E. Scherstjanoi (Hrsg.): Russlandheimkehrer

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Titel
Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen


Herausgeber
Scherstjanoi, Elke
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte – Sondernummer
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VI, 264 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Morina, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

„Ich dachte: So, nun ist’s Ende! Aber nein, wir wurden gefilzt, und in ein Bahnwärterhäuschen geführt. Alle rein, alle gezählt. Und dann kam ’ne Ärztin an. Die hat sich das angeguckt. Wer verwundet war, hat sie aussortiert. [Man dachte die Aussortierten] die werden jetzt um die Ecke gebracht! Aber das war ja nicht so. Die wurden behandelt.“ (S. 185) Diese Sequenz aus einem Interview mit einem heute 86-jährigen ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen enthält die Kernthemen des von Elke Scherstjanoi herausgegebenen Sammelbandes über das wandlungsreiche Bild der „Russlandheimkehrer“ in den beiden deutschen Staaten nach 1945. Die Passage thematisiert den Holocaust, das Wissen oder zumindest Erahnen der Selektionspraktiken des Massenmordens, die eigene Todesangst, die existentielle Ungewissheit und lebensmüde Abgebrühtheit des einfachen deutschen Soldaten. Und das Zitat enthält die „Kehr“-Seiten des Krieges, den Moment der Gefangennahme und der Verwandlung vom Angreifer zum Gefangenen, die Schonung durch den gefürchteten Feind, die Fürsorge einer Ärztin und somit die Hoffnung, doch zu überleben.

Dieser Band will zeigen, wie sich Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft im Laufe der Jahrzehnte in Ost- und Westdeutschland wandelten. Es geht um die „Geschichte der Formung der Bilder“, die im „öffentlichen“ Leben der beiden deutschen Nachkriegsstaaten bis heute das Schicksal der drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion – von denen eine Million die Gefangenschaft nicht überlebten – repräsentieren und bewerten (S. 2f.). Historiker, Filmkritiker, Sprach- und Literaturwissenschaftler befassen sich in 13 Beiträgen mit Buch- und Filmbildern, Zeichnungen, Plakaten, Ausstellungen und Erinnerungsberichten, in denen Kriegsgefangenschaft und Heimkehr nach 1945 im öffentlichen Raum verhandelt wurden.

In der Einleitung entwirft Elke Scherstjanoi ein ambitioniertes Programm, das leider die Erwartungen etwas zu hoch setzt. Viele Beiträge bieten eine Fülle neuer Quellen und Analysen, nur eben nicht in jenem Rahmen, den Scherstjanoi eingangs absteckt. Da ist zunächst die falsche Behauptung, dass „ein derart thematisch fixierter, deutsch-deutsch vergleichender Blick […] bislang noch auf keinen Aspekt der deutschen Nachkriegs-Vergangenheitsarbeit gerichtet“ worden sei.1 Dem wird etwas unentschlossen hinzugefügt, dass sich für das gewählte Thema der „deutsch-deutsche Vergleich geradezu aufdrängt“, dass dieser Vergleich aber „nicht in allen Einzelbeiträgen in den Vordergrund“ gestellt werde (S. 4). Der dritte nur teilweise eingelöste Anspruch ist der Blick in die Gegenwart mit der darin vermuteten Aufweichung alter Erinnerungsmuster und ideologischer Rahmendeutungen. Es sind die drei Beiträge der Herausgeberin selbst – die Einleitung, eine Analyse von Oral-History-Interviews mit 85 ehemaligen Kriegsgefangenen, davon 68 (!) Ostdeutschen, sowie ein materialreiches Kapitel über Muster der Erinnerung an russische Ärztinnen –, die den deutsch-deutschen Vergleich am deutlichsten thematisieren und an die Gegenwart heranführen. Alle anderen Beiträge fokussieren die Film- und Literaturgeschichte der 1950er- und 1960er-Jahre; sie widmen sich jeweils ausschließlich ost- oder westdeutschen Bilderwelten. Nur zwei legen den Schwerpunkt auf DDR-Perspektiven (Leonore Krenzlin über „Lagerfrust und Antifa“ in der DDR-Literatur und Ralf Schenk über die Kriegsgefangenschaft als Thema in DEFA-Filmen). Ein Essay von Elena Müller über die Darstellung deutscher Kriegsgefangener in der russischen Spielfilmgeschichte beschreibt die „andere“ Seite der Rezeptionsgeschichte deutscher Kriegsgefangenschaft.

