K. Clewing u.a. (Hrsg.): Geschichte Südosteuropas

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Titel
Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart


Herausgeber
Clewing, Konrad; Schmitt, Oliver Jens
Erschienen
Regensburg 2011: Pustet
Anzahl Seiten
912 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ekkehard Kraft, Dossenheim

Eine umfassende Darstellung der Geschichte Südosteuropas lässt sich heute kaum mehr von einem einzelnen Gelehrten bewältigen, konstatieren die Herausgeber in ihrer Einleitung. Vielleicht mag diese Feststellung überspitzt sein, in jedem Fall wäre die Abfassung eines Bandes wie des hier vorliegenden für einen einzelnen Historiker eine regelrechte Lebensaufgabe. Allein schon deshalb empfahl es sich, ein solches Buch als Gemeinschaftswerk zu realisieren. Die 14 Autoren unterschiedlichen Alters repräsentieren in ihren Forschungsschwerpunkten einen breiten Querschnitt der historischen Südosteuropa-Forschung. In insgesamt 18 Kapiteln breiten sie die Geschichte des südosteuropäischen Raums der letzten anderthalb Jahrtausende aus. Auf den Einbezug der Antike in die Darstellung wurde verzichtet, wie es dem derzeit üblichen zeitlichen Rahmen des Faches Südosteuropäische Geschichte entspricht; mit den Herausgebern hofft auch der Rezensent, dass diese Abgrenzung zwischen der Alten und der Südosteuropäischen Geschichte in nicht allzu ferner Zukunft obsolet wird.

Nach einer Einführung der beiden Herausgeber wendet sich Gottfried Schramm dem Zeitraum zwischen 500 und 900 zu, der von markanten Veränderungen insbesondere infolge der slawischen Einwanderung auf die Balkanhalbinsel geprägt war. Schramm greift dabei ausgiebig auf seine zahlreichen Vorarbeiten zurück, bei denen er sich vor allem namensphilologischer Methoden bedient, und präsentiert eine in vielen Teilen nicht unplausible Rekonstruktion jener Zeit. Gewiss haben etliche der Hypothesen Schramms den Einspruch von Kollegen hervorgerufen; vieles ist ungesichert und wird angesichts der dünnen Quellenlage auch ungesichert bleiben. Ist man sich dessen bewusst und liest man die Darstellung cum grano salis, dann tut man dies nicht nur mit Gewinn, sondern auch mit intellektuellem Vergnügen. Auf festerem Boden aufgrund einer dichteren Quellenbasis bewegt sich das folgende, von Günter Prinzing und Beatrix E. Romhányi verfasste Kapitel, das sich Byzanz und der Staatenwelt in Südosteuropa zuwendet. Oliver Jens Schmitt und Daniel Ursprung beschließen mit ihrer Darstellung des Spätmittelalters diese Epoche.

Die Frühe Neuzeit wird von Markus Koller und Peter Mario Kreuter aus osmanischer Perspektive gezeichnet. Harald Roth und Oliver Jens Schmitt richten den Fokus auf die christlich (vorwiegend venezianisch und habsburgisch) beherrschten Gebiete der Region. Das lange 19. Jahrhundert ist Gegenstand eines sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Kapitels aus der Feder von Holm Sundhaussen, während Konrad Clewing seinen Blick auf „Staatensystem und innerstaatliches Agieren im multiethnischen Raum“ zur gleichen Zeit richtet. Michael Portmann beschreibt die „Politische Geschichte Südosteuropas von 1918 bis 1945“, während sich Ulf Brunnbauer in zwei Kapiteln der politischen wie der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 widmet. Nicht ganz verständlich ist, weshalb im 20. Jahrhundert Ungarn, das bis zum 1. Weltkrieg in der Darstellung präsent ist, plötzlich aus der Region verschwindet. Konrad Clewing wendet sich in einem konzisen Kapitel den „Nationsbildungen und Nationalismus in Südosteuropa“ zu, bevor Wim van Meurs die politische Geschichte der Region seit dem Ende der kommunistischen Ära rekapituliert.

