A. Harder (Hrsg.): Callimachus, Aetia

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Titel
Callimachus, Aetia. Volume 1: Introduction, Text, and Translation; Volume 2: Commentary


Herausgeber
Harder, Annette
Erschienen
Anzahl Seiten
Vol. 1: XII, 362 S.; Vol. 2: 1061 S.
Preis
£ 225,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin

In den frühen 1980er-Jahren fasste die niederländische Gräzistin Annette Harder den Plan zu einem umfassenden Kommentar zu den Aitia; ein neuer Text samt Übersetzung kam später mit auf die Agenda. Drei Jahrzehnte später wird Harders Ausdauer mit einer der bedeutendsten gräzistischen Publikationen der jüngsten Jahre belohnt – und der besten Ausgabe eines hellenistischen Textes seit Pfeiffers monumentalem Callimachus.1

Doch von Anfang an: Die Aitia sind Kallimachos’ (in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v.Chr. entstandenes) Hauptwerk. Sie gelten heute als die wohl erfolg- und folgenreichste poetische Schöpfung des Hellenismus, ja vielleicht – Homer ausgenommen – der griechischen Literatur überhaupt. Auch wenn die moderne Forschung sie erst in den letzten Jahrzehnten zu begreifen und zu erschließen beginnt – antike Leser waren sich der sublimen (von Harder zu Recht als archetypisch alexandrinisch charakterisierten) Qualitäten dieses Textes – seiner charmanten Vielfalt, seiner intellektuellen Brillanz, seiner sprachlichen Raffinesse, seines verspielten Witzes – offenbar sofort bewusst. Die Aitia wurden von Anfang an bewundert, zitiert, imitiert. In der griechischen, aber auch der römischen und byzantinischen Literatur haben sie ungezählte Spuren hinterlassen.

Harders monographische Einführung (Bd. 1, S. 1–108) bietet einen vorzüglichen Überblick zum Werk insgesamt. Seine mutmaßliche Genese referiert sie im Anschluss an Parsons: Der noch junge Kallimachos schrieb und publizierte Aitia 1–2. In den Jahren danach entstanden weitere aitiologische Gedichte, die er später in den Büchern 3–4 sammelte. Diese zweite ‚überarbeitete und erweiterte‘ Ausgabe der Aitia rahmten ein neuer Pro- und Epilog (wie die beiden Gedichte auf Königin Berenike Aitia 3–4 rahmen).2 Detailliert skizziert Harder die Architektur der Aitia. Auch wenn die Abfolge der einzelnen Episoden eher unorganisiert wirkt, liegt dem Ganzen doch ein erkennbares Gesamtkonzept zugrunde, das vom mythischen König Minos zur alexandrinischen Gegenwart führt.3

Vorsichtige Rekonstruktionen gelten den vier Büchern der Aitia (dass in Buch drei – wie bei Apollonios von Rhodos – das Thema Liebe eine, wenn nicht gar die zentrale Rolle gespielt habe, ist eine ansprechende These). Den roten Faden des Ganzen liefern die ‚Aitia‘ des Titels – Ursprung und Herkunft vor allem von Kulten und Ritualen. Daneben finden sich Themen, die allenfalls bedingt als ‚Aitia‘ gelten dürfen: die Gründung von Städten, Ekphraseis von Kunstwerken, mythische Erzählungen wie die Geburt der Chariten oder Liebesgeschichten. Oft kreisen die Episoden um kleine Orte aus der gesamten hellenischen Welt und zeigen einen stark lokalen Charakter.

Längere Ausführungen gelten der Gattung des Textes: Harder rechnet dieses ‚aitiologische Katalog-Gedicht in elegischen Disticha‘ zur antiquarischen didaktischen Dichtung und diskutiert die Rolle der Aitiologie in der antiken Literatur von Homer und Hesiod an, etwa bei Pindar oder in der attischen Tragödie, aber auch in der klassischen römischen Literatur (vor allem bei Gallus, Vergil, Properz und Ovid), sowie das lebhafte Interesse hellenistischer Autoren an obskuren lokalen aitiologischen Geschichten, wie die alexandrinische Bibliothek sie wohl in großer Zahl sammelte. Zur Sprache kommen auch die vielen kleinen Genres wie Epinikion, Epigramm, Hymnus und Epithalamium, mit denen Kallimachos experimentiert, sowie das Verhältnis der Aitia zur erzählenden epischen Dichtung (vor allem Homer) und zur elegischen Tradition von Mimnermos an.4

Als zeitgenössisches Publikum der Aitia macht Harder die kulturelle Elite mit engen Beziehungen zum ptolemäischen Hof und zum Museion aus, wo Teile des Textes vielleicht zuerst in kleiner Runde gelesen oder aufgeführt wurden. Dass es über diesen engeren Kreis hinaus ein interessiertes breiteres Publikum von Lesern in der Provinz gab, das die reichen gelehrten Details der Aitia in privater Lektüre goutierte, machen die Papyrusfunde vielerorts in Ägypten wahrscheinlich. Ausführungen zu Kallimachos’ literarischer Technik – Vokabular, Wortstellung, Metrik, Bildsprache, Erzähltechnik (mit Auskünften zu den wechselnden Erzählperspektiven und den verschiedenen ‚Erzählern‘ des Textes, samt ihrem Verhältnis zum historischen Kallimachos) – runden das Bild. Es geht etwa um die Rolle der Musen, um die wörtlichen Reden im Text, um die für literarische Experimente offene Dialogform und nicht zuletzt um die hohe ‚Intertextualität‘ der Aitia: ihre Verflechtung mit den Werken Homers, Hesiods, Pindars, des Apollonios von Rhodos (um nur die wichtigsten Referenzen zu nennen).5

Zuletzt handelt Harder von der Überlieferung des Textes, die neben den Diegeseis (der Überbegriff für die antike ‚Sekundärliteratur‘ zu den Aitia, also Scholien, Paraphrasen und Kommentare) auf zahlreichen, meist schmerzlich kurzen antiken Buchzitaten basiert, insbesondere aber auf Papyri aus einem ganzen Jahrtausend, vom 3. Jahrhundert v.Chr. bis zum 6./7. Jahrhundert n.Chr. Gelesen wurde der Text bis in die byzantinische Ära. Die vielleicht letzte vollständige Kopie der Aitia ging womöglich 1205 zugrunde, als beim vierten Kreuzzug fränkische Ritter Athen brandschatzten. Ein faszinierendes Kapitel neuzeitlicher Philologie-Geschichte ist es, wie von Politian an der verlorene Text nach und nach in einer stetig wachsenden Zahl von Splittern wieder ausgegraben wurde.

Die maßgebliche moderne Gesamtedition des Kallimachos stammt – wie erwähnt – von Pfeiffer. Zwei Generationen nach Pfeiffer gelingt Harder das Kunststück, die umfassendsten Aitia der Neuzeit vorzulegen (einschließlich aller jüngeren und jüngsten Papyrusfunde), deren Text nicht nur auf einer neuen Überprüfung sämtlicher Quellen basiert6, sondern auch die gesamte Literatur zum Thema verwertet (30 dicht gefüllte Seiten Bibliographie sprechen Bände) und philologisch selbst höchste Ansprüche erfüllt. Die Fortschritte ihrer Edition sind auf jeder Seite zu greifen. Dass Harder der Ausgabe auch eine nüchterne, textnahe Übersetzung beigegeben hat, ist bei sprachlich so anspruchsvollen Fragmenten eine glückliche Idee. Als Segen erweist sich aber vor allem der überreiche Kommentar, der die Aitia in allen erdenklichen Verästelungen philologisch wie poet(olog)isch ausleuchtet und die Exegese dieses Schlüsseltextes auf Schritt und Tritt fördert.

Was Harder hier im Einzelnen leistet, lässt sich am ehesten exemplarisch zeigen, etwa an der Erzählung von Akontios und Kydippe (67–75e Harder, Bd. 1, S. 231–247 ~ Bd. 2, S. 541–659): Die Einleitung diskutiert unter anderem Kallimachos’ Quelle, den Lokalhistoriker Xenomedes von Keos aus dem 5. Jahrhundert v.Chr., und das Aition der Episode, den Aufstieg des Herrschergeschlechts jener Insel, der Akontiaden. Im Zentrum steht freilich die Geschichte der beiden Liebenden, die Harder umsichtig rekonstruiert. Sie schmeckt nach der Neuen Komödie, nimmt aber auch Motive des griechischen Romans vorweg – mit dem gravierenden Unterschied, dass Kallimachos sie aus rein männlicher Perspektive erzählt; nirgendwo ist von den Gefühlen Kydippes die Rede. Ausführlich erörtert Harder die Erzähltechnik der Episode, in der markante Tempowechsel und Exkurse ebenso auffallen wie feine Anspielungen auf die von Keos stammenden Dichter Simonides und Bacchylides oder das selbstironische Spiel mit der Rolle des gelehrten Erzählers.

