Wem gehört die Stadt?

Veranstalter
Münchner Stadtmuseum, St.-Jakobs-Platz 1, 80331 München <http://www.muenchner-stadtmuseum.de/sonderausstellungen/wem-gehoert-die-stadt.html>
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.02.2013 - 01.09.2013

Publikation(en)

Cover
Wegner, Manfred; Scherf, Ingrid (Hrsg.): Wem gehört die Stadt?. Manifestationen neuer sozialer Bewegungen im München der 1970er Jahre. Andechs 2013 : Ulenspiegel Druck GmbH, ISBN 978-3-928359-04-7 143 S., zahlr. Farbabb. € 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Egger, Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Durchsagen sind jederzeit möglich. Musik macht Sparifankal 2, Bier steht im Kühlschrank“ – mit dieser Ankündigung lud das Münchner Stadtmuseum im Februar 2013 zur Eröffnung der Ausstellung „Wem gehört die Stadt?“. Den Hinweis auf das Bier durfte man wörtlich nehmen: Im Foyer des Hauses standen große Kühlschränke voll mit Flaschen, die Öffner hingen an den Türgriffen.

Auf Einladung, Plakat und Katalog ist eine junge Frau mit kurzen Haaren und Latzhose abgebildet; über den Dächern von München sitzt sie auf einem Kamin vor dem gelb kolorierten Himmel der Stadt. Ausgehend von der Idee einer außerparlamentarischen Opposition befasst sich die Schau mit den „Manifestationen neuer sozialer Bewegungen im München der 1970er Jahre“. Bemerkenswert am Abend der Eröffnung war nicht nur, dass sehr viele Besucherinnen und Besucher gekommen waren. Zu den Anwesenden zählten auch besonders viele Akteurinnen und Akteure, die irgendeine Verbindung zum Thema hatten oder haben. In den Räumen der Ausstellung suchten sich die Gäste dann zumeist den Bereich aus, der sich mit ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld beschäftigt. Die grünen Stadträte etwa zog es zu den Manifestationen ihrer Partei – zu sehen ist unter anderem das erste bundesweit geklebte Plakat mit einem farbenfrohen Kinderbild. Ein anderer Besucher erwähnte im Gedränge einen Namen, sofort fühlte sich jemand neben ihm angesprochen. Wie sich inmitten der präsentierten Kunstaktionen herausstellte, ist dieser Mann der Bruder des Genannten, selbst Pädagoge, der damals in den 1970ern, wie er sagte, alles anders machen wollte.

Rund 800 Objekte haben Manfred Wegner vom Münchner Stadtmuseum und Ingrid Scherf vom Archiv der Arbeiterbewegung in München zusammengetragen. Zunächst hatten sie nur wenig bis gar kein Material. Die Bestände sind Schenkungen und Leihgaben sowie Quellen aus privaten oder bisher nicht zugänglichen Sammlungen wie dem „Archiv 451“ und dem Punk-Archiv. „Ohne die antiautoritäre Revolte 1968 wäre natürlich das lebendige Laboratorium neuer Lebensentwürfe nicht zu haben gewesen. Gelebte Bewegungsgeschichte ins Museum [zu] holen, soll hier nicht historisierend abhaken. Diese Ausstellung lädt zum assoziativen Mäandern, zum freien Fließen in der Materie ein. Anti-autoritär, anti-institutionell und wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt, darum ging es“, schreibt Ingrid Scherf über die Schau.1

Obwohl sich in München seit den 1960er-Jahren eine differenzierte links-alternative Szene herausgebildet hatte, wird dieser Umstand in der Regel weder im wissenschaftlichen noch im öffentlichen Diskurs wahrgenommen. Von der „Roten Hilfe“ über nachbarschaftliche Projekte, Arbeiteragitation oder Kunstspektakel bis hin zum Kampf um den immer knapper werdenden Wohnraum in der wachsenden Großstadt reichten die Betätigungsfelder. Dennoch gelten vor allem Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main als Zentren der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik. Diese „Unsichtbarkeit“ Münchens auf der Landkarte der widerständigen Politiken, kulturellen Aktivitäten und sozialen Utopien mag mit verschiedenen Faktoren zusammenhängen. Zum einen hat die Rezeption der Stadt mit den Bildern und Narrativen zu tun, die München üblicherweise repräsentieren. Das Isar-Athen, das die Wittelsbacher im 19. Jahrhundert zu ihrer Hauptstadt ausgestalten ließen, besitzt eine ungeheure Wirkmächtigkeit. Angesichts dieser strahlenden Oberfläche sind Kerben und Nischen kaum vorstellbar. Die urbane Gesellschaft wird von einer bürgerlichen Klientel dominiert.2 Auch der hohe Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in München wird kaum rezipiert. Revolution in der Residenzstadt, das klingt noch viel unmöglicher – und was unmöglich klingt, das kann offenkundig auch nicht sein. Die (Nicht-)Wahrnehmung hängt aber auch damit zusammen, dass es bisher nur wenige Studien zu den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren in München und kaum Untersuchungen zur linken alternativen Szene der Stadt gab oder diese kaum diskutiert wurden. Der Historiker Gerhard Fürmetz setzte sich beispielsweise mit den „Schwabinger Krawallen“ im Sommer 1962 wie auch mit den Demonstrationen anlässlich der erweiterten Ladenöffnungszeiten Anfang der 1950er-Jahre auseinander.3 Die Historikerin Elisabeth Zellmer erforschte die Frauenbewegung im München der 1970er-Jahre.4

