Titel
„Liebevolle Züchtigung“. Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik


Autor(en)
Dudek, Peter
Erschienen
Bad Heilbrunn 2012: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Petra Götte, Lehrstuhl Pädagogik, Universität Augsburg

Die Studie von Peter Dudek reiht sich in die Riege neuerer Untersuchungen ein, die sich mit den „dunklen Seiten der Reformpädagogik“ (Oelkers 2011)1 befassen, vor allem mit Fällen sexualisierter Gewalt. Im Fokus von Dudeks Darstellung steht der Leiter des „Landerziehungsheims Zossen“ Kurt-Lüder Freiherr von Lützow (1883-1942). Von Lützow wurde 1926 vor dem Berliner Landgericht angeklagt, Schüler misshandelt und sexuell missbraucht zu haben. Der Strafprozess hatte seinerzeit nicht nur großes mediales Interesse auf sich gezogen, sondern auch die pädagogische, psychologische und psychiatrische Fachöffentlichkeit stark beschäftigt. Dudeks Studie, in deren Zentrum der Strafprozess gegen von Lützow steht, ist zwar in erster Linie ein Beitrag zur Geschichte der Reformpädagogik. Darüber hinaus ist sie ein informatives Stück Strafprozessgeschichte, geht es in ihr doch auch um psychiatrische und pädagogische Gutachtertätigkeiten, um die mediale Thematisierung des „Falles Lützow“ und nicht zuletzt um das Thema Kinder und Jugendliche als Zeugen in Sittlichkeitsprozessen.

Bevor Dudek sich der Rekonstruktion des Strafprozesses widmet, werden wichtige Hintergrundinformationen entfaltet (Kapitel 3), etwa zur Biographie von Lützows sowie zum Lützowschen Landerziehungsheim in Zossen: Kurt-Lüder Freiherr von Lützow stammte aus einer traditionsreichen Adelsfamilie. Im Alter von 11 Jahren trat er in eine preußische Kadettenanstalt ein, die er aber nach etwa einem Jahr wieder verlassen musste, unter anderem weil er den körperlichen Strapazen der dortigen Erziehung nicht gewachsen war. Gleichwohl, so Dudek, habe ihn seine Kadettenzeit „zutiefst geprägt“ (S. 28). Nach seinem Schulbesuch studierte er Agrar- und Naturwissenschaften in Leipzig und Jena. Ab 1913 war von Lützow, der über keinerlei pädagogische Ausbildung und Examina verfügte, für mehr als sechs Jahre am Lietzschen Landerziehungsheim Haubinda tätig. Im Herbst 1920 übernahm der inzwischen verheiratete von Lützow erstmals die Leitung einer eigenen Schule, nämlich die im märkischen Buckow gelegene „Höhere Lehranstalt Buckow“. Zwei Jahre später, im Oktober 1922, zog von Lützow mit seiner Schule nach Zossen um, wo er das dortige Pädagogium erwarb und versuchte, es nach den reformpädagogischen Grundsätzen von Hermann Lietz umzugestalten (vgl. S. 40ff.). Im „Landerziehungsheim Zossen“ soll es dann verstärkt zu sexuellen Übergriffen und Prügelexzessen gekommen sein.

Einen eigenen Abschnitt widmet Dudek dem Diskurs um das Züchtigungsrecht des Lehrers. Darin werden, allerdings etwas unsystematisch, die unterschiedlichen Positionen in dieser bis in die 1970er-Jahre kontrovers geführten Diskussion nachgezeichnet. Während sich die Mehrheit seiner damaligen reformpädagogisch orientierten Kollegen gegen die Prügelstrafe aussprach, befürwortete von Lützow sie. Auch vor Gericht bekannte er sich zu seinem umfassenden System körperlicher Züchtigung: Dies sei eine notwendige Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Schuldisziplin gewesen. Gleichzeitig wollte von Lützow den Schülern aber auch ein Kamerad sein, ein Tröster und Freund. Aus dieser Motivlage wiederum, so Dudek, speiste sich von Lützows Praxis, vor allem jüngere Schüler zu umarmen, zu küssen und zu streicheln (vgl. S. 54). Der Schulleiter sah sich in der Tradition einer protestantischen Pädagogik stehend, in der Zucht und Liebe zwei wesentliche Eckpfeiler waren.

In Kapitel 4 steht schließlich der am 22. Februar 1926 eröffnete Strafprozess im Fokus. Die Anklage warf von Lützow vor, zum einen an etlichen Schülern unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vorgenommen und zum anderen seine Schüler körperlich misshandelt zu haben. Von Beginn an zog das Verfahren große Aufmerksamkeit auf sich, handelte es sich doch um einen der größten Prozesse der Berliner Justizgeschichte: Seit 1924 hatten Polizei und Staatsanwaltschaft ca. 600 Zeugen vernommen. Zu von Lützows Verteidigern gehörte Dr. Erich Frey, einer der bekanntesten Strafverteidiger der Weimarer Republik. Außerdem kamen im Prozess zahlreiche namhafte Gutachter zu Wort, unter anderem Magnus Hirschfeld, Siegfried Placzek, Otto Mönkemöller und Alfred Andreesen.

In den weiteren Kapiteln (5 und 6) geht Dudek auf die gutachtlichen Stellungnahmen ein. Ihnen kam angesichts der sich widersprechenden Zeugenaussagen eine Schlüsselfunktion zu: Als pädagogischer Sachverständiger trat Alfred Andreesen auf, seinerzeit Oberleiter der Lietzschen Landerziehungsheime. Hinsichtlich des „Vorwurfes der unsittlichen Handlungen“ entlastete er den Angeklagten (S. 127); für von Lützows pädagogische Praxis hingegen fand der Reformpädagoge Andreesen nur abfällige Worte. Der Psychiater Otto Mönkemöller widmete sich in seiner Stellungnahme vor allem der Qualität bzw. Glaubwürdigkeit der jugendlichen Zeugenaussagen. Er kam zu dem Schluss, dass es sich bei den vor Gericht befragten Schülern in der Mehrheit um „Debile“ und „Psychopathen“ (S. 116) handele, deren Aussagen wertlos seien. Für ihn waren die Schüler des Erziehungsheims in Zossen allesamt „Zöglinge, die aus einer pädagogischen Mücke einen sexuellen Elefanten werden lassen“ (S. 121). Dudek befasst sich aber nicht allein mit den Positionen der Gutachter im „Fall von Lützow“; er zeichnet darüber hinaus den zeitgenössischen Diskussionsstand in Sachen Kinderaussagen in Sittlichkeitsprozessen nach.

Am 10. Juni 1926 verkündete dann das Gericht sein Urteil (Kapitel 7). Es lautete: „Freispruch in allen 75 Fällen“ (S. 143). Ausführlich geht Dudek auf die insgesamt 300 Seiten umfassende Urteilsbegründung ein. Zwar war auch für das Gericht, welches sich stark auf die Gutachten von Andreesen und Mönkemöller stützte, unstrittig, dass von Lützow in Zossen ein ausgeklügeltes System körperlicher Züchtigung praktiziert hatte. Aber diese Praxis spielte in dem Urteil nur eine nebensächliche Rolle. Vielmehr anerkannte das Gericht grundsätzlich die Legitimität der körperlichen Züchtigung von Lützows. Angesichts der „Elemente“, mit denen von Lützow es in Zossen zu tun habe, seien Prügel wohl „die einzig durchgreifende Strafe“ (S. 152). Und schließlich hätte die Mehrheit der Zeugen auf die Frage des Gerichts: „Hast Du die Prügel verdient?“ mit „Ja“ geantwortet (S. 164). „Gute Zeiten für Sadisten“, lautete der Kommentar der Zeitung „Die Rote Fahne“ zum Freispruch von Lützows (S. 175). Dudek resümiert: „Am Ende des Lützow-Prozesses stand 1926 ein juristischer Freispruch. Am Ende meines Textes steht kein eindeutiges Urteil, bei dem die Rollen zwischen Opfern und Tätern klar verteilt wären. Zu einer Bewertung müssen die Leser schon selber finden“ (S. 196). Kein Zweifel, so Dudek, könne aber darin bestehen, dass sich hinter der „Fassade des schönen Scheins der Landerziehungsheimidylle […] auch abnorme Praktiken der Demütigung, Diskriminierung und Grenzüberschreitungen“ verbargen (S. 200).

Peter Dudeks Studie über den „Fall von Lützow“ ist zugleich detailreich und kompakt. Informativ ist sie allemal. Ein wenig irritierend sind die vielen unterschiedlichen Begrifflichkeiten. Mal ist von sexueller Gewalt, mal von sexuellen Übergriffen oder von pädosexueller Gewalt die Rede. Eine systematische Begriffsbestimmung hätte hier zur Klärung und auch zu einer systematischen Reflexion des Verhältnisses von Gewalt (im Sinne körperlicher Züchtigung) und sexualisierter Gewalt (im Sinne von Missbrauch) beigetragen. Überlegungen zum methodischen Umgang mit dem herangezogenen Quellenmaterial sucht man ebenfalls vergebens.

Überzeugend und wichtig bleibt, dass Peter Dudek das Thema (sexualisierte) Gewalt in reformpädagogischen Einrichtungen auf der Ebene der institutionellen Praxis beleuchtet. Seine Untersuchung ist damit Ausdruck und Beleg für die sich aktuell vollziehende, längst überfällige Wendung in der Historiographie zur Reformpädagogik von einem vor allem ideengeschichtlichen Zugang zu einer Forschung, die versucht, die reformpädagogische Praxis mit in den Blick zu nehmen. Dass dabei derzeit, so auch bei Dudek, das Augenmerk weniger auf die hellen als vielmehr auf die dunklen Seiten gerichtet ist, kann einer Historiographie, die den Anspruch hat, Pädagogik in Theorie und Praxis in ihrer gesamten Breite, mit ihren Chancen und Risiken zu erforschen, nur zuträglich sein.

Anmerkung:
1 Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim u.a. 2011.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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