I. A. Burmeister: Preußens "neuerworbene Provinzen"

Titel
Annexion, politische Integration und regionale Nationsbildung. Preußens "neuerworbene Provinzen": Kurhessen in der Reichsgründungszeit 1866–1881


Autor(en)
Burmeister, Ingmar Arne
Reihe
Quellen und Forschungen zur Hessischen Geschichte 163
Anzahl Seiten
XV, 639 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Departement für Historische Wissenschaften, Universität Freiburg (Schweiz)

Die Annexionen der im preußisch-österreichischen Krieg von 1866 unterlegenen Fürstentümer Kurhessen, Hannover, Nassau und der freien Reichsstadt Frankfurt am Main werden üblicherweise in den Zusammenhang der Reichsgründung von 1871 gestellt. Dies hat seine Berechtigung, weil sich darin preußische, aber auch nationale Integrationsvorgänge zwischen West und Ost und zwischen Nord und Süd verdichteten. Die Annexionen von 1866 arbeiteten gewissermaßen der nationalen Integration nach 1871 vor. Außerdem wurde dadurch die Stellung Preußens im Norddeutschen Bund aufgewertet, was wiederum ein Kennzeichen der Reichseinigung von 1871 war. Hinzu kommt außerdem noch, dass gerade aus diesen Gebieten wichtige spätere Protagonisten der parlamentarischen Reichsgesetzgebung kamen. Für die Nationalliberalen Rudolf von Bennigsen aus Hannover, Friedrich Oetker aus Kassel oder Karl Braun aus Wiesbaden war die Reichsgründung keine Drohung, sondern ein Versprechen, aus kleinstaatlichen und rückwärts gewandten Verhältnissen herauszutreten.

Im konservativen Spektrum bedeuteten die Annexionen von 1866 hingegen einen kaum zu tolerierenden Bruch mit überkommenen Legitimitäts- und Rechtsvorstellungen. In der Absetzung von drei Fürstenhäusern, darunter ein König, erblickten Konservative vor Ort und in Preußen Anzeichen einer kommenden Revolution beziehungsweise eines anti-monarchischen Umsturzes. Aber auch auf lokaler Ebene gab es bei den Betroffenen Widerstände gegen die Einverleibungen in den preußischen Staatsverband. Das artikulierten die welfische Opposition in Hannover genauso wie der – freilich schwächere – althessische Protest des Pfarrers Wilhelm Immanuel Vilmar aus Melsungen mit seinem religiös motivierten Widerstand gegen die vorauszusehende Aufnahme in die altpreußische Union von 1817 und ihren von Kurhessen deutlich abweichenden Bekenntnisstand.

Die Vorgänge in Kurhessen, Nassau, im Königreich Hannover und in der freien Reichsstadt Frankfurt am Main sind bisher in erster Linie unter dem Begriff der Annexion diskutiert worden. Die Heidelberger Dissertation von Ingmar Arne Burmeister erkennt in den Ereignissen zwischen 1866 und 1881 nicht nur eine Annexion, sondern vielmehr eine politische Integration und eine regionale Nationsbildung, das heißt eine Nationalstaatsbildung auf der lokalen und regionalen Ebene. Methodisch verspricht der Autor in seiner Einleitung die politische Transformation Kurhessens nicht nur als machtpolitische Beziehung zwischen Berlin und Kurhessen, sondern auch als Integration in einen nationalstaatlichen Kontext auf mehreren Ebenen zu behandeln. Integration bezieht sich diesem Anspruch nach also auf die Gesellschaft. Sie würde im Unterschied zur Annexion die Integration der kurhessischen Gesellschaft in die preußische und später die reichsdeutsche Gesellschaft meinen. Bereiche wie Schule und Wirtschaft oder Verkehr und Kommunikation müssten in eine solche Untersuchung einbezogen werden.