Dennoch unternimmt der Sammelband eine dringend nötige Neubewertung des Themas. Deutlich wird, wie stark die Zäsur von 1989/90 die Bilder in Ost- und Westdeutschland verändert hat – was die Annahme erlaubt, dass sich heute ein „Gegenbild“ zum altbundesdeutschen, antikommunistischen Bild entwickelt, das nicht unbedingt „spezifisch ostdeutsch“ ist, sondern als Ausdruck eines kritischen, offeneren Umgangs mit der deutsch-russischen Geschichte verstanden werden kann (S. 35f.). Die Kriegsgefangenschaft als „große Lebensschule“ zu begreifen (S. 148), laut Krenzlin ein Hauptmotiv der DDR-Literatur, scheint sich unter den heute noch lebenden Zeitzeugen als dominantes Erinnerungsnarrativ durchzusetzen – wohlgemerkt in einem veränderten Rahmen. In der Tat sind die Erinnerungsszenen und „Botschaften“, die die von Scherstjanoi in den Jahren 2005 bis 2008 interviewten Männer erzählen, durchdrungen von dem Wunsch, ohne die ideologische Klebefolie des Kalten Krieges Zeugnis über die Erfahrungen abzulegen. Doch erlaubt das stark ostdeutsch geprägte Befragtensample eigentlich keinen Vergleich der „heutigen“ mit den „altbundesdeutschen“ Narrativen bzw. der ost- mit den westdeutschen Erinnerungsbildern.2 Zudem verwundert es, wie leichthändig Scherstjanoi die „öffentlichen Diskurse“ der DDR und der Bundesrepublik miteinander vergleicht, ohne die verschiedenen Diskurskontexte ernsthaft zu gewichten.

Wirklich neue Einblicke eröffnen Berthold Petzinnas zwei Beiträge über illustrierte Erinnerungsberichte in der frühen Bundesrepublik und Helmut Peitschs Aufsatz über den westdeutschen Film „Wunschkost“ (1959). Diese Beiträge brechen deutlich das von Scherstjanoi beschriebene „herrschende nationalkonservative, antisowjetische Bild“ der alten Bundesrepublik (S. 35) und untermauern jüngere Befunde über eine weniger „reaktionäre“ Erinnerungslandschaft der Adenauer-Zeit, wie sie zum Beispiel vom Verband der Heimkehrer gepflegt wurde. Die biographisch nicht näher vorgestellten Verbandsakteure, so zeigt Andrea von Hegel, verstanden es als ihre Mission, die Kriegsgefangenen-Erfahrung in den Dienst der demokratischen, antitotalitären Sache zu stellen. Einen solchen Glauben an den Auftragscharakter der persönlichen Kriegserfahrungen teilten viele der organisierten Veteranen in der DDR, aber leider fehlt auch hier der vergleichende Blick.