Bei den Objekten, die in der Ausstellung zu sehen sind, handelt es sich in erster Linie um Quellen aus Papier – Flyer, Flugblätter, Manifeste. Ins Auge stechen die Einrichtungsgegenstände aus dem Gemeinschaftsraum der WG Erhardstraße 10, eine Badewanne auf einem Holzsockel mit zwei Malereien. Das eine, zweiteilige Bild in Pastelltönen zeigt rechts eine Ideallandschaft mit Paar am See und links die zerstörte Ideallandschaft mit Atomkraftwerk. Das zweite Gemälde „zitiert das Bildmotiv ‚Im Spiel der Wellen‘ des Malers Arnold Böcklin aus dem Jahr 1883. Allerdings wurden die Köpfe der Fabelwesen durch Portraits von WG-Bewohnern ersetzt.“ (Katalog, S. 96f.)

Unterteilt in zwölf Stationen erscheint die Präsentation wie ein Geflecht, in das Akteurinnen und Akteure, Orte, Gruppierungen, Dokumente und Objekte eingewoben sind. Die Gestaltung ist schlicht, nimmt sich eher zurück und bezieht Gegenstände wie die Bücherwagen der 1972 gegründeten, 2012 geschlossenen „Basis-Buchhandlung“ mit ein. Obertitel in roter Handschrift zeigen jeweils ein Kapitel oder einen Themenbereich an. Die gleiche Typographie findet sich auf dem Titel von Publikation und Plakat. Im Eingangsbereich gibt es Positionen und Aspekte, die hinführen sollen zur Schau; darunter ist ein Polizeifilm, der den Ostermarsch 1967 zeigt, und ein Film der Gruppe „Spur“, die sich Anfang der 1960er-Jahre mit einer Anzeige wegen Beleidigung der katholischen Kirche konfrontiert sah. Ein Plakat von 1969 fasst alles zusammen, was damals bewegte: „Gegen Thadden5, Springer, Strauß. Gegen den Rüstungsstaat. Für Mitbestimmung. Gegen jeden neuen Faschismus. Gegen Vorbeugehaft und Studentendisziplinierung. Selbstbestimmung in Betrieben und Universitäten“ etc. etc. „Die Ausstellung“, so Manfred Wegner im Vorwort des Begleitbandes, „bricht […] [die] Makrophänomene des Jahrzehnts herunter auf anschaulich beschreibbare Manifestationen neuer sozialer Bewegungen in München. Damit eröffnet sie zugleich die Perspektive auf Auseinandersetzungen um die Entwicklung der Stadt als kollektiver Lebensraum und Experimentierfeld für noch nicht erprobte Entwürfe neuartiger gesellschaftlicher Organisationsformen.“

Zum Auftakt heißt es folgerichtig „Verändert die Welt“. Es geht um Kunst, sich wandelnde und experimentelle Ästhetiken, die bestehende Ordnungen hinterfragen. „Was tun?“ Im Anschluss wird nach Formen und Wegen des Engagements jenseits etablierter Institutionen wie etwa Gewerkschaften gesucht. Die Siemens-Frauengruppe wandte sich gegen „14 Stunden Arbeit in Haushalt und Fabrik“. Hochgehalten wurde auch die internationale Solidarität, ob mit Chile oder Vietnam. Aus diversen K-Gruppen entstanden nicht zuletzt auch wieder Parteien. „Gegenöffentlichkeit“ ist die dritte Station. Über den Verlag „Trikont“ (1967 gegründet, besteht bis heute) und die schon erwähnte „Basis-Buchhandlung“ konnten alternative Ansichten in die Gesellschaft eingebracht werden. Ein zentrales Organ war das „Blatt“ – die Stadtzeitung erschien von 1973 bis 1984 in München. Unter der Überschrift „Modell Deutschland“ verweist die Ausstellung an dieser Stelle auf das Anwachsen des Polizeiapparats, die Zunahme von Gesetzen und Restriktionen.

Der „Kampf um die Stadt“ ist die nächste Wegmarke, es geht um Stadtteilarbeit und Mieterprotest. „Münchner und Münchnerinnen! Schwabinger! Höchster Alarm! Skandal!“, ist auf einem Flugblatt für den Erhalt des Nikolaiplatzes und der Seidlvilla zu lesen. Künstler wie Herbert Achternbusch, Jörg Hube und Gerhard Polt standen in den 1970er-Jahren für eine „Kultur von unten“, eine Kunst, die mit lokalen und regionalen Versatzstücken spielte. Das „Musikalische Unterholz“ („MUH“), die Kleinkunstbühne von Uwe Kleinschmidt und Beppi Bachmaier, bot zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern seit 1972 eine erste Auftrittsmöglichkeit in der Stadt. Als „Alternativbewegung“ verstanden sich Wohngemeinschaften, der alternative Jahrmarkt oder das „Werkhaus – Human-kreative Gemeinschaft e.V.“.

