E. Capello: City at the Center of the World

Cover
Titel
City at the Center of the World. Space, History, and Modernity in Quito


Autor(en)
Capello, Ernesto
Reihe
Pitt Latin American Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 23,11
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Fischer, Universität Erfurt

Die vorliegende historische, stark kultur- und literaturwissenschaftlich geprägte Arbeit von Ernesto Capello (Macalester College, Saint Paul, USA) geht den räumlich-zeitlichen Veränderungen und Kontinuitäten während der Modernisierungsphasen zwischen 1890 und 1940 in Quito nach. Der Blick auf die Hauptstadt Ecuadors scheint in diesem Zeitraum besonders interessant, da eine offensichtlich vergangenheitsaffine Stadt (UNESCO-Weltkulturerbe seit 1978) auf die enormen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse um die Jahrhundertwende reagieren musste. Anhand von Veränderungen des Geschichtsdiskurses und Verschiebungen der Macht- und Deutungsstrukturen auf regionaler, nationaler und globaler Ebene untersucht Capello, inwieweit sich das moderne Quito über chronotopische Narrative selbst imaginierte und kreierte.

Capellos Herangehensweise dient der Herausarbeitung und Gruppierung von Spuren, die sich über längere Zeitperioden verfolgen lassen. Er bedient sich dafür eines Konzeptes, das auf den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895–1975) zurückgeht: den Chronotopos. „By tracing each chronotope’s origins and reflecting upon their contemporary resonance, the book reveals how plasticity of history and memory has (re)shaped the spatial and cultural landscape of the city to the present day.“ (S. xvii) Für Capello muss ein Chronotopos eine gewisse kulturelle Langlebigkeit besitzen und als Narrativ mit den räumlichen Veränderungen während der Moderne in Verbindung gebracht werden. Weitere theoretische Konzepte werden sparsam, aber wohl platziert eingebracht, zum Beispiel zur Globalität der Moderne (Shmuel N. Eisenstadt, Luis Roninger), zur Problematik der Gleichzeitigkeit (Johannes Fabian), zur Dekonstruktion von Kartenmaterial in der critical geography (J.B. Harley, Dennis Wood, John Pickles) oder zur architektonischen Verkörperung von Geschichte (Donald J. Olsen, M. Christine Boyer). Allerdings sind auch einige Kritikpunkte anzumerken: So bedient sich Capello offensichtlich diskursanalytischer Methoden, benennt jedoch an keiner Stelle seinen Zugang. Ähnlich verfährt er mit dem Konzept der Hybridität, welches nie konkret eingegrenzt wird. Irritierend scheint auch, dass die Beschäftigung mit dem RaumZeit-Konstrukt an der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion fast komplett vorbeigeht.1

Die Stärke der Arbeit liegt neben der narrativen Konzeption des Chronotopos in der historisch-historiographischen Behandlung des Themas. Capello erweitert zum einen die historiographischen Debatten, setzt sich zum anderen aber auch von der traditionellen Historiographie ab. Auf der einen Seite reichert er Kim Clarks These der stagnierenden Stadt Quito um das Selbstbild des historischen Zentrums an. Außerdem stellt Capello dar, dass die Identität der Bevölkerung Quitos vielschichtig und fluide war und somit nicht ausschließlich von der Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Ethnie abhing, wie Manuel Espinosa Apolo analysiert. Auf der anderen Seite argumentiert Capello dagegen, dass sich eine moderne Klassenidentität und eine homogene Elite herausgebildet habe, wie sie Lucas Achig beschrieben hat. Obschon Capello mit diesen Annahmen Eduardo Kingman nahe steht, teilt er auch dessen These nicht, dass Quitos Modernisierung von traditionellen Eliten vorangetrieben wurde.2 Capello stützt sich dabei auf einen breiten Quellenkorpus: Kartenmaterial, Gerichtsakten, literarische und geschichtswissenschaftliche Werke, Petitionen, Protokolle, Fotographien, Zeitungsartikel und das erst kürzlich für die Forschung zugänglich gemachte Archivmaterial der Architektenfamilie Durini.

Inhaltlich behandelt Capello sechs verschiedene Chronotopoi in sechs Kapiteln. Das erste Kapitel bietet einen groben Überblick über die nationale und regionale Entwicklung des andinen Verwaltungszentrums Quito in seiner Rivalität zum Küsten- und Handelszentrum Guayaquil. Dabei wird Quito als hybrider Raum dargestellt, welcher sich zwischen einer regional-globalen nostalgischen Imagination einerseits und der räumlichen Anbindung an den fortschrittlich-modernen Küstenraum andererseits entfaltet habe. Nationale Diskurse überlagerten teilweise diese Entwicklung, als am Ende des 19. Jahrhunderts erhebliche Modernisierungs- und Säkularisierungsschübe das Land erfassten. Dennoch haben diese Chronotopoi des nostalgischen Regionalismus bis heute Bestand.

Die Kapitel zwei bis vier beschäftigen sich mit Quito als Erinnerungsort, und zwar in drei Hinsichten: zur Etablierung einer Tourismusindustrie, als spanisches Zentrum und als autonom agierender Stadtstaat. Das zweite Kapitel behandelt mit Hilfe einer kritischen Analyse von Kartenmaterial den Chronotopos der am Äquator gelegenen „Mitte der Welt“. Die Stadt vollzieht dabei einen Wandel von einem kolonialen Ort der „insular religiosity“ eines neuen Rom zu einem modernen Quito als „tourist destination at the center of the world“ (S. 25). Das dritte Kapitel untersucht die Lokalisierung Quitos im spanischen Erbe anhand der Academia Nacional de Historia. Capello skizziert hier die langsame Abkehr von einer Ablehnung des spanischen Erbes, die mit einer Aufwertung der Hispanischen Welt einhergegangen sei. Dabei rückt Capello die Konservierung der kolonialen Baustruktur sowie die moralische Aufladung der zivilisatorischen Mission der Spanier in den Vordergrund. Der Chronotopos der munizipalen Souveränität im vierten Kapitel zeichnet den machtpolitischen Weg der Stadt Quito hinsichtlich städtischer Modernisierungsprojekte nach. Oftmals versuchten Privatunternehmen oder die ecuadorianische Nationalregierung hierauf Einfluss zu nehmen.

In den Kapiteln fünf bis sieben beschäftigt sich Capello mit individuellen und kollektiven, genealogischen Herangehensweisen, die sowohl Geschichten Quitos als auch universelle Geschichten als reale oder fiktive persönliche Geschichten erzählen. Im fünften Kapitel wird die Produktion von architektonischer Hybridität zwischen regionalen Bauweisen und modernen Anforderungen an die Gebäude analysiert. Anhand der Schweizer Migrantenfamilie der Durinis verfolgt der Autor die Entstehung einer genuin modernen Architektur von Quito. Im Anschluss daran behandelt Kapitel sechs Narrative zur Stadt Quito als „dekadenten“ Ort. Im Chronotopos der anti-modernen Stadt untersucht Capello mit Hilfe zeitgenössischer Literatur das Bild der Intelektuellen zur Stadt im Wandel. Die Literaten verbanden Quito mit urbaner Dekadenz, während sie dem Umland pastorale Reinheit zuschrieben. Die koloniale Vergangenheit wurde dabei teils als harmonisch verklärt, teils als ausbeuterisch gebrandmarkt, sodass zwei Topoi die Diskurse zur Stadt besonders prägten: der zivilisatorische Leuchtturm und das barbarische Stadtleben. Im letzten Kapitel widmet sich Capello den subaltern: Basierend auf Gerichtsakten und Petitionen nähert er sich den Taktiken der indigenen Bewohner von Santa Clara de San Millán. Konkret wird betrachtet, wie sie ihre Verhandlungsbasis gegenüber den hacendados durch Mikrogeschichten zur Genealogie der Gemeinde und zum Umgang mit dem Gemeindeland (ejido) verbesserten. Capello zeigt, wie die Bewohner aktiv Einfluss ausübten und das Narrativ in Performanz umsetzten.

Insgesamt liegt mit „City at the Center of the World“ eine beachtenswerte, innovative Studie zu räumlich-zeitlichen Narrativen in Quito während der Zeit der Modernisierung um 1900 vor. Mit viel Detailkenntnis und auf Grundlage eines großen Quellenkorpus zeichnet Capello die Bruchlinien und Kontinuitäten mit Hilfe der Methodik des Chronotopos nach. Notgedrungen greift er dabei mehrheitlich auf Elitendiskurse zurück – lediglich im letzten Kapitel befasst er sich mit den Stimmen der subaltern. Capello zeigt, wie literaturwissenschaftliche Konzepte die Analyse geschichtswissenschaftlicher Narrative bereichern können. Ein Miteinbeziehen von alltäglichen „chronotopischen“ Praktiken oder „chronotopischen“ Performanzen hätte der Arbeit sicher eine interessante Perspektive hinzugefügt. Besonders erhellend ist, und dies macht die Arbeit so wertvoll, wie Capello die verschiedenen Chronotopoi sowohl als Kontinuitäten in Zeiten des Umbruchs als auch selbst als Motoren der Veränderung herauszuarbeiten vermag. Er verdeutlicht damit wie anpassungsfähig und zugleich bestimmend diese historischen Narrativstrukturen auf die Gesellschaft wirkten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Harry Harootunian, Some Thoughts on Comparability and the Space-Time Problem, in: boundary 32 (2005) 2, S. 23–52.
2 A. Kim Clark, The Redemptive Work. Railway and Nation in Ecuador, 1895–1930, Wilmington, Del. 1998; Manuel Espinosa Apolo, Mestizaje, cholificación y blanqueamiento en Quito. Primera mitad del siglo XX, Quito 2003; Lucas Achig, El proceso urbano de Quito. Ensayos de interpretación, Quito 1983; Eduardo Francisco Kingman Garcés, La ciudad y los otros, Quito 1860–1940. Higienismo, ornato y policía, Quito 2006.

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