Tatsächlich jedoch wird die gesellschaftliche Integration wie auch die regionale Nationsbildung in den Quellen und in der Darstellung in erster Linie auf der Ebene der Ministerien und vor allem des preußischen Landtages abgehandelt. Gesellschaftliche Integration wird so auf staatliche Integration hin verkürzt. Der Autor gliedert seinen Stoff chronologisch in zeitlich wie auch dem Umfang nach sehr ungleiche Blöcke. Er beginnt mit einem Kapitel über das Ende des kurhessischen Staates. Das dritte Kapitel gilt dem Übergangsjahr 1866/67, das vierte Kapitel dem Norddeutschen Bund bis 1871. Erst das fünfte Kapitel behandelt dann eine ganze Dekade von 1871 bis 1881. Die einzelnen Kapitel sind in sich nach den Themenblöcken „Organisation und Administration“, „Repräsentativkörperschaften“, „Politische Entwicklung und Konflikte“ sowie „Politische Kommunikation und Inszenierung“ gleich strukturiert.

Seine Quellen findet der Autor in erster Linie in den ministeriellen Überlieferungen auf der preußischen Seite (Geheimes Staatsarchiv Berlin) und auf der kurhessischen Seite (Staatsarchiv Marburg). Seine Akteure kommen aus der parlamentarischen Arena und der ministeriellen Bürokratie. Statt der Integration untersucht Burmeister daher die gesetzgebende Intention zur Integration. Stellenweise geht er gar von der Identität dieser legislativen Intention und ihrer Wirkung aus. Um die integrative Wirkung der Gesetzgebungsmaschinerie zu messen, hätte er andere Quellen auf lokaler Ebene heranziehen müssen.

Preußens Politik gegenüber den 1866 in Besitz genommenen Staaten war aufs Ganze gesehen „opportunistisch, an sich bietenden Möglichkeiten und machtstaatlichen Zielen orientiert, prinzipienlos und frei von Idealismen“ (S. 566), so die Schlussthese dieser Arbeit. Der Autor kann adhoc-Entscheidungen und fehlende Koordination zwischen verschiedenen Ministerien nachweisen. Dadurch entstand ein Nebeneinander von bürokratischen Gestaltungsabsichten. Wo hätte es freilich eine prinzipiengeleitete Integrationspolitik aus einem Guss gegeben? Dass die Berliner Ministerien binnen kürzester Zeit vier Staaten integrierten, ohne dass es zur Unterbrechung von Gehaltszahlungen, Befehlsketten und Rechtstaatlichkeit kam, spricht nicht unbedingt für fehlende Ordnung. Auch dass die Ansprechpartner vor Ort kleindeutsche Eliten waren, überrascht nicht wirklich, zumal diese bürgerlichen Schichten am meisten unter der industriefeindlichen Politik des Kurfürsten zu leiden hatten. „Die traditionellen Legitimationsstrategien des monarchischen Staates waren bei großen Teilen der politisch aktiven Bevölkerung bereits soweit ausgehöhlt, dass bei aller Verbundenheit mit dem eigenen Herrscherhaus Anklänge an Gottesgnadentum und altständische Gesellschaftsordnung Befremden erweckten.“ (S. 570). Nach jahrzehntelangem Verfassungsstreit fand der Kasseler Kurfürst kaum eine Hand, die sich für ihn rührte. Daran hatte auch sein Innenminister Ludwig Hassenpflug, im Volksmund „Hessenfluch“ genannt, mitgewirkt.

