Titel
Landscapes of the Western Front. Materiality During the Great War


Autor(en)
Ross, Wilson
Reihe
Routledge Studies in Modern European History
Erschienen
London 2011: Routledge
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
£80.00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Christoph Nübel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Arbeit von Ross Wilson macht es dem Rezensenten nicht leicht. Sie ist voller weiterführender Befunde und Ideen, was die in Anschlag gebrachten Forschungsansätze angeht. Zugleich wechselt sie – oftmals überraschend – die Ebenen oder bricht dort ab, wo die Analyse vertieft werden müsste. Doch der Reihe nach. Wilson will ergründen, wie die Soldaten das Frontgebiet deuteten. Er geht davon aus, dass sich in Großbritannien ein umfassendes Mythen- und Deutungsgeflecht um die Westfront rankt. Die heutige Erinnerungskultur verstelle den Blick auf die Kriegserfahrungen der Soldaten, die Wilson freizulegen verspricht.

Mit einer ethnographischen Analyse möchte Wilson neue Perspektiven auf die Jahre 1914-1918 gewinnen (S. 1, S. 49), wobei er seinen Ansatz „as an example of this approach and the basis for future research” verstanden wissen möchte (S. 10, S. 33f.). Das Programm ist umfangreich und die Konzeption der Studie vielversprechend. Es ist überzeugend, die Materialität des Krieges – die Umgebung der Soldaten und die Objekte, mit denen sie tagtäglich befasst waren – als Untersuchungsgegenstand heranzuziehen. „Landscape“ ist für Wilson dabei ein Begriff, der weniger ein Bild der Umgebung, als im weitesten Sinne die „totality of the material world“ umfasst (S. 7). Vor allem Briefe, Tagebücher und Memoiren der Soldaten verwiesen, so Wilson, auf die Bedeutungen, mit denen das Frontgebiet und die militärischen Gegenstände von den Militärangehörigen versehen worden sei. Sie dienen Wilson als Schlüssel für die Analyse der Kriegserfahrungen. Auf diese Weise sucht Wilson nach dem „sense of place“ der Westfront und nimmt sich der bislang kaum erforschten Räumlichkeit der Front an.1 Vor allem von der Archäologie verspricht er sich neue Einsichten für seine Anthropologie und „ethnohistory“ des Ersten Weltkrieges.

Einführend diskutiert Wilson, welche Ansätze und Befunde Weltkriegsforschung und Schlachtfeldarchäologie bislang hervorgebracht haben. Das folgende Kapitel bezeichnet die Lage des britischen Frontabschnittes und umreißt die Organisation der britischen Truppen sowie den Ausbau der Schützengräben. Hier erfährt man nichts Neues. Stattdessen werden ohne erkennbaren Zusammenhang mit den folgenden Kapiteln Details wie die Bezeichnungen der Offiziersränge und die Personalstärke der britischen Militärpolizei erörtert. Erst spät geht es in medias res. In seiner Analyse von Frontgebiet und Hinterland kann Wilson mit bislang kaum beachteten und weiterführenden Befunden aufwarten. Die Soldaten versahen einzelne Orte und Abschnitte mit eigenen Namen, die nicht nur der Orientierung dienten, sondern das Land unter den Vorzeichen des Krieges strukturierten. Das diente ebenso der Eingewöhnung in das militärische Leben in der Fremde wie die Tatsache, dass französische Vokabeln zuweilen verballhornt in den soldatischen Wortschatz übernommen wurden. Friedliche Orte und ruhige Frontsektoren ermöglichten Erholung und Fluchten aus dem Krieg. An der Front vermochten angesichts der omnipräsenten Bedrohung schon einfache Deckungslöcher und Unterstände ein überwältigendes Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Wilson zeichnet hier die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen dem Bild der Umgebung und dem Bild der Soldaten nach. Die Soldaten schufen sich "a ‚new’ landscape onto which their own perceptions and experiences could be ‚mapped’" (S. 89). In diesem Zusammenhang müsste vertiefend untersucht werden, inwieweit die „violent landscape“ (S. 147) tatsächlich Auslöser für das Gewalthandeln der britischen Soldaten – die laut Wilsons Quellen alle mit einem ausgesprochenen Killerinstinkt auf die Deutschen losgegangen sind – gewesen ist. Insgesamt fällt dieser Teil der Untersuchung angesichts der bedenkenswerten Einzelbefunde zu oberflächlich aus. Die Unterkapitel, die sich beispielsweise der einheimischen Bevölkerung, zerstörten Siedlungen, der Identität der Soldaten oder dem Begräbnis der Toten widmen, umfassen jeweils kaum mehr als drei Seiten. Im letzten Kapitel widmet sich Wilson einer nicht näher begründeten Auswahl von Objekten – vom Infanteriegewehr über die Handgranate bis zum Stahlhelm – welche, so die These, Wahrnehmung und Bedeutung der „war landscape“ maßgeblich bestimmt hätten (z.B. S. 174, S. 198). So evident diese Annahme ist, gelingt es Wilson nicht, sie zu erhärten und die Folgen für das Verhältnis der Soldaten zu ihrer Umgebung auszumessen.

Die Umsetzung der anspruchsvollen Grundkonzeption der Arbeit ist stellenweise als problematisch einzustufen. Wilson erkennt vor allem in der Schlachtfeldarchäologie eine Disziplin, deren Befunde einen weiterführenden Beitrag für die Forschung leisten. In der Tat ist es wichtig zu erfahren, wie man Begräbnisplätze unter den Bedingungen der tobenden Schlacht ausstattete und woran die Soldaten starben (S. 159f.). Die Todesursachen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts verzeichnen allerdings die Sanitätsberichte. Die Erkenntnis, dass Artilleriebeschuss heftig war und Tanks oder Gräben zerstören konnte, ist kaum überraschend und bedarf keiner Erhärtung durch umfangreiche Ausgrabungen (S. 40, S. 132). Die Verwendung von Quellen ist gelegentlich fragwürdig. Um sich den Erfahrungen der Soldaten zu nähern, zieht Wilson nicht nur Feldpostbriefe und Kriegstagebücher, sondern auch zahlreiche nach dem Krieg entstandene Memoiren heran. Diese völlig unterschiedlichen Quellengruppen werden in der Untersuchung als gleichwertige Zeugnisse behandelt (z.B. S. 115, S. 127). Die Verfasser autobiographischer Bücher sind allerdings keine Zeitgenossen mehr, ihre Berichte leben vielmehr von der Augenzeugenschaft ihrer Autoren.2 Wilson, der die Soldaten selbst zu Wort kommen lassen will, holt sich auf diese Weise unzeitgemäße Interpretationen ins Boot (die er eigentlich ausschließen will) und misst ihnen denselben Erklärungswert wie Feldpostbriefen bei. Außerdem führt Wilson Konzepte ein, die nicht im Deutungshorizont der Soldaten verortet werden und deren Erklärungswert somit unklar bleibt („Hell“, S. 1; „Monster“, S. 143).

Die Studie Wilsons kann in manchen Punkten nicht überzeugen. Sie lässt sich gleichwohl als Denkanstoß lesen, die Forschungen zur Räumlichkeit und zur Materialität des Ersten Weltkrieges – auch für die Heere anderer Nationen und andere Fronten – voranzutreiben.3 Wilson vermeidet es, sich nur auf die Schützengräben zu konzentrieren, sondern bezieht das Hinterland in seine Analyse mit ein. Damit kann er zeigen, dass der Raum Westfront aus einem komplexen Bedeutungsgeflecht heraus entstand. Die Ortschaften hinter den vorderen Linien wurden von den Soldaten mit Bedeutungen versehen, die auf Ablenkung, Erholung und Frieden verwiesen, eben weil im Gegensatz dazu die Front eine Zone der Gefahr war.

Anmerkungen:
1 Vor allem David Blackbourn hat diesen Terminus im Zusammenhang mit einer Historiographie des Raumes stark gemacht. Siehe David Blackbourn, A Sense of Place. New Directions in German History. German Historical Institute. The 1998 Annual Lecture, London 1999.
2 Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges immer noch unübertroffen: Marc Bloch, Falschmeldungen im Krieg – Überlegungen eines Historikers (1921), in: Ders., Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Schöttler, Frankfurt, New York 2000, S. 187-211.
3 Siehe dazu mein Fazit in Christoph Nübel, Neue Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs. Themen, Tendenzen, Perspektiven, in: H-Soz-u-Kult, 08.07.2011, S. 34-36. URL: < http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-06-001> (24.07.2012). Zur Zeit bereite ich eine Studie zum Raum Westfront vor, die voraussichtlich 2013 in der Reihe „Zeitalter der Weltkriege“ im Verlag Ferdinand Schöningh erscheinen wird.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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