybrid welfare systems“ (S. 125). Die Rolle der EU bei diesen Aneignungsprozessen bzw. bei der Etablierung der Wohlfahrtssysteme in den mittel- und osteuropäischen Ländern erachtet Tomka als eher gering, wobei er kaum darauf eingeht, wie im einzelnen sich diese Aneignungsprozesse vollzogen haben. Dass die Mitgliedstaaten in ihrer sozialpolitischen Gestaltungsmacht durch EU-Recht gebunden sind, zeigt der Rechtswissenschaftler Bernd Schulte in seinem Beitrag über das Recht als Medium einer Europäischen Sozialpolitik. Zwar konstatiert er ähnlich wie Stråth, dass die wirtschaftspolitische Liberalisierung und Deregulierung auf europäischer Ebene nicht durch ein umfassendes sozialpolitisches Mandat für die EU oder die Errichtung einer Europäischen Sozialunion ergänzt worden sei. Gleichwohl werde die EU zunehmend gegenüber den Mitgliedstaaten unterstützend, ergänzend oder auch koordinierend auf sozialpolitischem Gebiet tätig. Im Europäischen koordinierenden Sozialrecht sieht Schulte den Kern eines Europäischen Sozialrechts, „ein rechtliches Instrument der sozialen Integration“ (S. 140). Aus diesem Grund sei die EU mittlerweile durchaus auch „ein Europäischer Sozialraum“ (S. 148).

Im letzten Abschnitt zu Repräsentationsformen einer europäischen Gesellschaft betont Rolf Petri die zunehmende Bedeutung der Regionen für den europäischen Integrationsprozess. Zwar hätten weder die supranationale europäische, noch die nationale Ebene ungeachtet des Subsidiaritätsprinzips nennenswerte Entscheidungskompetenzen auf die Regionen verlagert; gleichwohl hätten EU-Politiken und EU-Rhetorik, etwa die Idee eines „Europa der Regionen“, mobilisierend auf die Regionen gewirkt. Die EU habe Regionalisierungsprozesse und regionale Autonomie- bzw. Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa befördert, insbesondere in Staaten, in denen die regionale Ebene politisch bislang eher marginalisiert war. Auch die EU-Regionalpolitik seit dem Maastrichter Vertrag habe zu einem „revival of the region“ (S. 159) beigetragen und die Funktion der Region als historisch-kultureller Projektionsfläche und politischem Handlungsraum gestärkt. Der Band schließt mit einem Beitrag der Soziologin Anne-Marie Autissier zu den kulturellen Repräsentationen in Europa. Autissier hebt hervor, dass eine europäische Identität sich aus vielfältigsten, auch widersprüchlichen religiösen, kulturellen und sprachlichen Elementen zusammensetze. Angesichts dessen sollte auch die EU gar nicht erst nach „a unique and ahistorical cultural identity“ (S. 178) suchen und sich stattdessen außereuropäischen Einflüssen öffnen. Autissier sieht eine europäische Zivilgesellschaft im Entstehen und plädiert dafür, dass die EU auch international als kosmopolitischer Akteur auftritt.

Welche Auswirkungen hat nun also die europäische Integration auf Gesellschaft in Europa? Die Beiträge in dem Band bieten hier kein einheitliches Bild. Während Autoren wie Bo Stråth und Béla Tomka den Einfluss der europäischen Integration bzw. der EU auf soziale und gesellschaftliche Entwicklungen eher gering veranschlagen, gehen andere Autor/innen, am deutlichsten wohl Bernd Schulte und Anne-Marie Autissier, von einer zunehmenden Herausbildung eines sozialen Europas oder zumindest einer europäischen Zivilgesellschaft aus. In den meisten Beiträgen wird jedenfalls deutlich, dass europäische Integration und Gesellschaft in Europa wechselseitig aufeinander bezogen sind. Die Schwierigkeit eines eindeutigen Gesamtfazits erklärt sich auch aus der Vielfalt der Perspektiven und Fragestellungen in den einzelnen Beiträgen. Eines ist indes eindeutig: Der lesenswerte Band ist gleichermaßen Beleg wie Anknüpfungspunkt für eine intensivere Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Dimension der europäischen Integration.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa den Literaturbericht von Jost Dülffer / Anja Kruke, Von der Geschichte der europäischen Integration zur Gesellschaftsgeschichte Europas nach 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 3–24.

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