R. Hering: "Aber ich brauche die Gebote..."

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Titel
"Aber ich brauche die Gebote...". Helmut Schmidt, die Kirchen und die Religion


Autor(en)
Hering, Rainer
Reihe
Studien der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung 8/9
Erschienen
Bremen 2012: Edition Temmen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Lepp, Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte, München

Gibt es über Helmut Schmidt wirklich noch Neues zu schreiben? Denn inzwischen liegen mehrere Biografien über ihn vor, deren Zahl vor allem anlässlich des 90. Geburtstags im Jahr 2008 noch einmal angestiegen war. Die Reihe „Studien der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung“ geht jedoch davon aus, dass es noch immer Einzelaspekte im Leben und Wirken des Politikers gibt, die bislang nicht ausreichend beleuchtet wurden.1 Da Helmut Schmidt dem Kuratorium der Stiftung angehört, muss man deren Publikationen zu einer Erinnerungspolitik in eigener Sache zählen, auch wenn es keine inhaltlichen Einflussnahmen auf die jeweiligen Autoren gibt.

„Helmut Schmidt, die Kirchen und die Religion“ ist ein solches Thema, das nach Ansicht des Autors, des Hamburger Historikers Rainer Hering, bislang zu kurz gekommen ist. Nun wird dieser Aspekt zwar in Hartmut Soells zweibändiger Biografie durchaus berücksichtigt2, allerdings nicht in der nun vorliegenden Intensität. Akribisch hat Hering umfangreiches Quellenmaterial in kirchlichen und staatlichen Archiven sowie im Privatarchiv Helmut Schmidts gesichtet, viele Zeitzeugengespräche geführt und alle greifbaren audiovisuellen und gedruckten Quellen zum Thema ausgewertet. Das Verhältnis des Menschen und Politikers Helmut Schmidt zu den christlichen Großkirchen, zum christlichen Glauben und zu den Religionen stellt Hering detailliert dar. Ausführlich werden Redebeiträge und Texte Schmidts zitiert, so dass der Leser mit dessen Gedanken und Argumentationslinien gut vertraut wird. Hering geht chronologisch vor und leuchtet das Thema dabei in alle Richtungen aus.

Grundsätzlich unterscheidet der Autor zwischen der persönlichen Beziehung Schmidts zum christlichen Glauben und zu den Kirchen sowie dem Verhältnis des Politikers zu den Kirchen. Bei der Privatperson sieht Hering eine Entwicklung, die zunehmend vom Christentum wegführte, auch wenn Schmidt die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche bis heute nicht aufgegeben hat. Der Hamburger war in einer distanzierten lutherischen Kirchlichkeit aufgewachsen; in der Schulzeit, die er an der reformorientierten Lichtwarkschule verbrachte, lernte er Religion als Teil der „Kulturkunde“ kennen. Hier vermutet Hering den Grundstein für Schmidts Wahrnehmung von Religion als Wertesystem. Christliche Unterweisung erfuhr er im Konfirmationsunterricht. Ästhetisch angesprochen fühlte sich Schmidt schon früh von der kirchlichen Architektur sowie der Kirchenmusik, hier vor allem von den Werken Johann Sebastian Bachs. In Schmidts persönlichem Glauben spielten zentrale Elemente der christlichen Lehre – wie die Gottessohnschaft Jesu, die Sündenvergebung durch Tod und Auferstehung Christi oder ein Leben nach dem Tod – nie eine wirkliche Rolle. Der wichtigste biblische Text war für ihn das Vaterunser. Christsein bedeutete für Schmidt vor allem, so Herings Ergebnis, die gesellschaftliche Prägekraft der Kirchen und der Normen der christlichen Ethik zu bejahen. So motivierte das Ehepaar Schmidt seine kirchliche Trauung im Jahr 1942 damit, dass nach der zu erwartenden Niederlage des Deutschen Reichs den Kirchen die wichtige Aufgabe zukomme, wieder ethische Werte zu vermitteln.