Diese Studie enthält Juwelen, wie die Frage der übergreifenden Regelung des Beerensammelns und der damit einhergehenden Eigentumsrechte. Was auf den ersten Blick absonderlich anmutet, enthielt eine immense lokale Bedeutung. Es übersetzte Fragen der nationalen Rechtseinheit und Eigentumsordnung auf die lokale Ebene. Das Beerensammeln entstammte einer vorkapitalistischen Welt, die geteilte Nutzungsrechte und Eigentumsvorstellungen kannte. Der Wald gehörte dem Volk, war gerade 1848 im Blick auf das Holzsammeln immer wieder zu hören gewesen. Wem aber gehörten die Beeren, Pilze und Kräuter im Wald? Wie wirkte sich an diesem anschaulichen Beispiel der nationale Gedanke der Rechtsgleichheit und der Rechtseinheit aus? Agrarische Lebenswelt, Eigentumsbegriffe, Konservativismus als Traditionswahrung und Konservativismus als absoluter Eigentumsschutz der (zumeist ostelbischen) Großgrundbesitzer standen hier gegeneinander. Auf lediglich vier Seiten (433–437) handelt der Autor diese Thematik ab, die schließlich zu einer faktischen Anerkennung der Rechtsverschiedenheit zwischen den östlichen und westlichen Gebieten führte. Auch wenn dieses Buch viel zu lang geraten ist, ist es in anderer Hinsicht doch dürftig knapp gehalten.

Sein immenser Quellenfleiß verführt den Autor zu ermüdenden Wiederholungen, wenn er etwa immer wieder die Differenzen in der Berliner Ministerialbürokratie herausstreicht. Seine begrifflichen Vorentscheidungen sind dabei für zwei Blindstellen verantwortlich. Obwohl das Buch die Zeit zwischen 1866 und 1881 auf sage und schreibe 639 Seiten beschreibt, fehlen erhellende Kapitel und Aussagen zur integrativen Wirkung von Kulturkampf und Sozialistengesetz. Dabei fanden sich mit der Bischofsstadt Fulda und dem frühen SPD-Zentrum Kassel zwei Zentren des Kulturkampfes und der Sozialistenverfolgung in Kurhessen. Kassel war ein frühes Zentrum der SPD, wo gerade in der hier behandelten Zeit Weichen gestellt wurden. In Fulda wurde der Kulturkampf mit aller Härte geführt. Das erste Strafverfahren nach den Maigesetzen richtete sich gegen den Fuldaer Bischof Kött. Nach dessen Tod 1873 blieb das Bistum bis 1881 vakant. In Marburg tobte zu Beginn der 1880er Jahre der politische Antisemitismus in Gestalt des Bibliothekars Otto Böckel. Sowohl Bischof Kött als auch der Antisemit Böckel fehlen völlig in diesem Buch, das aus dem Blickwinkel des preußischen Abgeordnetenhauses geschrieben ist. Nirgends wird anhand Kurhessens, wo sich alle wichtigen Konflikte der Reichsgründungszeit fanden, systemisch über Integration und Konflikt nachgedacht.

Das führt zur größten Schwäche dieses Buches. Es verfügt über keine komplexe Theorie der Integration, die Integration differenzierter zu denken vermag als in den Modi der Zustimmung und Ablehnung. Integration ist hier die Abwesenheit von Konflikt. Dass Konflikt selbst integrierend wirken könnte, bleibt auf über 600 Seiten außerhalb des Blickwinkels.1 Dabei vermittelte das am 12. Februar 1867 erstmals ausgeübte allgemeine Männerwahlrecht einen Zusammenhang zwischen entlegenen Orten und begünstigte Parteigründungen und Politisierungen, die quer zu den Regionen lagen, also transregional und national integrativ waren. Der Kulturkampf führte dazu, dass Fuldaer Katholiken einen westfälischen katholischen Adligen in den Reichstag wählten (Clemens Heidenreich Droste zu Vischering, im Buch unerwähnt), der kein einziges Mal den Wahlkreis sieben besucht hatte, dafür aber der Vorsitzende des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken war. Das Sozialistengesetz verbündete die Kasseler Sozialdemokraten in kürzester Zeit mit anderen Sozialisten in Hannover und Magdeburg. Angesichts seiner Quellenflut und seines Umfanges ist dieses Buch eine vertane Chance. Ins Bild passen zahlreiche formale Mängel bis hin zu Überschriften (S. 258).

Anmerkung:
1 Vgl. Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt?, in: Jürgen Friedrichs / Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Soziale Integration. Sonderheft 39, Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1999, S. 132–143.