C. Buchheim u.a. (Hrsg.): Europäische Volkswirtschaft unter NS-Hegemonie

Cover
Titel
Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938–1945.


Herausgeber
Buchheim, Christoph; Boldorf, Marcel
Reihe
Schriften des Historischen Kolleges, Kolloquien 77
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
IX, 270 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Erforschung der deutschen „Großraubwirtschaft“ im Europa des Zweiten Weltkrieges hat zuletzt einen Aufschwung erlebt, der von zwei Entwicklungen angetrieben wurde. Zum einen wandten sich die nationalen Historiographien in den 1990er-Jahren verstärkt der jeweiligen Besatzungsgeschichte zu; zum anderen nahm die Ausbeutung Europas zentralen Raum in Gesamtinterpretationen ein, die längst nicht nur Götz Aly mit der umstrittenen These von der Gefälligkeitsdiktatur vorlegte.1 Der von Christoph Buchheim und Marcel Boldorf herausgegebene Sammelband steht in diesem Kontext, und sein zentrales Anliegen besteht darin, vor allem die „internationalen Forschungen stärker miteinander zu verzahnen“ (S. 1).

Vollauf überzeugen kann der Band mit einem höchst differenzierten Blick auf die unterschiedlichen Besatzungsregime. Bereits der Abschnitt über die Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerungen zeigt eindrücklich, wie stark die deutsche Besatzungspolitik von rassistischen Überlegungen geprägt war. Während der Lebensstandard im besetzten Dänemark (Steen Andersen) sogar deutlich höher war als im Reich, stellt Sergei Kudryashov dem die tödlichen Lebensumstände in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine gegenüber. In einem zweiten Abschnitt präsentieren Jonas Scherner und Kim Oosterlinck Belege dafür, dass das Wirtschafts- und Rüstungspotential der besetzten Gebiete bereits sehr frühzeitig für die deutsche Kriegführung nutzbar gemacht wurde. Von einer Blitzkriegswirtschaft konnte also auch in dieser Hinsicht keine Rede sein. So bezog die Wehrmacht schon sehr früh ein Viertel ihrer Waffen und Ausrüstungsgegenstände von Herstellern in den besetzten Gebieten.

Das zentrale Kapitel des Bandes befasst sich mit Fragen der Wirtschaftslenkung und dem unternehmerischen Agieren in den besetzten Gebieten. Marcel Boldorfs umfassender Überblick über die deutsche Wirtschaftsadministration in Frankreich betont ebenso wie die Unternehmerstudie von Hervé Joly, dass der relativ kleine Besatzungsapparat auf die freiwillige Unterstützung durch französische Unternehmer und Technokraten bauen konnte – auch deshalb, weil Exporte nach Deutschland oder Rüstungsaufträge finanziell attraktiv waren. Ähnliche Anreizsysteme finden Jaromír Balcar und Jaroslav Kučera zwar auch in der Wirtschaft des Protektorats Böhmen und Mähren. Sie stellen aber heraus, dass tschechische Unternehmen angesichts des Germanisierungsdrucks und des stets präsenten staatlichen Drohpotentials sehr viel geringere Handlungsspielräume besaßen. Andrzej Wrzyszcz demonstriert am Beispiel der begrenzten Eingriffsmöglichkeiten der deutschen Justizverwaltung, dass die Ausbeutung des Generalgouvernements von einer straffen Verwaltung administriert wurde. Harald Wixforth fragt, ob Banken in den besetzten Gebieten als Instrumente der deutschen Hegemonie dienten. Zwar profitierten die Banken von der räumlichen Ausdehnung ihres Geschäfts und beteiligten sich aktiv an der Raubwirtschaft. Aber sie folgten dabei durchweg den politischen Vorgaben der Besatzungsverwaltung, auf deren Formulierung sie keinen Einfluss nehmen konnten. Der letzte Abschnitt wendet sich schließlich mit der Schweiz (Harold James) und Spanien (Jordi Catalan) zwei neutralen Staaten zu, deren Wirtschaftskraft die deutsche Kriegsanstrengung stützte – wenn auch nicht in so starkem Maße wie häufig angenommen.

Diese Forschungen in einem Band zusammenzuführen ist fraglos nützlich, muss aber noch keine inhaltliche „Verzahnung“ bedeuten. Diese könnte wohl am ehesten von einem Argument geleistet werden, das an vielen Stellen des Buches präsent ist – der maßgeblich von Christoph Buchheim und seinen Schülern etablierten Interpretation der NS-Wirtschaft als weithin marktkonformer, weniger über Zwang als über finanzielle Gewinnanreize gesteuerter Ökonomie. Auf eine programmatische Einleitung aus der Feder Christoph Buchheims wäre man nicht nur gespannt gewesen, weil diese These durchaus nicht unumstritten ist.2 Interessiert hätte sie schon deshalb, weil die empirischen Arbeiten der „Mannheimer Schule“ die Kriegsjahre ausgeklammert hatten.3 Demgegenüber führen die Beiträge des Sammelbandes eindrücklich vor, dass in den besetzten Gebieten oft kaum noch von freien Investitionsentscheidungen oder gesicherten Eigentumsrechten die Rede sein konnte. Allein: Buchheim starb 2009 im Alter von 55 Jahren und konnte die Arbeit an diesem Band nicht mehr abschließen. Marcel Boldorf, der für Buchheim einsprang, stellt in seiner Einführung heraus, dass die unternehmerische Handlungsfreiheit zu bestimmten Zeitpunkten der jeweiligen Besatzungsherrschaft zwar überraschend groß ausfallen konnte – sofern dies der rassistische Referenzrahmen des Nationalsozialismus überhaupt gestattete. Aber er verschweigt eben auch nicht, dass im Bewirtschaftungssystem Betriebe zwangsweise geschlossen, Arbeitskräfte abtransportiert, Rohstoffe und Materialien in die militärisch gewünschte Produktion umgelenkt und insgesamt die Produktionsmöglichkeiten derart eingeschränkt wurden, dass schon der „Gebrauch des Terminus ‚Handlungsspielräume‘ auf eine falsche Fährte“ führt (S. 20). Die unterschiedlichen Besatzungsregime nicht über den Kamm einer Generalinterpretation zu scheren, zählt zu den größten Vorzügen des Bandes.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Adam Tooze, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006; Mark Mazower, Hitler’s Empire. Nazi Rule in Occupied Europe, London 2008.
2 Peter Hayes, Corporate Freedom of Action in Nazi Germany, in: GHI Bulletin 45/2009, S. 29–42; Cornelia Rauh, Wirtschaftsbürger im „Doppelstaat“. Zur Kritik der neueren Forschung, in: Norbert Frei / Tim Schanetzky (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010, S. 100-115.
3 Vgl. v.a. Jonas Scherner, Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung, Stuttgart 2008; Ulrich Hensler, Die Stahlkontingentierung im Dritten Reich, Stuttgart 2008; Michael Ebi, Export um jeden Preis. Die deutsche Exportförderung von 1932–1938, Stuttgart 2004; Gerd Höschle, Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität, Stuttgart 2004.

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