Der größte Teil des Buches ist dem Verhältnis des Politikers Schmidt zu den beiden christlichen Großkirchen gewidmet, das sich – anders als der persönliche Glaube – leichter aus den Quellen ermitteln lässt. Für den Politiker waren die Kirchen als Vermittler von Werten gesellschaftlich wichtige Faktoren. Die mit dem Godesberger Programm von 1959 einsetzende Öffnung der SPD gegenüber den Kirchen hat Schmidt nachdrücklich fortgesetzt, vor allem gegenüber dem Katholizismus. Seit den 1960er-Jahren trat er im kirchlichen Kontext als Redner auf und nahm dort „bewusst als Christ“3 zu verschiedenen gesellschaftlichen Fragen Stellung. Obgleich schon viel beschäftigter Politiker, wirkte er von 1965 bis 1970 als Synodaler der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate (so die damalige Bezeichnung der dortigen Landeskirche). Im Jahr 1976 publizierte er als Bundeskanzler seine Reden und Aufsätze in dem Buch „Als Christ in der politischen Entscheidung“, was Hering als „nicht nur wahltaktisch motiviert“ deutet (S. 223). Die Kirchen sollten nach Schmidts Auffassung Volkskirchen sein und bleiben; sie sollten individuelle Seelsorge betreiben und in der Gesellschaft ethische Werte verbreiten. Staat und Kirche, Politik und Religion waren nach Schmidts Auffassung klar voneinander zu trennen. In seinem eigenen Handeln war er hier jedoch nicht immer konsequent, wie Hering an mehreren Stellen bemerkt.

Der wissenschaftlichen Theologie stand Schmidt kritisch gegenüber; geradezu heftig lehnte er jegliche politische Theologie ab. So äußerte er sich über die Theologie der Revolution mehrfach abfällig. Intensiver und konstruktiver setzte sich Schmidt mit der katholischen Soziallehre auseinander. Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre versuchte er sogar, den Papst zu einer Sozialenzyklika für Lateinamerika zu bewegen. Seine Bemühungen um eine Zulassung von Verhütungsmitteln zur Eindämmung der Bevölkerungsexplosion in der „Dritten Welt“ fanden beim Papst jedoch keine positive Resonanz. In der so genannten Nachrüstungsdebatte stieß Schmidts Haltung innerhalb des Protestantismus auf viel Kritik, die auf dem Kirchentag 1981 in Hamburg kulminierte; Unterstützung erhielt er hingegen vom Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Eduard Lohse. Auf dem Boden der Bergpredigt könne man keine internationale Politik machen, so das Credo des Verantwortungsethikers Schmidt. In deutschlandpolitischer Hinsicht spielten die Kirchen für ihn dagegen eine wichtige Rolle. Hier nutzte Schmidt kirchliche Kanäle zur Information über die Lage vor Ort und zur Übermittlung politischer Signale. Auch nach dem Ende seiner Kanzlerschaft reiste er zu Vorträgen und Gesprächen im kirchlichen Kontext in die DDR.

Wie Hering zeigt, stand Schmidt mit hohen Repräsentanten der evangelischen und der katholischen Kirche im Dialog. Einigen von ihnen war er auch freundschaftlich verbunden – darunter der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning, der konservative evangelisch-lutherische Landesbischof Otto Wölber (Hamburg) und der Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (Bereich Ost) Manfred Stolpe. Seit Ende der 1980er-Jahre interessiert sich Schmidt verstärkt für andere Weltreligionen. Den globalen Problemen müsse mit einer alle großen Religionen umfassenden einheitlichen Ethik begegnet werden, so seine Überzeugung, die sich im Engagement für das InterAction Council4 sowie für das Weltethos-Projekt5 niederschlägt.

Rainer Hering ist der Ansicht, dass die Beschäftigung mit Religionen und Kirchen für Schmidt und sein politisches Wirken eine „große Bedeutung“ hatte (S. 222). Auch wenn man diese Bedeutung nicht ganz so hoch einschätzt, erfährt man aus dem vorliegenden Buch doch einige neue Details über den Menschen und Politiker Helmut Schmidt.

Anmerkungen:
1 Für die vorherigen Bände der Reihe siehe <http://edition-temmen.de/Schriftenreihen/Studien-der-Helmut-und-Loki-Schmidt-Stiftung/> (30.7.2012).
2 Hartmut Soell, Helmut Schmidt. Vernunft und Leidenschaft. 1918–1969, München 2003 (rezensiert von Fred Oldenburg: Rezension zu: Soell, Hartmut: Helmut Schmidt. Vernunft und Leidenschaft. 1918-1969. München 2003, in: H-Soz-u-Kult, 23.04.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-054> [30.07.2012]); ders., Helmut Schmidt. Macht und Verantwortung. 1969 bis heute, München 2008 (rezensiert von Daniela Münkel: Rezension zu: Soell, Hartmut: Helmut Schmidt. Macht und Verantwortung. 1969 bis heute. München 2008, in: H-Soz-u-Kult, 09.11.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-124> [30.07.2012]).
3 Helmut Schmidt, Als Christ in der politischen Entscheidung, Gütersloh 1976, 2., erweiterte Aufl. 1977, S. 11.
4 Eine internationale Vereinigung ehemals führender Politiker/innen, siehe <http://www.interactioncouncil.org/> (30.7.2012).
5 <http://www.weltethos.org> (30.7.2012).

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