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Titel
Der Flug des Ikarus. Studien zur deutschen Geschichte und internationalen Politik


Autor(en)
Hildebrand, Klaus
Herausgeber
Scholtyseck, Joachim; Studt, Christoph
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Kießling, Department Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Aus Anlass des 70. Geburtstags von Klaus Hildebrand im Jahr 2011 versammelt der Band 21 Beiträge des Bonner Emeritus, die zwischen 1985 und 2009 erschienen sind. Thematisch dokumentieren die Aufsätze die Hauptarbeitsfelder des Jubilars. Neben Beiträgen zur Außenpolitik des Deutschen Reichs beziehungsweise zur Geschichte der internationalen Beziehungen stehen solche zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, zum Dritten Reich sowie Betrachtungen zur deutschen und europäischen Geschichte in der Moderne insgesamt. Bewusst haben die Herausgeber gerade auch ganz bekannte Aufsätze aufgenommen, so Hildebrands Beitrag über das „Problem der Legitimität in der Geschichte der Staatengesellschaft“ von 1987 oder „Saturiertheit und Prestige“ aus dem Jahr 1989, mit dem der Band auch beginnt.

Klaus Hildebrand versteht sich dezidiert als Vertreter der politischen Geschichtsschreibung und dabei insbesondere der Geschichte der internationalen Beziehungen. Zudem hat er sich stets ganz bewusst in die Tradition derjenigen Historiographie gestellt, die sich bis heute bestimmten Elementen des Historismus verpflichtet weiß. Ungeachtet der aktuellen Renaissance der Politikgeschichte war dies über die hier dokumentierte Zeit eine Position, die sich gegen viele Trends der Forschung stellte und entsprechend auch angegriffen worden ist. Umso mehr interessiert, welche generellen Erkenntnisse aus Hildebrands Art, Geschichte zu schreiben, beim Wiederlesen gezogen werden können. Jenseits aller inhaltlichen Erkenntnisse, die bei einem Autor vom Rang Hildebrands kaum erwähnt werden müssen, scheinen mir fünf Aspekte von besonderer Bedeutung zu sein:

1. Zunächst fällt die methodische Konstanz auf. Klaus Hildebrand schreibt eine ereignisgesättigte Politikgeschichte, die sich ihres Beitrags zur Geschichtswissenschaft sicher weiß. Die Bedeutung des Sozialen, von Wirtschaft oder Mentalitäten wird von Hildebrand stets anerkannt. Er aber schreibt, so die Botschaft, über etwas anderes, und das ist mindestens ebenso wichtig. Neuerungen, die sich auch aus methodischen Innovationen ergeben, werden inhaltlich aufgegriffen – so etwa die Bedeutung von Medienereignissen (vergleiche „’Eine neue Ära der Weltgeschichte’. Der historische Ort des Russisch-Japanischen Krieges 1904/05“, S. 91) oder die der diplomatischen Formensprache (vergleiche „Locarno 1925. Chancen und Scheitern einer europäischen Staatenordnung“, zum Beispiel S. 44) –, die eigene Art der Geschichtsschreibung bleibt davon aber weitgehend unberührt. Man mag diese fehlende Suche nach methodischen Anregungen kritisieren, und Hildebrand verzichtet dabei bekanntlich auch nicht immer auf Polemik. Dem Beharren des Bonner Historikers auf der Bedeutung seiner Position im Konzert der Teildisziplinen und Methoden wird man aber die Berechtigung nicht absprechen können. Im Gegenteil, traditionelle Politikgeschichte hat einen Platz in der Gesamtwissenschaft. Das machen die Beiträge, von denen viele längst klassische Studien geworden sind, einmal mehr deutlich. Nur wer aus persönlichem Geltungsdrang die eigene Arbeit verabsolutiert und das andere gar nicht mehr wahrnimmt (oder nicht mehr wahrnehmen kann), wird das nach der Lektüre des Bandes bestreiten.

2. Tatsächlich frappierend sind die Bezüge, die sich zur Tradition des Historismus in Hildebrands Texten ziehen lassen. Damit sind nicht etwa die eher äußerlichen Übereinstimmungen, die Konzentration auf die (große) Politik oder historische Persönlichkeiten, gemeint. Hildebrand knüpft in einem viel umfassenderen Sinn an im Kern historistische Positionen an. Das beginnt mit der Sprache, die immer rhetorisch beziehungsweise literarisch bewusst gestaltet ist. Es betrifft aber auch das in den Texten vertretene Geschichtsbild. So lassen sich in Hildebrands häufig bemühten „geschichtlichen“ oder „historischen Tendenz[en]“ (zum Beispiel S. 260 u. 297) unschwer die „wirkenden Kräfte“ eines Wilhelm von Humboldt oder die „historischen Ideen“ nachfolgender Historiker erkennen. Ebenso frappiert die spezifische Mischung aus genealogischem Denken auf der einen Seite und der Beachtung für den Eigenwert der einzelnen Ereigniszusammenhänge und Epochen auf der anderen. Geradezu paradigmatisch zu beobachten ist das an Hildebrands Kritik an der Sonderwegsthese von 1987 („Der deutsche Eigenweg. Über das Problem der Normalität in der modernen Geschichte Deutschlands und Europas“). Die begriffliche Doppelung von „Eigenweg“ und „Sonderfall“, die dem Konzept des „Sonderwegs“ entgegenstellt wird, entspricht theoretisch genau diesem Grundzug des Historismus. Gleiches gilt für Hildebrands Problematisierung des „Westens“ aus dem Jahr 2006 („Der Westen. Betrachtungen über einen uneindeutigen Begriff“). Hildebrand erkennt eine lange Genealogie des Westens an. Gleichzeitig zeigt er aber auch die Besonderheiten (und Widersprüche) der jeweiligen Ausprägungen durch die Jahrhunderte. Aus diesem Hin und Her von historischen Herleitungen und Einzelfallbetrachtung entsteht die für Hildebrands Texte typische Mischung aus Struktur und Ereignis, die stets Optionen und Alternativen kennt und mit einer Formulierung aus einem Aufsatz über Bismarcks „System der Aushilfen“ auf den Begriff der „Normalität des Vorläufigen“ (S. 31) gebracht werden kann. Diese Anerkennung der „Normalität des Vorläufigen“ in seinem Gegenstand seitens des Historikers ist ohne Zweifel ein wichtiger Grundzug in Hildebrands Geschichtsdenken.

