O. Werner (Hrsg.): Mobilisierung im Nationalsozialismus

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Titel
Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der Kriegswirtschaft und der Verwaltung des ‚Dritten Reiches‘ 1936 bis 1945


Herausgeber
Werner, Oliver
Reihe
Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ 3
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Mühlenfeld, Mülheim an der Ruhr

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung des DFG-Projektes „Die NS-Gaue als Mobilisierungsstrukturen für den Krieg“ und des Zentrums für Zeithistorische Studien Potsdam (ZZF) zurück, die 2010 an der Friedich-Schiller-Universität Jena stattfand. Er beleuchtet aus zahlreichen Perspektiven die Mobilisierungsanstrengungen des NS-Regimes auf der Ebene der Reichsmittelinstanzen. Dabei – so viel sei vorausgeschickt – setzen sich die Autoren in ihrer Mehrzahl von der lange Zeit dominierenden These Hans Mommsens und zuletzt auch Ian Kershaws ab, wonach das „Dritte Reich“ sich insbesondere während des Krieges in einem Prozess der Auflösung staatlicher Strukturen und mithin in einem Zustand der faktischen beziehungsweise sukzessive zunehmenden Unregierbarkeit befunden habe.

Nach Vorwort und einer instruktiven, thematischen Einleitung des Herausgebers Oliver Werner folgen in Abschnitt I zunächst drei Beiträge, die das Phänomen Mobilisierung grundsätzlich vermessen: Jürgen John fragt danach, ob Mobilisierung ein Charakteristikum des NS-Staates sei, und kommt zu der auf den ersten Blick paradoxen, doch kaum zu widerlegenden Feststellung, dass Mobilisierung in der Tat ein Grundzug des NS-Systems war (S. 55), der Begriff an sich jedoch gerade auch in der historiographischen Literatur inflationär gebraucht werde (S. 29), denn: „Die Unschärfe solcher Begriffe machte gerade ihre Suggestivkraft aus.“ (S. 38) Daran anknüpfend lotet Detlef Schmiechen-Ackermann aus, inwieweit es sich bei „Volksgemeinschaft“ und „Mobilisierung“ um zwei konkurrierende oder komplementäre Forschungsnarrative zur Analyse der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus handelt. Für Schmiechen-Ackermann bleibt die Bedeutung der Mobilisierung (wenig überraschend) sekundär und instrumentell, indem er in der Volksgemeinschaft nicht nur eine primär rassistische Gesellschaftstheorie erblickt, die als appellative Formel geeignet schien, eine erfolgreiche gesellschaftliche Mobilisierung zu erreichen (S. 62). Hinsichtlich des Vergleichs der beiden Begriffe als Chiffren konkurrierender Forschungskonzepte definiert er letztlich arg verkürzend Mobilisierung als einen top-down implementierten Prozess, der zwar bei der Allokation materieller Ressourcen zutreffen möge, jedoch nicht geeignet sei, soziale Interaktion zu erklären (S. 67). Hier wäre einzuwenden, dass nicht zuletzt die einschlägigen Arbeiten Michael Wildts so zu lesen sind, dass gerade auch in gesellschaftlichen Prozessen Phänomene von Selbst-Mobilisierung nachweisbar sind; zumindest semantisch ist der Weg hierher von der „Selbstermächtigung“ nicht eben weit.1

Im dritten Beitrag greift Rüdiger Hachtmann sein schon an anderer Stelle entwickeltes analytisches Konzept der „neuen Staatlichkeit“2 auf, um hinsichtlich des Aspektes der Mobilisierung nun vor allem nach der Rolle und Bedeutung der von der Forschung lange Zeit eher stiefmütterlich behandelten Reichsmittelinstanzen für das Funktionieren des NS-Staates insgesamt zu fragen. Dabei weist Hachtmann bei aller (hier nicht ausführbaren) Kritik am Konzept der „neuen Staatlichkeit“ an sich völlig zu Recht darauf hin, dass gesellschaftliche Mobilisierung im NS-Staat immer auch als gezielte Demobilisierung, etwa der Industriearbeiterschaft, auftreten konnte (S. 71). Vielmehr vollzogen sich im „Dritten Reich“ Mobilisierungs- und Demobilisierungsprozesse durchaus parallel, und zwar ganz nach Schichtzugehörigkeit, Alter, Geschlecht usw. der jeweils angesprochenen Bevölkerungsgruppen (S. 69).

Es folgen im Abschnitt II zunächst acht konkrete, empirische Beiträge, die sich des Themas der Mobilisierung auf der Ebene der Mittelinstanzen annehmen. Allen Beiträgen ist gemein, dass sie sich Themen widmen, die im „Altreich“ angesiedelt sind. Darüber hinaus handelt es sich bei einer Reihe der Beiträge um Texte, die auf frühere monographische Arbeiten der jeweiligen Verfasser gründen. Das ist insofern von Bedeutung, als an der einen oder anderen Stelle eher das spezifische Thema an sich im Fokus der Darstellung steht und der programmatisch-analytische Bezug zum Aspekt der Mobilisierung mitunter hätte substanzieller ausfallen dürfen. Doch ungeachtet dessen entfalten die Beiträge auch nicht zuletzt deshalb einen empirisch gesättigten, substanziellen Überblick über ihre Themenausschnitte, gerade weil sie Kondensat einer umfänglicheren bereits abgeschlossenen oder auch noch laufenden Qualifikationsarbeit sind.

