E. Harding u.a. (Hrsg.): Ahnenprobe in der Vormoderne

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Titel
Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation


Herausgeber
Harding, Elizabeth; Hecht, Michael
Reihe
Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 37
Erschienen
Münster 2011: Rhema Verlag
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Wrede, Université Pierre-Mendès-France, Grenoble

Die Ahnenprobe – der Nachweis (rein) adeliger Abstammung über mehrere Generationen hinweg – hat, zumal in ihrer deutschen Ausprägung, spätestens seit dem 18. Jahrhundert allerlei Spott hervorgerufen. Bekannt sind etwa die Sentenzen aus Voltaires „Candide“, nach denen im westfälischen Adel alle möglichen Schicksalsschläge oder menschliche Regungen nichts zählten im Vergleich zu 72 bzw. 71 adeligen Ahnen. Die Liste ließe sich fortsetzen bis zu Fontane oder Proust, und einige der Beiträge des hier zu besprechenden Bandes tun dies mit pointierten Beispielen. Die Ahnenprobe ist offenbar sogar im kollektiven Gedächtnis präsent. Zumindest ist sie es gewesen. Demgegenüber kann es überraschen, wie wenig systematische Untersuchung das anscheinend so provokative Instrument mobilisiert hat. Diesen Missstand endlich abzustellen, ist das Ziel des Bandes von Elizabeth Harding und Michael Hecht. Es wird, um dies vorwegzunehmen, auf die erfreulichste Weise erreicht.

Der Band gliedert sich nach einer sehr gründlichen Einleitung der Herausgeber in fünf Sektionen. Sie zeigen die Ahnenprobe „als Repräsentation von Verwandtschaft“, „in Städten, Domkapiteln und Damenstiften im Alten Reich“, „in Ritterschaften im Alten Reich“, „am Wiener Hof und in habsburgischen Territorien“ sowie „in europäischer und außereuropäischer Perspektive“. Die Konzentration auf die Adelswelt des Alten Reiches ist evident und zwangsläufig, doch überschreitet der Band sowohl dessen Grenzen wie die des adeligen Standes, indem – sinnvollerweise – außerdeutsche und auch nichtadelige Muster der Ahnenprobe diskutiert werden.

Das Hauptaugenmerk jedoch liegt, wie gesagt, zwangsläufig auf Deutschland: Kurt Andermann und Ute Küppers-Braun untersuchen hier die zentralen Themen der Ahnenproben in Domkapiteln bzw. in Damenstiften. Andermann zeigt, von einem Streitfall in Speyer ausgehend, die Praxis der Aufschwörungen auf; Küppers-Braun unter anderem die Verknüpfung von Stiftsfähigkeit und Konnubium: Damenstifte waren „nicht nur Versorgungseinrichtung […], sondern gleichzeitig korporative Kontrollinstanz für die Ebenbürtigkeit“ (S. 185). Daneben steht der Beitrag von Knut Schulz zu den Konstituenten der Handwerksehre – „Geburt, Herkunft und Integrität“ –, der zeigt, dass die Welt des Adels und die der Zünfte durchaus enger verwandt waren.

In der „ritterschaftlichen“ Sektion bietet Joachim Schneiders Beitrag über die Ahnenprobe in der Reichsburg und Ganerbschaft Friedberg eine Nahaufnahme der sozialen Praxis in einer der wohl kleinteiligsten Herrschaftsformen des Alten Reiches, in der die Ahnenprobe sowohl der sozialen Abschließung diente als auch der (letztlich unvermeidlichen) Rekrutierung von Nachrückern – ein Befund, den so auch andere Beiträge teilen. Josef Matzeraths Aufsatz über die Einführung der Ahnenprobe in der kursächsischen Ritterschaft zielt seinerseits auf die soziale Stabilisierungsfunktion dieses Instruments: durch die Sicherung der Standesgrenze nach unten ebenso wie durch Gemeinschaftsstiftung, Ordnung und Befriedung. Dabei gab es jedoch offenkundig stets einen gewissen Handlungs- bzw. Aushandlungsspielraum. Das letztere zeigt auch der Beitrag von Andreas Müller zur Praxis der Ahnenprobe im kurkölnischen Herzogtum Westfalen. Vor allem jedoch wird hier klar gemacht, wie überhaupt die konkrete Durchführung der Ahnenprobe vor sich ging bzw. vor sich gehen konnte.

