R.M. Douglas: "Ordnungsgemäße Überführung"

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Titel
"Ordnungsgemäße Überführung". Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Richter


Autor(en)
Douglas, R.M.
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
556 S., 16 Abb., 3 Karten
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Schwendemann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Seit einigen Jahren sind Ursachen, Verlauf und Folgen der Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches sowie der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa verstärkt Themen der zeitgeschichtlichen Forschung – sowohl in der Bundesrepublik als auch in Polen und Tschechien. Bedeutsam sind die Vertreibungsvorgänge der Jahre 1945–1947/48 nicht zuletzt im breiteren Kontext von Massenvertreibungen und „Bevölkerungsaustausch“ im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Im Beck-Verlag sind in den letzten Jahren grundlegende Arbeiten zur Vertreibungsproblematik von Norman Naimark, Thomas Urban und Mathias Beer erschienen.1 Letzterer hat in seinem knappen Überblick den neuesten Forschungsstand vorzüglich abgehandelt. Mit der Studie des irischen, in den USA lehrenden Historikers R.M. Douglas veröffentlicht der Verlag nun eine erste Gesamtdarstellung zu diesem Thema. Zu Recht bemerkt der Autor, dass das Nichtwissen über die Vorgänge groß ist. In der Tat: Nicht einmal über die Zahl der Todesopfer wissen wir genau Bescheid. Und Douglas stellt ebenso zu Recht fest, dass ein exaktes Wissen über die Vorgänge für Polen und Tschechen die „nationalen Erzählungen [untergräbt], in denen Deutsche ausschließlich als Täter und die eigenen Völker als Opfer erscheinen“ (S. 14). Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Vertreibungen Folge des von NS-Deutschland initiierten Vernichtungskriegs und der entgrenzten Gewaltherrschaft in Osteuropa gewesen sind.

Seine Darstellung der Vorgeschichte der Vertreibungen entspricht allerdings nicht dem derzeitigen Forschungsstand. Längst überholt ist die These, dass der tschechoslowakische Exilpräsident Beneš der eigentliche „Planer“ der Massenvertreibungen gewesen sei, auf den sich die Alliierten schließlich eingelassen hätten. Seit der Studie von Detlev Brandes2 wissen wir diesbezüglich detailliert Bescheid: So beschäftigte sich die polnische Exilregierung schon früh mit Überlegungen, bei Gebietsabtretungen für ein künftiges Nachkriegspolen (Ostpreußen, Oberschlesien, Teile Pommerns) die Deutschen „auszusiedeln“. Die britische Regierung machte eigenständige Pläne, und Churchill selbst war ein vehementer Befürworter eines Bevölkerungstransfers. Für Stalin waren Deportationen ohnehin Bestandteil seiner Politik.

Wenig Augenmerk legt Douglas auch auf die Praktiken der deutschen Besatzungspolitik, die ungeheure Dimension der NS-Terrorherrschaft in Polen, der ein Fünftel der Bevölkerung zum Opfer gefallen ist. Gerade die Vertreibungspraktiken, die die NS-Besatzer im Rahmen der Germanisierungspolitik gegenüber polnischen Bevölkerungsteilen anwandten und die später von polnischer Seite kopiert wurden – etwa die überfallartige Räumung von Dörfern mit anschließender Deportation –, können den Umgang mit der deutschen Zivilbevölkerung nach 1945 natürlich nicht rechtfertigen, aber wenigstens zum Teil erklären.

Die Entscheidung der „Großen Drei“, die Grenzen Polens zugunsten der Gebietsansprüche Stalins in Ostpolen nach Westen zu verschieben und in der Konsequenz die deutsche Bevölkerung umzusiedeln, war bereits bei der Konferenz in Teheran im November 1943 gefallen. Letztlich belegt Douglas, dass die Alliierten bereit waren, eine humanitäre Katastrophe zu riskieren. Warnende Stimmen, dass die Vertreibung von Millionen Deutschen ein gigantisches Chaos herbeiführen werde, wurden ignoriert. Dies zeigte sich schon während der Agonie des NS-Staats 1944/45, als Millionen Deutsche im Osten vor der Roten Armee nach Westen flüchteten. Erstaunlicherweise sind diese Ereignisse, die der Vertreibung vorausgingen, dem Autor nur wenige Sätze wert. Eine Differenzierung zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen scheint er nicht zu kennen: Alle sind „Vertriebene“. Eine vergleichbare Unschärfe herrscht bei der Bezeichnung der vertriebenen Deutschen, für Douglas die „Volksdeutschen“ – tatsächlich jedoch waren dies ganz überwiegend Reichsbürger aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches.