Vorgestellt werden dann eine „neue (autonome) Frauenbewegung“ sowie die „Schwulenbewegung“ in München. Am 17. Dezember 1973 lief Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ im Gloria-Kino am Stachus und regte die Zuschauer zu eigenen Initiativen an. Auch in München entstanden „Neue soziale Bewegungen“, die sich überall in der Bundesrepublik gegen Atomkraft, Fluglärm und Aufrüstung richteten. Auf das Engagement folgte mitunter Verweigerung. Der Teil „Do it yourself“ beschäftigt sich mit Punk und Bands wie F.S.K. (= „Freiwillige Selbstkontrolle“), dem 1974 gegründeten Jugendradio „Zündfunk“ und der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft. Die Ausstellung zeigt nicht nur die Diversität der Arbeitskreise und Aktivitäten, sondern auch Spezifika der Münchner Szene.

Die pure Fülle des Materials ist beeindruckend; die Geschichten, Räume und Biographien, die mit der gezeigten Auswahl zusammenhängen, führen weit in die Stadt und über die Stadt hinaus. Eine übergreifende Deutung wollen Ingrid Scherf und Manfred Wegner gleichwohl nicht liefern. Auch die Kuratorin und der Kurator wurden in einem vergleichbaren Umfeld sozialisiert. Das weitgehende Nicht-Interpretieren hat mit ihrer Auffassung von freiem Denken zu tun und folgt darin dem Duktus der Inhalte. Die Präsentation läuft auf diese Weise aber zugleich Gefahr, eine Schau der Szene für die Szene zu bleiben. Das Verstehen fällt Besucherinnen und Besuchern ohne Vorkenntnisse sichtlich schwer. Nachzudenken wäre auch über die Relativierung der Ereignisse und Entwicklungen im Sinne einer Kulturanalyse, wie sie der Kulturwissenschaftler Rolf Lindner vorschlägt.6 München war in den 1960er-Jahren eine boomende Metropole und 1972 bekanntlich Austragungsort der Olympischen Spiele. Internationales Publikum kam in die Stadt und wirkte ebenfalls auf Akteurinnen und Akteure. Die Welt begann sich mit München zu beschäftigen. Zugleich spiegelten sich innovative pädagogische Ideen auch bei nicht-alternativen Projekten wie der Anlage des Olympiaparks.7 Das Skizzieren von Konstellationen hätte der Ausstellung an der einen oder anderen Stelle gut getan.

Die Begleitpublikation hält vor allem die präsentierten Materialien fest. Die Texte sind keine Abstraktionen und dienen keiner historischen Einbettung, sondern sind gewissermaßen als Erläuterungen der Quellen zu verstehen. Schon die angeregten Diskussionen der Besucherinnen und Besucher während der Eröffnung haben verdeutlicht, was mit dem Medium Ausstellung machbar ist: eine Öffnung des Denkens über die Museumsräume hinaus. Auch das Begleitprogramm mit verschiedenen Vorträgen und Zeitzeugengesprächen zielt in diese Richtung. Die Reichhaltigkeit der Informationen fordert geradezu dazu auf, an dem Thema weiter zu arbeiten und die Phänomene und Prozesse, die sich in München ereigneten oder nachzuvollziehen waren, mit der Stadtentwicklung und anderen Ebenen zu kontextualisieren. Diese Anregung ist von Ingrid Scherf und Manfred Wegner auch durchaus intendiert. Ihnen geht es in erster Linie darum, „zur Schau zu stellen“ – um aufzuzeigen, was alles möglich war und ist; vielleicht nicht nur in den 1970er-Jahren.

Anmerkungen:
1 Ingrid Scherf, Wem gehört die Stadt?, in: Gaudiblatt Nr. 15/2013, S. 2-5, hier S. 2.
2 Johannes Moser / Simone Egger, Vom Glück, eine schöne Stadt zu sein. Zur Ästhetik von Elbflorenz und Isarathen, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 106 (2010) Heft 1: Alltagsglück. Populäre Befindlichkeiten, Sinnkonstrukte und Praktiken. Festgabe für Ueli Gyr, hrsg. von Ingrid Tomkowiak und Gabriela Muri, S. 91-104.
3 Gerhard Fürmetz (Hrsg.), „Schwabinger Krawalle“. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006, und Vortrag von Gerhard Fürmetz zum Thema „Gewährkolben [sic] für Geschäftszeichen. Die Ladenschlussunruhen von 1953/54 und die Polizei“ im Bayerischen Hauptstaatsarchiv am 19. April 2011.
4 Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, München 2011.
5 Gemeint war Adolf von Thadden, der damalige NPD-Bundesvorsitzende.
6 Rolf Lindner, Vom Wesen der Kulturanalyse, in: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), S. 177-188.
7 Vgl. Simone Egger, München wird moderner. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren, Bielefeld 2013.