Abschließend skizzieren die beiden Herausgeber im Epilog die aus ihrer Sicht bis in die Gegenwart nachwirkenden Zeitschichten.

Zwischen den einzelnen Kapiteln eingefügte Quer- und Längsschnitte bieten zusätzliche und teilweise ungewohnte Perspektiven. Die Querschnitte nehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt (900, 1200, 1500, 1800, 2008) Bestandsaufnahme und Rückblick vor, während die Längsschnitte sich diachronen Themen zuwenden: Landschaftsformen und ihre Nutzbarkeit, historische Demographie, Kirchengeschichte, Zentrum und Peripherie, Verkehr und Handel, Volkskultur und religiöse Praxis, Rechtsgeschichte und Rechtskulturen, Haushaltstrukturen und Verwandtschaft, Zwangsmigrationen und ethnische Säuberungen sowie Erinnerungskulturen in der Moderne. Die Gewichtung der einzelnen Epochen ist von ungewohnter Ausgewogenheit, indem dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit fast die Hälfte des Buches eingeräumt wurde. Von der sonst bei Gesamtdarstellungen üblichen Neuzeitlastigkeit ist hier glücklicherweise nichts zu finden. Die Darstellung spiegelt weitgehend den aktuellen Stand der Forschung wider. Alle Autoren waren um eine allgemein verständliche und gut lesbare sprachliche Gestaltung bemüht, fern von jenem unsäglichen Jargon, der für wissenschaftlich gehalten wird. All dies macht den Band zu einem rundum gelungenen Wurf, der für geraume Zeit seinesgleichen suchen wird und dessen Lektüre in weiten Teilen erhebliches Vergnügen bereitet.

Kein Buch ohne Schwächen, dies gilt auch für dieses. Da sind zum einen sachliche Fehler, von denen hier einige auch im Hinblick auf zukünftige Auflagen angeführt seien. So ist die Tambura kein zweisaitiges Streichinstrument (S. 295), sondern ein Zupfinstrument mit meist mehr als zwei Saiten, die Çifteli dagegen ist nicht das albanische Pendant zur Tambura, sondern tatsächlich ein zweisaitiges Streichinstrument. Das Fanal zum Aufstand durch Alexandros Ypsilantis in der Moldau erfolgte nicht am 6. März (oder 21. März) 1821 (S. 474f.), sondern am 24. Februar 1821. Zeugenaussagen von Nichtmuslimen vor muslimischen Gerichten waren nicht wertlos (S. 507), wogen aber weniger als die Aussagen von Muslimen. Der Name des bulgarischen Ministerpräsidenten von 1935–1940 lautete Georgi Kjoseivanov, nicht Kjosivani (S. 570). Auf Seite 579 muss die Überschrift lauten „Einmarsch in Griechenland“ statt „Einmarsch in Bulgarien“. Stipe Mesić, der frühere kroatische Staatspräsident, gehörte weder während der Zeit seiner Kandidatur noch später der Sozialdemokratischen Partei (SDP) an (S. 756), sondern der Kroatischen Volkspartei (HNS). Einen Weltwährungsfonds (S. 792) gibt es nicht, gemeint dürfte hier wohl der Internationale Währungsfonds sein. Der Begriff der Oikonomia in der orthodoxen Theologie bedeutet nicht die flexible Anpassung der Kirche an die staatliche Macht unter Beibehaltung der theologischen Rechtgläubigkeit (ebd.), sondern die Möglichkeit, von strikten kirchenrechtlichen Regeln im Gegensatz zur sogenannten Akribeia abzuweichen – entfernt mit dem vergleichbar, was im römisch-katholischen Kirchenrecht als Dispens bezeichnet wird.

Auf eine inhaltliche Angleichung der einzelnen Kapitel wurde bewusst verzichtet, damit der Leser nicht nur eine verlässliche Darstellung grundlegenden Wissens, sondern auch einen Einblick in Interpretationsmöglichkeiten und ausgewählte Forschungskontroversen erhält. Dies war im Großen und Ganzen sicherlich keine falsche Entscheidung. Auf einen problematischen Befund sei indes an dieser Stelle hingewiesen. Der von Holm Sundhaussen verfasste Längsschnitt „Rechtsgeschichte und Rechtskulturen“ (S. 336ff.) widerspricht mehr oder weniger dem, was Günter Prinzing in seinem Abschnitt über Gesetzgebung und Rechtsprechung in Byzanz (S. 118ff.) schreibt. Sundhaussen spricht von einer Aushöhlung des römischen Rechts durch das byzantinische Kaiserrecht und vom Fehlschlag von Justinians Vorhaben, dem römischen Recht in seinem Imperium landesweite Geltung zu verschaffen. Dagegen weist Prinzing, ein ausgewiesener Kenner der byzantinischen Rechtsgeschichte, darauf hin, dass das römische Recht in Byzanz seit seiner Kodifizierung unter Justinian und unter Einschluss der ab dem 8. Jahrhundert einsetzenden griechischen Überarbeitungen bzw. Ergänzungen bis zum Ende des Reichs diesem den verbindlichen rechtlichen Rahmen lieferte.1

Dem Rezensenten seien einige Einwände erlaubt. Clewings Feststellung, die in den im 19. Jahrhundert entstandenen Staaten aufgebauten Verwaltungen hätten mit dem mithalten können, was die Administration in den südöstlichen Teilen der Habsburgermonarchie leistete und hätten die osmanische Verwaltung übertroffen (S. 530f., S. 542f.), sollte mit einem Fragezeichen versehen werden. Zum einen, weil diese Thematik bislang kaum untersucht wurde, zum anderen, weil derzeit das Beispiel Griechenland auf eklatante Weise zeigt, wie inkompetent und ineffizient die dortige Administration bis heute ist. Wenn davon die Rede ist (S. 211, auch S. 196), der Sieg mystizistischer Strömungen in der Orthodoxie im 14. Jahrhundert kennzeichne die Ostkirche bis in die Gegenwart, dann sei darauf verwiesen, dass auch die Orthodoxie nicht völlig frei geblieben ist von westlichen Einflüssen, sei es von Seiten der Scholastik, der Reformation oder der Aufklärung. Und ihre im 19. Jahrhundert entstandene akademische Theologie folgt letztlich dem westlichen Vorbild. Wenn Sundhaussen die Bauern als eine sozial marginalisierte Unterschicht der neuen Balkanstaaten bezeichnet (S. 422), dann trifft dies für Griechenland nicht zu. Von der politischen Klasse wurden diese – infolge des allgemeinen Männerwahlrechts zur wichtigen Wählergruppe geworden – zunehmend bevorzugt behandelt, ganz im Gegensatz zu den städtischen Unter- und Mittelschichten. Ob die unterschiedlichen Grade der Säkularisierung tatsächlich auf die kommunistische Herrschaft zurückgeführt werden können, wie Brunnbauer in der Gegenüberstellung von Bulgarien und Griechenland meint (S. 698), erscheint eher fraglich. Im gleichfalls kommunistischen Rumänien blieb die kirchliche Religiosität mindestens so stark wie in Griechenland, wenn nicht gar stärker. In diesem Zusammenhang dürften also weitere Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Es zeigt sich an solchen Beispielen, dass in der Geschichte Südosteuropas noch viele Fragen zu klären sind.

Anmerkung:
1 Ähnlich urteilt auch P. E. Pieler, Byzantinisches Recht, in: Lexikon des Mittelalters, Band 2, München-Zürich 1983, Sp. 1221–1227.