Im Kapitel zu den „wilden Vertreibungen“ des Jahres 1945 liegt der Fokus auf den blutigen Ausschreitungen gegenüber den Sudetendeutschen und deren Vertreibung in die amerikanische und die sowjetische Besatzungszone, eine eindrucksvolle und zugleich verstörende Darstellung der Explosion von Gewalt gegen wehrlose Menschen. Kaum berücksichtigt werden aber die polnischerseits unter ebenso großer Brutalität vollzogenen „wilden Vertreibungen“ aus den Grenzgebieten von Oder und Neiße, die im Sommer 1945 gezielt geräumt wurden, um vor der Konferenz von Potsdam vollendete Tatsachen zu schaffen.

Sehr stark sind die folgenden Kapitel über die Begleitumstände der Vertreibungen der Jahre 1946/47, gestützt auf Berichte humanitärer Organisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz, von westlichen Diplomaten, Funktionsträgern und Journalisten sowie aus den Archivbeständen der Vertreibungsstaaten. Douglas entwirft ein breites Panorama „einer der schlimmsten menschengemachten Katastrophen, die den Kontinent nach 1945 betraf“ (S. 14) und die die Weltöffentlichkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte.

Bei der Potsdamer Konferenz war auf Druck der Westalliierten beschlossen worden, dass die euphemistisch so bezeichneten „Umsiedlungen“ künftig „ordnungsgemäß und human“ erfolgen sollten. Anschließend legte der alliierte Kontrollrat Aufnahmequoten für die Besatzungszonen fest. Ging die bisherige Forschung meist davon aus, dass sich die Bedingungen für die Vertriebenentransporte tatsächlich verbessert hätten, so weist Douglas nach, dass dem nicht so gewesen ist, und bestätigt damit den Grundtenor der in den 1950er-Jahren im Rahmen der „Dokumentation der Vertreibung“ gesammelten Zeitzeugenberichte. Unverständlich ist allerdings seine Weigerung, diese Quellen in seine Analyse mit einzubeziehen (S. 18).

Grundsätzlich waren und blieben die Deutschen in den Vertreibungsländern rechtlos. Das war auch die Erfahrung der polnischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung gewesen, eine Erfahrung, die jetzt auf die Deutschen zurückschlug. Zwischen Schuldigen und Unschuldigen wurde nicht unterschieden, und es traf vor allem die Wehrlosen – Frauen, Kinder und Alte. Eine Welle von Gewalt kam über diese Menschen: Milizen, Rotarmisten und kriminelle Banden plünderten die von Deutschen bewohnten Gebiete aus, Frauen wurden massenhaft und andauernd sexueller Gewalt ausgesetzt, Männer und Frauen zur Zwangsarbeit eingesetzt, oft mit einem aufgemalten N (Niemcy) als Deutsche stigmatisiert und dadurch zur Misshandlung freigegeben. Hunger grassierte, die Versorgung mit Nahrungsmitteln war katastrophal. In den vielen Lagern, in die Deutsche eingeliefert wurden, erlebten sie brutale Ausschreitungen. Douglas zufolge waren die Terrorpraktiken in vielem mit denen der Nazis vergleichbar, doch anders als jene waren diese Lager nicht zur gezielten Vernichtung von Menschen konzipiert. Dennoch starben Tausende an Hunger, Krankheiten und den Folgen von Misshandlungen. Besonders bedrückend ist das Kapitel über die Kinder, die unter den katastrophalen Bedingungen schwer zu leiden hatten und deren Mortalität sehr hoch war. Kinder verloren ihre Familien, die bei Deportationen oft auseinandergerissen wurden, oder weil Elternteile starben. Oft wurden Kinder auch von den Behörden zurückbehalten, wurde die Volkstumspolitik der Nazis unter umgekehrten Vorzeichen kopiert. „Kein polnisches Blut jenseits der Oder“ hieß die Parole. Schätzungsweise waren noch 1950 rund 160.000 bis 180.000 Kinder von ihren Eltern getrennt.