In den Beiträgen, die sich dem widmen, was wahrscheinlich als erstes mit dem Begriff der Mobilisierung assoziiert wird, nämlich der Rüstungswirtschaft und den militärischen Kriegsvorbereitungen, ist die Existenz derartiger Mobilisierungsanstrengungen per se vorausgesetzt. Hier geht es vielmehr um die jeweilige Rolle der untersuchten Administrationen, Behörden und Dienststellen innerhalb des Politikfeldes Rüstungswirtschaft. Natürlich kommen dabei auch die klassischen Konfliktlinien zwischen staatlicher Verwaltung und im weitesten Sinne parteiamtlichen Institutionen in den Blick; etwa wenn Paul Fröhlich gleich eingangs seines Beitrages darauf verweist, dass Generalleutnant Georg Thomas in seiner Funktion als Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes des OKW danach strebte, Hermann Göring in seiner Funktion als Chef der Vierjahresplanbehörde unterstellt zu werden – nur um zu verhindern, dass ansonsten im nicht- oder vormilitärischen Bereich eine konkurrierende Dienststelle mit ähnlich lautender Aufgabenzuweisung entstehen könne (S. 87). In ähnlich klassischer Perspektive nähert sich auch der Beitrag von Alexander Kranz seinem Thema. Er untersucht das Verhältnis der Rüstungsdienststellen der Teilstreitkräfte der Wehrmacht in ihrem Verhältnis zum institutionell vergleichsweise jungen Verwaltungsapparat des OKW.

Auch der Beitrag Lars Amendas setzt das Vorhandensein einer spezifischen Form von Mobilisierung, hier jener ausländischer Arbeitskräfte vor und während des Krieges, voraus. Dabei gelingt es ihm am besten, die Konzeptionen von Mobilisierung und Volksgemeinschaft analytisch-empirisch in Beziehung zu setzen. Am Ende ergibt sich die Feststellung, dass die intendierte Gemeinschaftsbildung innerhalb der neu entstehenden Stadt Salzgitter zu keinem nennenswerten Erfolg führt, weil nicht zuletzt die „rassischen“ Divergenzen der eingesetzten Arbeiterschaft dies verhinderten. Hier obsiegt die rüstungswirtschaftliche Rationalität über das ideologische Ideal.

Instruktiv sind auch die Beiträge, die jenseits der Rüstungswirtschaft die Entwicklung der administrativen Mittelinstanzen an sich in den Blick nehmen und dabei insbesondere die institutionellen Ausformungen der NSDAP zur Bewältigung der im Kriegsverlauf zunehmenden sozialfürsorgerischen Aufgaben untersuchen. Dabei stellt insbesondere der Beitrag von Ralf Blank heraus, wie stark eine solche Entwicklung nicht nur von den jeweils handelnden Personen abhing, sondern welche fortschreitende Eigendynamik ein solcher Prozess zu gewinnen vermochte – bis hin zur Aufstellung eines gaueigenen paramilitärischen Verbandes in teilweiser Konkurrenz zum Volkssturm, dem „Freikorps Sauerland“ (S. 213).

In einem Abschnitt III folgen schließlich unter dem Titel „Entgrenzung“ drei weitere Beispiele, die analog die Entwicklung in den besetzten Gebieten bzw. in der unmittelbaren Kriegsendphase in den Blick nehmen. Dabei zeigen insbesondere Stephan Lehnstaedt hinsichtlich der Arbeitskräftemobilisierung im Generalgouvernement und Tilman Plath anhand der entsprechenden Bemühungen im Baltikum, dass hier oftmals die Ideologie gegenüber einem rüstungswirtschaftlichen Pragmatismus obsiegt hat.

Woran es dem Band jedoch mangelt, ist eine bilanzierende Zusammenschau der Erträge im engeren Sinne. Stattdessen folgen zum Ende hin zwei weitere Texte, die Mobilisierungsprozesse in der zentralasiatischen UdSSR während des Zweiten Weltkriegs und in der DDR zur Zeit der Auflösung der Länder und Einrichtung der Bezirke in den Blick nimmt. So anregend beide Texte auch sein mögen, sie wirken im Kontext des Bandes seltsam unverbunden. Gerade ihre Aufnahme legt eine synoptische Schlussbetrachtung nahe, die einordnend die in den einzelnen Beiträgen aufgenommenen Fäden wieder zusammenführte. Dass dies unterbleibt, ist jedoch das einzige, wirklich gravierende Manko des ansonsten überzeugenden Bandes. Zudem wird das Fehlen einer bilanzierenden Zusammenschau in mancher Hinsicht durch die überzeugende thematische Einführung des Herausgebers kompensiert. Ausgehend von ihr bekommt der strukturierte Leser eine Vorstellung von der Vielschichtigkeit des Mobilisierungsbegriffes im NS-System selbst sowie in der entsprechenden Historiographie. Insofern ist die Disparität mancher Einzelbefunde auch kein Makel, sondern vielmehr Ausweis der Varianz und Vieldeutigkeit des Begriffes und des dazugehörigen Konzeptes. Gerade im Rahmen der Schriftenreihe, in der der Band erscheint, stellt er einen vielversprechenden ersten Aufschlag dar, ein vergleichsweise altbekanntes Thema in neuer Perspektive zu betrachten und – so ist zu hoffen – weitere Studien anzuregen, sich daran abzuarbeiten. Dabei wird letztlich jeder Einzelfall erweisen (müssen), ob Mobilisierung und Volksgemeinschaft komplementäre oder konkurrierende historiographische Konzepte darstellen.

Anmerkungen:
1 Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007.
2 Rüdiger Hachtmann, „Neue Staatlichkeit“. Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue, in: Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 56–79.

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