J. Bahlcke: Landesherrschaft in der Frühen Neuzeit

Cover
Titel
Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit.


Autor(en)
Bahlcke, Joachim
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 91
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 170 S.
Preis
€ 21,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Näther, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das Ziel der „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ ist, so schreibt Lothar Gall im Vorwort der Reihe, interessierten Lesern mit unterschiedlichen Wissensständen „ein Arbeitsinstrument“ an die Hand zu geben, mit dem „sie sich rasch und zuverlässig über den gegenwärtigen Stand […] der Forschung orientieren können“ (S. XI). Um es vorwegzunehmen: Joachim Bahlcke wird dieser Zielsetzung mit seinem Band zu „Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit“ gerecht. Dem Autor gelingt es, das umfangreiche Thema sinnvoll zu reduzieren, differenzierte Zusammenfassungen von Forschungsdebatten und Literatur vorzulegen und so eine große sachliche Lücke der Reihe zu schließen.

Die Monographie gliedert sich wie alle Bände der Reihe in die drei Teile des enzyklopädischen Überblicks, der Darstellung von Grundproblemen und Tendenzen der Forschung sowie der Dokumentation von Quellen und Literatur. Bahlcke beginnt das erste Kapitel mit einer kurzweilig zu lesenden Einführung zum zeitgenössischen Verständnis von Herrschaft in Reich und Territorien. Der Abschnitt verdeutlicht durch seinen Blick ‚von unten‘ die komplexen Herrschaftsstrukturen des Reiches, die auch für die Untertanen nicht immer leicht zu durchschauen waren. Zugleich legt die Einführung die gelehrte Perspektive auf die Reichsstrukturen konzise dar und greift die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stärker werdende Kritik an der Komplexität des Reichsgebildes auf. Die Hinweise werden mit Ausführungen zum im europäischen Vergleich spät entstehenden Nationalbewusstsein und zu den „Erfolge[n] der territorialen“ (S. 6) Ordnung verknüpft.

Im zweiten Abschnitt beschäftigt sich Bahlcke mit den räumlichen Strukturen und Erscheinungsformen von Herrschaft im Reich. Neben den Vorgängen, die zur Entstehung und Konsolidierung geschlossener Territorien führten, beschreibt der Autor auch die Rolle von Erbfolgen, Reichsstandschaft, der Formenvielfalt von Herrschaft im Hinblick auf weltliche und geistliche Obrigkeiten sowie territoriale Machtpolitik in Horizontale und Vertikale. Der Leser wird über Faktoren und Verteilung der Macht im Reich, territoriale Bündnisse sowie die Bedeutung epochaler Prozesse wie Reformation und Konfessionalisierung in ausgesprochen gut geordneter Form informiert.

Etwas durchwachsener fällt das dritte Kapitel aus, das sich der Herrschaft in den Territorien widmet und dazu Strukturen der Verwaltung, des Rechts, der Finanzen sowie des Kirchen-, Militär- und Kriegswesens thematisiert. Zwar gelingt es Bahlcke stets, große Entwicklungslinien in der Zeit zwischen 1500 und 1800 aufzuzeigen, etwa wenn er pointiert Gründung und Ausbau von Verwaltungsorganen beschreibt. Mitunter offenbaren sich im Detail allerdings Unschärfen. So konstatiert der Autor beispielsweise im Abschnitt zu „Gesetzgebungskompetenz und Gesetzgebung“, diese hätten sich „während der Frühen Neuzeit auf die Ebene der erstarkenden Territorialstaaten verlagert“ (S. 27). Dies ist missverständlich, da so das Aushandeln von Gesetzgebung vor 1500 und der unter anderem durch Reformation und Konfessionalisierung überhaupt erst erzeugte und damit nicht „verlagerte“ normative Regelungsbedarf aus dem Blick geraten. Zudem fehlen im dritten Kapitel einige Hinweise zur Praxis vormoderner Herrschaft. Der juristische Alltag in Reich und Territorien etwa wird nicht thematisiert, und es gibt auch keine Passage zur noch nicht vollzogenen Trennung von Judikative und Exekutive, die für weniger vorinformierte Leser/innen wichtig wäre. Außerdem mangelt es an einem Abschnitt zu den konkreten Mitteln des landesherrlichen Kirchenregiments.

Dagegen ist das vierte Kapitel zum Ständetum rundum gelungen. Die Beschreibung von institutionellen Strukturen, der konkreten Interessenvertretung, der Aushandlung von Macht zwischen Fürsten und Ständen und der Bedeutung von Reichskammergericht und Reichshofrat sind übersichtlich, informativ und gut lesbar. Zudem erhält man einen Eindruck von Entwicklungsdynamiken, etwa vom Rückgang ständischer Mitspracherechte bis ins 18. Jahrhundert. Auch findet hier die Herrschaftspraxis Erwähnung, etwa wenn Steuereinziehung oder Aushebungen für militärische Zwecke beschrieben werden.

Der enzyklopädische Teil schließt mit eloquenten Hinweisen zu den deutschen Staatsbildungsprozessen im europäischen Vergleich und bindet Quellen ein, die das Verständnis, nicht selten aber auch Unverständnis der Zeitgenossen in Bezug auf die territoriale Untergliederung des Reiches spiegeln. Herausgearbeitet wird, dass die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern getrennt verlaufene Staats- und Nationsbildung nicht zum Gegenstand einer Diskussion um Fort- oder Rückschrittlichkeit taugt, sondern als spezifisches Beispiel für den Wandel von Staat und Gesellschaft gesehen werden sollte.