Stärker auf innerdeutsche Resonanzen bedacht ist Peter Jahns Beitrag über westdeutsche Spielfilme zur Kriegsgefangenschaft in der frühen Bundesrepublik. Wiederum hätte man sich einen Ausblick in die Gegenwart vorstellen können. So wurde die Fernsehserie „Soweit die Füße tragen“ (1959) im Jahr 2001 als Spielfilm neu verarbeitet, und Guido Knopps fünfteilige Dokumentation „Die Gefangenen“ (2003) ist als Beispiel mächtiger, sehr aktueller Bildformung sicher ebenso relevant. Ralf Schenks gelungenes Gegenstück über die zwei DDR-Filme, die sich direkt mit der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion befassten – Jurek Beckers „Meine Stunde Null“ (1970) und Konrad Wolfs „Mama, ich lebe!“ (1976) –, zeigt erwartungsgemäß, dass beide Filme letztlich auch nur der „Nutzung der Historie zur Legitimierung der Gegenwart“ (S. 175) dienten. Doch belegt Schenks resonanzgeschichtlicher Blick in den Westen darüber hinaus, welche Wirkung jene realistischen Einsichten in das Wesen des Vernichtungskrieges entfalteten, die unterhalb politischer Propaganda durchaus transportiert wurden. Die „Süddeutsche Zeitung“ lobte „Mama, ich lebe!“ 1977 für die „noble Gerechtigkeit und taktvolle Aufrichtigkeit“, mit der sich der Film „eines auch in der DDR noch heiklen, bei uns geradezu tabuisierten Themas“ angenommen habe (zitiert auf S. 176).

Der Sammelband versteht sich nicht zuletzt als „BILDER-Buch“ (S. 17) und sieht sich der „kritischen Bewahrung“ verfügbarer Bildquellen zur Kriegsgefangenschaft verpflichtet. Die Fülle der Abbildungen ist beeindruckend; bisher unveröffentlichte Gefangenenzeichnungen, Fotografien und Buchillustrationen dokumentieren ein breites Spektrum von Erfahrungen und visuellen Verarbeitungen. Am auffälligsten ist, dass die meisten privaten Fotos (S. 5–36) wohlgenährte, relativ zufriedene Gefangene in geordneten Umständen zeigen. So gut wie nichts ist zu sehen von dem massenhaften Leiden und Sterben, das jahrzehntelang im Zentrum der (öffentlichen westdeutschen und nichtöffentlichen ostdeutschen) Erinnerung stand. Hier ist die Überlieferungsgeschichte sicher von Belang: Verstorbene Gefangene hinterlassen seltener Bilder ihrer Schicksale. Leider enthält nur Petzinnas Beitrag über Buchillustrationen zur Kriegsgefangenschaft eine echte Bild-Analyse und damit eine exemplarische Antwort auf die Frage, wie „Gedächtnisbildnerei“ (Scherstjanoi, S. 179) eigentlich funktioniert. Ferner hat keiner der Beiträger versucht, kollektive Bilder anhand von Meinungsforschung und/oder Stimmungsberichten des Ministeriums für Staatssicherheit über die Rezeption von „Russlandheimkehrern“ in der DDR zu rekonstruieren.

Der Sammelband vereint die Vor- und Nachteile dieser Publikationsform: Multiperspektivität und interdisziplinäre Offenheit einerseits; mangelnde konzeptionelle Stringenz, zu weitreichende Versprechen in der Einleitung und das Fehlen eines Fazits andererseits. Insgesamt hat dieser Band ein altes Forschungsthema neu umrissen sowie in sozial-, gender- und kulturgeschichtlicher Perspektive viele Fragen neu gestellt, davon einige umfassend beantwortet und andere für zukünftige Forschungen aufbereitet. Dies ist kein geringes Verdienst.

Anmerkungen:
1 Dabei verweisen die Beiträge selbst unter anderem auf die einschlägigen vergleichenden Arbeiten von Frank Biess, vor allem dessen Monographie: Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany, Princeton 2006. Andere wichtige Arbeiten zur vergleichenden Aufarbeitungsgeschichte fehlen; zum Beispiel Annette Kaminsky (Hrsg.), Heimkehr 1948. Geschichte und Schicksale deutscher Kriegsgefangener, München 1998; oder Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.
2 Leider fehlt hier jeder Bezug unter anderem auf Lutz Niethammer, Juden und Russen im Gedächtnis der Deutschen, in: Walter H. Pehle (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurter Historik-Vorlesungen, Frankfurt am Main 1990, S. 114–134; oder Bernd Faulenbach / Annette Leo / Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewußtsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland, Essen 2000.