Bereits an den Grenzen des Reiches operieren die Aufsätze von Gerard Venner zur Ritterschaft im Oberquartier des Herzogtums Geldern und von Arnout Mertens zu den Spanischen bzw. dann Österreichischen Niederlanden insgesamt. Ähnlich wie in Friedberg wird im geldrischen Oberquartier die soziale Ergänzungsfunktion der Ahnenprobe deutlich, die in größeren Korporationen naturgemäß etwas weniger dringlich war. Mertens macht auf die Uneinheitlichkeit der niederländischen Adelslandschaft und ihrer Aufnahmeregeln aufmerksam, in der der „erste Adel“ sich gegenüber Nachrangigen und Nobilitierten sozial behaupten konnte (wenn er auch politisch tendenziell eher einen Bedeutungsverlust erlitt). Die Wiener Regierung und der jeweilige Generalgouverneur versuchten dabei wohl verschiedentlich, regulierend einzugreifen, ein einheitliches Maß der Ahnenprobe in Stiftern und Ständen durchzusetzen, dies aber nicht sehr nachdrücklich. Das Projekt „Adelsregulierung“ war für Wien zu wenig aussichtsreich. Dies sah am Hof selbst, hierauf zielt der Beitrag von William Godsey, graduell anders aus. Die Zugangsregeln für die Kämmererwürde wurden hier durchaus bewusst verändert, die Hürden erhöht, um die Aristokratie zu privilegieren (und für kriegsbedingte finanzielle Verluste zu entschädigen), doch die unterschiedlichen Kronländer wurden weiterhin auch unterschiedlich behandelt.

Wien bot dem deutschen Adel ein Forum für Kontakte vor allem mit Südosteuropa und Italien. Auf die ganz anders strukturierte französische Adelswelt traf man in Versailles. Einige aus dem Reich stammende (Fürstenberg, Salm) oder über traditionelle Verbindungen dorthin verfügende Familien (La Tour d’Auvergne) konnten sich dort etablieren und eine Art Brückenfunktion über den Rhein wahrnehmen oder doch zumindest bis ins Elsass: Da sie über Stiftsfähigkeit verfügten, konnte königliche Patronage, wie Leonhard Horowski vorführt, sie trefflich in Straßburg oder anderswo platzieren. Allerdings ließ die geringe Zahl der in Frage kommenden Häuser der Krone in der Regel keine oder nur eine geringe Wahl unter diesen Klienten, was deren Position nicht wenig stärkte. Handelte es sich hier um ein prominentes, aber schmales Segment des Adels, zielt der Beitrag von Moritz Trebeljahr auf ein „Breitenphänomen“, wenn auch natürlich ein exklusives, hochgeschätztes: Auf den Malteserorden und seine enorme Bedeutung für Distinktion (und Alimentation) des Adels in Südwesteuropa. Ahnenproben und „quartiers“ bzw. „Adel in vier Vierteln“ (so der Titel des Aufsatzes) gab es eben, anders als Voltaire Glauben machen wollte, auch außerhalb Deutschlands. Allerdings waren die Ergebnisse dieser Ahnenproben nicht selten situationsbedingt und dies wohl letztlich in noch höherem Maße als im Reich bzw. in Westfalen.

Der abschließende Beitrag von Nikolaus Böttcher weist dann gar über Europa hinaus. Betrachtet wird die Ahnenforschung in Hispanoamerika, das heißt Anwendung und Abwandlung des Postulats der „limpieza de sangre“. Die Bedeutung der (hispanisch-europäischen) Blutsreinheit als sozialen Ordnungsprinzips Spanisch Amerikas wird betont – dort naturgemäß nicht gegenüber Juden und Mauren, sondern gegenüber Mestizen und Mulatten. Zugleich jedoch wird klargemacht, dass es, wie schon in Kursachsen oder in Westfalen, auch etwa in Mexiko Ermessens- und Verhandlungsspielräume gab: Notfalls wurden eben Abkömmlinge der von Beginn der spanischen Eroberung an mit der Krone bzw. mit Cortés verbündeten Tlaxcalteken als geblütsrein betrachtet, da ihnen dieses Privileg vom König verliehen worden sei (S. 406). Der Vorzug dürfte die Einwohnerzahl von Tlaxcala rückwirkend deutlich heraufgesetzt haben.

Eingeleitet und ideell gerahmt wird der Band freilich von den Beiträgen der ersten Sektion zur Repräsentation der Ahnenprobe, hier besonders vom Aufsatz von Simon Teuscher, der ganz allgemein und zu Recht das Konzept „Verwandtschaft in der Vormoderne“ nachdrücklich auf das Tableau der historischen Forschung von Mittelalter und Frühneuzeit setzt.

Bei- und Erträge des Bandes sind hochzuschätzen. Die Ahnenprobe wird in ihren wesentlichen deutschen und europäischen (und auch außereuropäischen) Kontexten vorgestellt, Prinzip und Praxis werden analysiert. Als communis opinio kristallisiert sich heraus, dass es zwischen Westfalen und der Neuen Welt konstellations- bzw. situationsbedingt recht weite Spielräume dafür gab, wie mit dem scheinbar klaren Postulat des (einigermaßen) „reinen“ adeligen Geblüts umzugehen sei. – Der Band hätte eine frühere Besprechung verdient. Die Verzögerung ist allein dem Rezensenten anzulasten.

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