3. Natürlich werden auch in diesem Band manche Probleme solcher und anderer Positionen erkennbar. Der verkündete Gang zu dem „wie es eigentlich gewesen ist“ (in: „Der deutsche Eigenweg“, S. 269, wird Rankes Satz wörtlich zitiert) schützt bekanntlich keineswegs vor jeder Normativität. In Hildebrands Arbeiten zum Kriegsausbruch 1914 wird das deutlich, wenn die “Leidenschaft der vielen“ und der daraus abgeleitete Kontrollverlust der Staatsmänner immer wieder als Kriegsursachen angeführt werden („Saturiertheit und Prestige. Das Deutsche Reich als Staat im Staatensystem 1871-1918“, S. 17), oder wenn an anderer Stelle Hildebrand vor allzu großem Vertrauen auf die Friedfertigkeit von Massendemokratien warnt („Die viktorianische Illusion. Zivilisationsniveau und Kriegsprophylaxe im 19. Jahrhundert“, zum Beispiel S. 224ff.; vergleiche auch „Der deutsche Eigenweg“, S. 271). In solchen Urteilen schwingen natürlich auch gesellschaftspolitische Urteile mit.

4. Durchweg bemerkenswert wiederum ist der europäische Blick. Auch wenn Hildebrand über die Bundesrepublik oder die Politik des Deutschen Reichs schreibt, kaum einmal fehlen die europäischen, ja die weltweiten Bezüge, die ebenso als Erklärungen miteinbezogen werden. Die Verengung auf das Nationale, die in den aktuellen Debatten beklagt wird, bei Hildebrand findet sie sich nie. Inhaltlich zeigt sich das zum Beispiel beim Blick auf die kaiserliche Außenpolitik, wenn Hildebrand auf die Zwangslagen verweist, die sich daraus ergaben, dass die anderen Regierungen aus genuinen Gründen ihrer Politik folgten, und eben nicht alles von der deutschen Position abhängig war. Der deutsche Nationalstaat steht bei Hildebrands Arbeiten zur deutschen Außenpolitik weit weniger im Mittelpunkt aller Beziehungen als es bei vielen innenpolitisch argumentierenden Interpretationen der Fall zu sein scheint. Der Anteil internationaler Bezüge und Zusammenhänge für die moderne Nationalgeschichte lässt sich an Hildebrands Arbeiten von jeher diskutieren.

5. Insgesamt führt der Band Hildebrands traditionsbewusste, stets wichtige Erkenntnisse vermittelnde und dabei durchgängig die internationalen Dimensionen berücksichtigende Politikgeschichte gut vor Augen. Wichtige Ergebnisse und Positionen seiner Forschungen zur Struktur der internationalen Beziehungen, zur Sonderwegsthese oder zur – aus Hildebrands Sicht – stets gefährdeten und auch deshalb problematischen Außenpolitik des Deutschen Reichs werden dokumentiert. Auf einen letzten Aspekt, der sich beim Wiederlesen von Hildebrands Art der Politikgeschichte ergibt, sei am Ende noch besonders verwiesen. Es ist die möglicherweise wichtigste Beobachtung, die die Aufsätze für den an Kultur-, Diskurs- und neue Politikgeschichte gewöhnten und darin ein gutes Stück selbst gefangenen Leser bereithalten. Bei Hildebrand geht es um Entscheidungen. Diese Entscheidungen sind häufig kurzfristig und sie werden von identifizierbaren Menschen getroffen. Und es gibt vor allem auch Alternativen. Es ist dieser Grundzug, der angesichts aller aktueller Beachtung für die historischen Strukturen, Diskurse und wirklichkeitskonstituierenden Performanzen an den Beiträgen besonders auffällt. Er macht die Stärke traditioneller Politikgeschichte schlaglichtartig deutlich: Es sind Entscheidungen zu treffen, diese liegen nicht in allem von vornherein fest und sie haben Konsequenzen. Diese Entscheidungen und ihre Folgen zu zeigen, ist das Anliegen von Klaus Hildebrand. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungstrends hat die Lektüre so fast etwas Befreiendes, und man begreift, warum Klaus Hildebrand seine Art der Geschichtsschreibung so wichtig ist.