W. Damberg u.a. (Hrsg.): Mutter Kirche – Vater Staat?

Titel
Mutter Kirche – Vater Staat?. Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945


Herausgeber
Damberg, Wilhelm; Frings, Bernhard; Jähnichen, Traugott; Kaminsky, Uwe
Erschienen
Münster 2010: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
VII, 364 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Matthias Blum, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin

Der anzuzeigende Sammelband präsentiert die Ergebnisse einer Tagung, die 2009 im Rahmen des Projektes zur Erforschung der konfessionellen Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland an der Ruhr-Universität Bochum veranstaltet wurde. Neben dem Vorwort und einer Einführung finden sich drei Kapitel, in denen sich die Autor/inn/en mit den allgemeinen Aspekten der Heimerziehung (I.), den sozial- und religionspädagogischen Diskursen über die Heimerziehung in den 1950er- und 1960er-Jahren (II.) sowie anhand ausgewählter Beispiele mit den Regionen, Strukturen, Heimen und Erfahrungen ihrer Bewohner/innen und Erzieher/innen (III.) befassen, wobei ebenfalls die Situation jugendlicher SBZ-Flüchtlinge in westdeutschen Heimen (Harald Jenner) und die Säuglingsheime (Carlo Burschel) berücksichtigt werden. Während Uwe Kaminsky in seiner Einführung das Forschungsfeld und die thematisch einschlägige Literatur aufzeigt (S. 5-26) und Bernhard Frings eine „Annäherung an eine differenzierte Heimstatistik“ bietet (S. 28-46), verschaffen die Beiträge von Manfred Kappeler „Die Heimreformen der siebziger Jahre“ (S. 79-88) und Carola Kuhlmann „Erfahrungsrekonstruktionen Erzogener und Erziehender in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“ (S. 337-353) einen prägnanten Einstieg in das Themenfeld. Bereits mit ihren Beiträgen wird deutlich, dass die Erlebnisse ehemaliger Heimbewohner/innen keineswegs unter Hinweis auf die damals übliche Erziehungspraxis bagatellisiert werden sollten.

Manfred Kappeler schildert überaus eindrücklich vor dem Hintergrund seiner eigenen Berufslaufbahn – unter anderem als Wohlfahrtspfleger, Sozialpädagoge in der Heimerziehung, 1968 als Mitinitiator der „Berliner Heimkampagne“ sowie als Mitautor des Buches „Gefesselte Jugend – Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“1 – die potentiellen „Wege ins Heim“, wobei er herausstellt, dass „die Einsicht in den Menschenrechtsskandal Heimerziehung“ lange Zeit „durch erziehungsideologische Barrieren“ blockiert gewesen sei (S. 83). Dementsprechend handelte es sich bei den einstigen Reformen der Kinder- und Jugendhilfe nicht um die bloße Auflösung von Reformstaus, „sondern um einen tiefgehenden und umfassenden Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendhilfe, von der Brauchbarmachung beziehungsweise Ausgrenzung so genannter Unangepasster als Objekte der Fürsorge hin zu einer strikten Orientierung an der Menschenwürde und den Menschenrechten von Kindern und Jugendlichen“ (S. 86). Carola Kuhlmann bilanziert, dass der früheren Heimerziehung zwar die Integration Heranwachsender in die Gesellschaft gelungen sei, nicht jedoch die Förderung und Unterstützung des Selbstwertes und der Persönlichkeit. Liebevolle Beziehungen zu Betreuer/innen seien gegenüber den systematischen Demütigungen und traumatischen Erfahrungen eher die Ausnahme gewesen.

Mit dem Befund Kuhlmanns stellt sich die Frage nach der Methode der Rekonstruktion dieser Erfahrungen sowie der Geschichte der Heimerziehung. Als Quelle der Erforschung erzieherischer Wirkungen wählt sie narrative Interviews, auch um die Biographien ehemaliger Heimbewohner/innen rekonstruieren zu können. Diese Art der biographischen Rekonstruktion ermöglicht es – und das belegt nicht nur der Kuhlmann-Beitrag –, Aufklärung vor allen Dingen über die Art und Weise der psychischen Misshandlungen zu gewinnen, die nicht nur aktive Verhaltensweisen, sondern auch Unterlassungen bzw. Vorenthaltungen der für eine gesunde emotionale Entwicklung erforderlichen Beziehungserfahrungen umfassten. Dass die mittels Interviews erhobenen subjektiven Deutungen über die üblichen Schriftquellen hinaus die Geschichte der Heimerziehung erschließen können, zeigt sich ebenfalls in dem Beitrag von Ulrike Winkler über die Arbeit der Sarepta-Schwestern von Bethel in der Fürsorgeerziehung (S. 249-260). Winkler zeigt anhand von Interviews mit Sarepta-Schwestern auf, wie divergierend die Überzeugungen und pädagogischen Konzepte der erziehungsverantwortlichen Diakonissen in Abhängigkeit von der Generationenzugehörigkeit, dem persönlichen Erlebnis- und Erfahrungshintergrund und nicht zuletzt von einer einschlägigen pädagogischen Qualifikation waren. Ob sich ebenfalls die Gehorsamstraditionen der Glaubensgemeinschaften disziplinierend auf die Heimerziehung auswirkten, bleibt jedoch insbesondere vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Erfahrungen und pädagogischen Professionalität der Erziehenden weiterhin zu diskutieren. Dass bestimmte Formen der Selbstdisziplinierung, eine aszetische Haltung der Distanz sowie sexuelle Unreife und mangelnde Fähigkeit zur Intimität bei Priestern und Ordensleuten auch eine menschenunwürdige und gewalttätige Erziehung evozieren konnten2, ist allerdings allein aus systemischer Perspektive anzunehmen.

Für die Geschichte der konfessionellen Heimerziehung, um die es dem Untertitel des Sammelbandes nach geht, stellt sich damit die grundsätzliche Frage, ob und wie das erzieherische Handeln in den entsprechenden Heimen theologisch und gegebenenfalls auch pädagogisch legitimiert und begleitet wurde. Dass pädagogische Überlegungen dabei – im positiven wie im negativen Sinn – auch stark durch die jeweilige Persönlichkeit des Anstaltsleiters sowie des Hausleiters bestimmt wurden, verdeutlichen die Beiträge von Hans-Walter Schmuhl über „Die doppelte Buchführung in Freistatt“ (S. 211-228) und von Bernhard Frings über „Die Johannesburg im Emsland“ (S. 229-247). Während Frings auf die innovative Einführung des „Heimparlaments“ als „Form gelenkter Selbstverwaltung“ durch den damaligen Leiter der Johannesburg Pater Carl Güldenberg (1952 – 1960) verweist, macht Schmuhl auf die Schlüsselposition der Hausväter, der so genannten „Moorkönige“ in Freistatt, einer Zweiganstalt der von Bodelschwinghschen Anstalten in Wietingsmoor bei Diepholz, aufmerksam: Als absolute Autoritätspersonen hätten diese in ihren Häusern eine unumschränkte Herrschaft im Rahmen eines militärisch-männerbündischen Milieus ausgeübt. Der Beitrag über Freistatt zeigt zudem, dass die aufsichtführenden Behörden keinerlei Interesse an einer potentiell konfliktträchtigen Auseinandersetzung über körperliche Züchtigungen und Arbeitsleistungen beim Torfstechen hatten, solange die Fürsorgeeinrichtungen „reibungslos“ funktionierten. Ähnliches berichten Tina Theobald und Melanie Mangold in ihrem Beitrag über „Die Heime des Diakonieverbundes Schweicheln e. V.“ (S. 279-291). Sie stellen dabei heraus, dass die sich beschwerenden Zöglinge als undankbar, verlogen und als im eigentlichen Sinne verantwortlich an den entsprechenden Vorfällen, die Anlass zu einer Beschwerde gegeben hatten, dargestellt wurden.

Aufschlussreiche Einblicke in die Möglichkeiten der Heimaufsicht und deren Kontrollmechanismen in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren bieten die Beiträge von Harry Hubert „Allgemeine Aspekte der Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik – Das Jugendamt als Interventionsinstanz am Beispiel Frankfurt am Main“ (S. 47-61) und Matthias Frölich „Das Landesjugendamt in Westfalen. Kooperation und Konflikt zwischen Behörde und konfessionellen Trägern der Jugendhilfe“ (S. 174-189), wobei letzterer die Konflikte zwischen den Heimen in konfessioneller Trägerschaft und dem westfälischen Landesjugendamt in Hinblick auf die pädagogische Praxis, die Professionalisierung der Erzieherschaft und die körperliche Züchtigung darlegt.

Erhellend zeigt Traugott Jähnichen in seinem Beitrag über „Transformationen theologischer und religionspädagogischer Konzeptionen evangelischer Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren“ (S. 131-146) auf, wie das genuin theologische Verständnis eines freiwilligen Gehorsams gegenüber Gott in den 1950er-Jahren ein entsprechend unhinterfragtes Autoritätsverständnis gegenüber Leitungspersonen in der Erziehung bedingte, während Zucht und Strafe als Merkmale christlicher Erziehung gegenüber einer „weltanschaulichen Pädagogik“ ausgewiesen wurden. Dass sich die katholische Kinder- und Jugendfürsorge schon vor 1969 in zentralen Punkten auf gesellschaftliche Transformationsprozesse eingelassen habe, stellt Andreas Henkelmann in seinem Beitrag über „Katholische Diskurse zur religiösen Heimerziehung zwischen Kriegsende und Heimrevolten (1945 – 1969)“ heraus (S. 147-171), indem er die entsprechenden Jahrgänge der Zeitschrift „Jugendwohl. Katholische Zeitschrift für Kinder- und Jugendfürsorge“ auswertet. Wenn Henkelmann konstatiert, dass sich zwar eine ausschließlich negative Anthropologie nicht nachweisen lasse, allerdings Züge davon durchaus erkennbar seien (S. 171), bleibt damit in historischer und gegenwärtiger Perspektive für die konfessioneller Heimerziehung weiterhin die Frage nach dem ihr zugrunde liegenden christlichen Menschenbild, welches zunächst durch die Annahme der erbsündlichen Verfasstheit des Menschen bestimmt ist, und seinem tatsächlichen Einfluss auf die Erziehung zu stellen.

Insgesamt leistet der multiperspektivisch angelegte Sammelband einen wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion der Geschichte und Praxis der konfessionellen Heimerziehung in der Bundesrepublik seit 1945. Weitere Forschungen in diesem keineswegs abgeschlossenen Feld erscheinen nach der Lektüre der Einzelstudien umso dringlicher.

Anmerkungen:
1 Rose Alheim u.a., Gefesselte Jugend – Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, Frankfurt am Main 1971.
2 Vgl. die Rezension von Joachim Schmiedl zu dem Band von Peter Wensierski, „Schläge im Namen des Herrn“. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2006, in: Ordenskorrespondenz. Zeitschrift für Fragen des Ordenslebens 47 (2006), S. 238-240.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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