Was Gregor Thum am Beispiel von Breslau/Wrocław exemplarisch gezeigt hat3, beschreibt Douglas umfassend: wie im „wilden Westen“ – so polnische und tschechische Zeitgenossen über die ehemaligen deutschen Gebiete – örtliche Milizen, lokale Machthaber und Zuwanderer die „wiedergewonnenen Gebiete“ ausplünderten, Gewalt gegen Deutsche ausübten und wirtschaftliche Werte vernichteten. Weite Gebiete waren menschenleer, da den 8 bis 9 Millionen Deutschen aus den früheren Ostgebieten des Deutschen Reiches und den 3 Millionen Sudetendeutschen keine entsprechenden Zuwandererzahlen gegenüberstanden. Aus Ostpolen, das an die Sowjetunion fiel, wurden zur gleichen Zeit über 2 Millionen Polen vertrieben, von denen aber auch nur 1,3 Millionen in die neuen polnischen Westgebiete kamen. Der wirtschaftliche Niedergang dieser ehedem entwickelten Gebiete war unausweichlich, und ihre Rückständigkeit dauert mancherorts bis heute an.

Angekommen in den Besatzungszonen setzte sich für die Vertriebenen das Elend fort. Die Alliierten hatten nichts unternommen – so Douglas' berechtigter Vorwurf –, um diese gigantische Bevölkerungsverschiebung zu organisieren. In den Zonen war die Situation ohnehin angespannt: zerstörte Städte, Wohnraummangel und eine sich verschärfende Versorgungslage. Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, die improvisiert untergebracht und versorgt wurden, trugen zur weiteren Eskalation bei. Nicht zuletzt wegen dieser unhaltbaren Situation stoppten die Alliierten 1947 die Massenvertreibungen.

In den abschließenden Kapiteln zur Integration der Vertriebenen in den 1950er-Jahren, zur Diskussion über Vertreibung und Völkerrecht und zur lange umstrittenen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik nimmt Douglas engagiert Stellung und zieht letztlich eine negative Bilanz. Die klassischen Argumente einer Unausweichlichkeit der Vertreibungen weist er zurück, ebenso die Selbstrechtfertigungen („Fünfte Kolonne“), wie sie noch in Teilen der polnischen und tschechischen Gesellschaft verbreitet sind. Für den Autor ist es fast ein Wunder, dass durch die Integration der Vertriebenen in Deutschland nicht ein dauerhafter europäischer Krisenherd entstanden ist.

Douglas' Studie kann dem Anspruch einer Gesamtdarstellung noch nicht genügen und besitzt eine Reihe von „Lücken“, wie er selbst einräumt. So werden regionale Unterschiede etwa zwischen Niederschlesien und Oberschlesien oder zwischen Masuren und dem nördlichen Ostpreußen, das unter sowjetischer Herrschaft stand, nicht berücksichtigt. Auch die Rolle der sowjetischen Besatzer kommt eher am Rande vor. Dennoch ist dieses Buch wegen der schonungslosen Darstellung „eines der größten Fälle massenhafter Menschenrechtsverletzungen in der modernen Geschichte“ (S. 15) von zentraler Bedeutung für die künftige Diskussion über die Vertreibungsproblematik. Letztlich hatten Gewalt und Gesetzlosigkeit, die Begleitumstände der Vertreibungen, es den Kommunisten erleichtert, ihre Herrschaft gegen den Willen der Mehrheit der eigenen Bevölkerung zu errichten. So stand bezeichnenderweise am Ende des Vertreibungsprozesses 1947/48 zugleich die Stalinisierung Ostmitteleuropas.

Anmerkungen:
1 Norman M. Naimark, Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004; Thomas Urban, Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, München 2004; Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011.
2 Detlev Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München 2001.
3 Gregor Thum, Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin 2003.