Der wahre Reichtum des Kommentars erschließt sich freilich erst in den ungezählten Lemmata zu einzelnen Versen und Wendungen. Auf zwei ganzen Seiten erhellt Harder die dichten Assoziationen der vier Eröffnungsworte, die Eros’ Rolle in der Geschichte reflektieren und das Sujet Liebe zur göttlichen ‚Chefsache‘ erklären. Exzellent analysiert sie das Porträt des Akontios als typischen Jünglings der hellenistischen Literatur (wie vor allem das erotische Epigramm ihn darstellt) oder die Rolle des Kottabos (einer Art Trinkspiel) als Liebesorakel. Scharfäugig deckt sie gleich mehrere Lesertäuschungen am Anfang von fr. 74 auf, wo Kallimachos ein vorhochzeitliches Fruchtbarkeitsritual auf Naxos schildert. Die allerersten Worte erinnern ominös an Grabepigramme für Mädchen, die vor ihrer Hochzeit starben (zudem lässt ein dunkles Echo aus Sophokles, der exotische Begriff tālin für „Braut“, gelehrte Leser um Kydippes Leben fürchten); gleich danach hört es sich an, als hätte Kydippe ihren Bräutigam mit einem anderen betrogen.7

Auf der Höhe ihrer Kunst erleben wir Harder bei der Analyse der „Abbruchsformel“ (Kallimachos fällt sich selbst ins Wort). Wie Harder die raffiniert verschlüsselten Motive des Dichters mit Scharfsinn und stupender Belesenheit entwirrt, ist ein Kabinettstückchen philologischen Handwerks. Dass es sich nicht um die typische Aposiopese bei heiklen Themen handelt, legt schon die Vertrautheit des Hieros gamos als literarischem Sujet nahe. Kallimachos, so Harders überzeugende Beweisführung, setzt sich mit einem zeitgenössischen Dichter auseinander, Sotades, der anlässlich der Hochzeit des Ptolemaios Philadelphos mit seiner Schwester zur Rechtfertigung der ptolemäischen Geschwisterehe auf Zeus’ und Heras Hieros gamos anspielte, im gleichen Atemzug aber lose Scherze über den königlichen Inzest riskierte. Mit einem Seitenblick auf Platon (der im Staat den Hieros gamos als literarisches Sujet in Frage stellt) führt Kallimachos vor, was Sotades besser getan hätte (schweigen); und mit einer Anspielung auf die aristophaneischen Vögel demonstriert er, wie man einem Herrscher subtile Komplimente macht.

Schon diese wenigen Beispiele dürften belegen, dass Harders Ausführungen unser Verständnis des hellenistischen Dichterfürsten dramatisch erweitern. Und was es angesichts von über tausend Seiten Kommentar durchaus zu vermerken gilt: die durchdachte Präsentation der Argumente, die Konzentration auf das Wesentliche, der klare Stil machen das Werk eminent lesbar; keine Seite, die man nicht mit Vergnügen studierte, die nicht zum Weiterdenken angeregt. Wagen wir ein großes Wort: Harders Aitia gehören schon jetzt zu den Monumenten moderner Philologiegeschichte und werden wie Pfeiffer mit dem Namen Kallimachos fest verbunden bleiben.

Anmerkungen:
1 Rudolf Pfeiffer (Hrsg.), Callimachus, Bd. 1: Fragmenta; Bd. 2: Hymni et Epigrammata, Oxford 1949–1953.
2 Ihren Umfang veranschlagt Harder mit rund 5.000 Hexameter (vergleichbar dem Epos des Apollonios von Rhodos), von denen etwa ein Viertel ganz oder teilweise erhalten sind.
3 Als möglichen Einfluss macht Harder Hesiods Theogonie aus, die dem Weg vom urzeitlichen Chaos zur wohlorganisierten Welt der Olympier folgt (Bd. 1, S. 21). Faszinierend liest sich Harders Vermutung, der reife Kallimachos deute die Weltgeschichte aus der Perspektive der ptolemäischen Ideologie.
4 Überraschend genug finden sich in den Aitia kaum Bezüge zum dritten großen hellenistischen Dichter, Theokrit.
5 Die vieldiskutierten Beziehungen zwischen Aitia und Argonautica sieht Harder so: Da beide Werke parallel über einen langen Zeitraum hin entstanden seien, konnten Kallimachos und Apollonios auf das Werk des anderen reagieren. Da die Argonautica allerdings vor der zweiten Ausgabe der Aitia vollständig vorlagen, hatte Kallimachos das letzte Wort (vgl. Bd. 1, S. 33).
6 22 der 37 maßgeblichen Papyri kollationierte Harder im Original. Sie konnte auch ein noch unpubliziertes Bruchstück heranziehen, P.Mich. inv. 5475c.
7 Dass Kallimachos notabene, wie Harder überzeugend folgert, das Ritual von Naxos mit dem Hieros gamos zwischen Zeus und Hera (Ilias 14) in Verbindung bringt, also seinen Charakter als Fruchtbarkeitsritual verkannt hat, wirft ein neues Licht auf das Bild vom poeta doctissimus.

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