Der zweite Teil zu Grundproblemen und Tendenzen der Forschung ist nach den Themengebieten der Staatsbildung, der Wirkungen und Reichweite von Herrschaft und der exemplarischen Darstellung von Forschungskontroversen gegliedert. Da das Thema der Monographie räumlich, zeitlich und sachlich überaus breit ist, muss Bahlcke hier eine eigentlich unlösbare Aufgabe vollbringen, die er aber geschickt meistert. Er beginnt mit einer umfassenden Einführung zur Entwicklung des Staatsbegriffs in der Forschung, für die er eine Fülle historischer, rechtshistorischer und soziologischer Literatur aufarbeitet. Angesichts dieser sehr differenzierten Darstellung überrascht es freilich, dass der Autor im enzyklopädischen Teil recht umstandslos mit dem Begriff des Staates operiert, etwa wenn von Staatsaufgaben, territorialer Staatlichkeit (S. 20) und Staatsräson (S. 36) die Rede ist. Ausgesprochen gut gelingt Bahlcke im Weiteren die Einführung in Grundlagenwerke, Quellen und Periodisierungsfragen, die so kenntnisreich und strukturiert dargeboten werden, dass eine Verwendung im Studium mehr als anzuraten ist.

Im Abschnitt zu Wirkungen und Reichweite frühneuzeitlicher Landesherrschaft erörtert Bahlcke zentrale Probleme der verwaltungshistorischen Forschung, darunter die lange Fixierung auf etatistische und normorientierte Perspektiven und die geringe Beschäftigung mit lokaler Herrschaftspraxis. Auf den Ertrag der wichtigsten kontrastierenden Studien weist der Autor treffend hin, etwa wenn Arbeiten aus den Bereichen der Implementations- und Policeyforschung zur Sprache kommen. Eine Notiz zu neueren Debatten um Verwaltungskultur – etwa zu Arbeiten von Peter Becker, Birgit Emich und Stefan Haas – wäre allerdings an diesem Punkt trotz teils mangelnder sektoraler Einschlägigkeit wünschenswert gewesen.1 Die weiteren Abschnitte verdienen Lob nicht nur für die ausgewogene Darstellung, sondern auch für die Erläuterungen zu weiterhin bestehenden Desideraten. Der Autor gestaltet dabei unter anderem den Abschnitt zur Frage von Ständevertretungen als Vorläufern des Parlamentarismus sachkundig und berücksichtigt hier wie auch an vielen anderen Stellen die forschungshistorisch relevanten Deutungsansätze der DDR-Geschichtswissenschaft.

Den Abschluss des zweiten Teils bildet der Überblick über relevante Kontroversen. Neben der Frage, ob die vormoderne Staatsbildung mit Prozessen der Säkularisierung oder der Konfessionalisierung einherging, werden auch Zusammenhänge zwischen lokaler Autonomie und territorialer Machtentfaltung sowie die Diskussion um das Konzept des Absolutismus beleuchtet. In Anbetracht der letztgenannten Debatte erstaunt es wiederum, dass der Autor im enzyklopädischen Abschnitt auf diesen Begriff vertraut: So schreibt Bahlcke etwa im ersten Teil, ein frühneuzeitlicher Territorialherr habe „über eine Vielzahl von Machtmitteln [verfügt], die ihn zu einer Durchsetzung seiner Anordnungen befähigten“ (S. 20; vgl. auch S. 26). Daher sei es „doch berechtigt, […] von einem Zeitalter des Absolutismus zu sprechen“ (S. 20). Dieses Urteil ist recht mutig, wenn man die Erträge der implementationshistorischen Arbeiten berücksichtigt, die Bahlcke auch zitiert.2 Dabei soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass es der Debatte zuträglich sein kann, eine tendenziell dekonstruktionskritische Position zu beziehen und zu diesem Zweck auf langfristige Perspektiven landesherrlicher Machtsteigerung in der Vormoderne hinzuweisen. Jedoch müssen in diesem Fall, gerade mit Blick auf die von der Reihe angesprochene Leserschaft, widersprechende Hinweise besser als solche markiert und eingeordnet werden: So heißt es wenige Abschnitte später zur lokalen Herrschaftspraxis, dass die „Staats- und Regierungsgewalt angesichts […] struktureller Engpässe bis weit in das 18. Jahrhundert oft nur schwach und überdies diskontinuierlich präsent war“ (S. 23). Warum der Autor bezüglich des Absolutismuskonzepts trotzdem zu dem erwähnten Schluss kommt, wird hier nicht ganz deutlich.

Zusammenfassend sei bemerkt, dass Joachim Bahlcke einen Band zur Enzyklopädie deutscher Geschichte vorgelegt hat, der durch seine gute Les- und Verwendbarkeit besticht. Die Monographie kann für das Selbststudium und den konzisen Einblick in die Forschungs- und Literaturlage empfohlen werden. Dies liegt vor allem an der Fähigkeit des Autors, einem überaus umfänglichen Thema Struktur zu geben und größere historische Entwicklungslinien herauszuarbeiten. Deutlich wird dies nicht zuletzt an der klugen Auswahl landeshistorischer Beispiele und Forschungsliteratur, die stets beidem verpflichtet sind: einer größtmöglichen Genauigkeit bei fachlichen Details und der von den Reihenherausgebern versprochenen überblicksartigen Darstellung.

Anmerkungen:
1 Peter Becker, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), S. 311–336; Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Peter Eich / Sebastian Schmidt-Hofner / Christian Wieland (Hrsg.), Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit, Heidelberg 2011, S. 81–95; Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Zur Umsetzung der preußischen Reformen 1808–1848, Frankfurt am Main 2005.
2 Vor allem Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647–663; Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt am Main 2000.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension