C. Dartmann u.a. (Hrsg.): Zwischen Pragmatik und Performanz

Cover
Titel
Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur


Herausgeber
Dartmann, Christoph; Scharff, Thomas; Weber, Christoph
Reihe
Utrecht Studies in Medieval Literacy 18
Erschienen
Turnhout 2011: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
489 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Vogeler, Zentrum für Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften, Karl-Franzens-Universität Graz

Der Band ist gewissermaßen eine Festschrift. Er dokumentiert eine Tagung, die im Jahr 2007 zu Ehren des 70. Geburtstags von Hagen Keller abgehalten worden ist. Dank der inhaltlichen Konsistenz des Werks des Jubilars fügen sich die Beiträge des Bandes für eine Festschrift ungewöhnlich gut zueinander: Es geht allen Beiträgen darum, den sozialen Ort von Kulturprodukten, insbesondere von Schreiben und Schriftlichkeit zu suchen. Christoph Dartmanns Einführung (Zur Einführung: Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur zwischen Pragmatik und Performanz, S. 1–23) skizziert die Forschungsgeschichte der Arbeiten Kellers und der Sonderforschungsbereiche in Münster. Janet Nelson diskutiert unter dem Titel „Writing Power in the Ninth Century“ (S. 25–38) Beispiele, in denen die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, als Machtmittel eingesetzt wurde: Briefe, Rechtstexte, Historiografie und Urkunden dienten Hinkmar von Reims und zwei Beispielen aus dem angelsächsischen England als Instrumente gegen die dominierenden politischen Machthaber. Walter Pohl (Anstrengungen des Erinnerns: Montecassino nach der ‚Zweiten Zerstörung‘ 883, S. 39–55) zeichnet die Versuche Montecassinos, die Urkundenverluste nach den Sarazenenüberfällen von 883 und dem Brand von 896 zu kompensieren, nach und fasst die Erkenntnisse zusammen, die er in seiner 2001 veröffentlichten hilfswissenschaftlichen Habilitationsschrift gewinnen konnte.1 Die „monarchische Propaganda“ (Fichtenau) in den Urkunden der spätkarolingischen Könige von Italien ist das Thema von François Bougard (Charles le Chauve, Bérenger, Hugues de Provence: Action politique e production documentaire dans les diplômes à destination de l’Italie, S. 57–83). Er identifiziert aktuelle politische Motive für die Verwendung des byzantinischen Legimus-Vermerks unter Karl dem Kahlen, für die Referenzen auf die karolingischen Vorfahren Berengars I. sowie für Siegel und Urkundenformeln Hugos von Provence. Gerd Althoff (Memoria, Schriftlichkeit, symbolische Kommunikation: Zur Neubewertung des 10. Jahrhunderts, S. 85–101) fasst die Entwicklung der Forschung zusammen, welche der Meistererzählung des 19. und 20. Jahrhunderts ihre wissenschaftliche Geltung entzogen. Chris Wickham (Getting Justice in Twelfth-Century Rome, S. 103–131) weitet seine Untersuchungen an Gerichtsurkunden italienischer Städte2 auf die Stadt Rom aus. In der Konkurrenz zwischen senatorischer und päpstlicher Gerichtsbarkeit konnte der Papst ein professionelleres und effizienteres Verfahren anbieten, das dem zeremonielleren städtischen Verfahren jedoch an Regelhaftigkeit und dauerhafter Akzeptanz der Entscheidungen unterlegen war. Wickham kommt zu dem Schluss, dass die Bevölkerung Roms im 12. Jahrhundert noch mehr als in anderen italienischen Städten eine außergerichtliche Konfliktlösung favorisierte. Massimo Vallerani (La riscrittura dei diritti nel secolo XII: Astrazione e finzione nelle sentenze consolari, S. 133–164) verfolgt die Eigendynamik der juristischen Begriffe, die bis zum 11. Jahrhundert behelfsmäßig für die Lehnsverhältnisse in die Urkunden eingeführt wurden, in der zunehmend legalistischen Rechtsprechung der Konsuln von Genua. Franz-Josef Arlinghaus (Petrus Abaelardus als Kronzeuge der ‚Individualität‘ im 12. Jahrhundert? Einige Fragen, S. 165–197) stellt ein systemtheoretisches Modell vor, welches das mittelalterliche Verständnis des Individuums als Teil der gesellschaftlichen Ordnung erleichtert. Mit einem solchen Modell erklärt er einige Textstellen in den Briefen des Petrus Abelardus. Brigitte Miriam Bedos-Rezak (The Efficacy of Signs and the Matter of Authenticity in Canon Law [800–1250], S. 199–236) verfolgt, wie die kirchliche Rechtslehre und Rechtssetzung die Praxis des Siegelns aufnahm, die dem kanonischen Recht neu war. Sie weist insbesondere auf die Unentschiedenheit der kanonistischen Theorie bei der Definition des sigillum authenticum hin, welche die Herstellung von Glaubwürdigkeit durch das Siegel mit der Glaubwürdigkeit des Siegels selbst vermischte. Enrico Artifoni (L’oratoria politica comunale e i „laici rudes et modice literati“, S. 237–262) schließt aus den selbstbewussten Aussagen des Boncompagno da Signa und anderer Diktatoren des 13. Jahrhunderts über die „Laienredner“, dass die ars arengandi um die Wende zum 13. Jahrhundert in Italien noch ganz vom elitären Anspruch der akademischen ars dictandi geprägt war. Texte zur praktischen Rhetorik in den kommunalen conciones waren dagegen nur als Sammlung von Textbausteinen konzipiert. Christoph Friedrich Weber (Podestà verweigert die Annahme: Gescheiterte Präsentationen von Schriftstücken im kommunalen Italien der Stauferzeit, S. 263–317) nutzt das Potential der detaillierten und konkreten Notarsurkunden, die wie Anekdoten unterhalten können – und Weber weiß sie auch so zu erzählen –, aber eben auch Zeugnisse von Kommunikationssituationen sind, in denen die Protagonisten des kommunalen Italien mit Schriftstücken handelten. Weber arbeitet heraus, dass die Übergabe von Urkunden eine politisch so bedeutsame Handlung war, dass sich die Podestà einiges einfallen ließen, diese Übergabe nach ihren Interessen zu gestalten, theaterreife Tricks, um die Boten aus dem Kommunalpalast zu locken, eingeschlossen. Giuliano Milani (Before the Buongoverno: The Medieval Painting of Brescia’s Broletto as Visual Register, S. 319–350) diskutiert die Neuinterpretation der Fresken im Kommunalpalast von Brescia als Diffamierungsbilder. Er sieht darin eine visuelle Liste der aus der Stadt verbannten Adeligen und damit gewissermaßen den bildlichen Gegenpart zu den gleichzeitig von den Kommunen entwickelten Methoden, kommunale Identität über pragmatische Schriftlichkeit zu vertiefen. Thomas Scharff (Pragmatik und Symbolik: Formen und Funktionen von Schriftlichkeit im Umfeld des Braunschweiger Rates um 1400, S. 351–370) kontextualisiert den Schub an Schriftlichkeit, welchen die Stadtregierung von Braunschweig zwischen 1401 und 1408 erlebte. Er sieht darin den Versuch der Stadtobrigkeit, symbolisch den Abschluss der Krise zu dokumentieren, die in der Stadt mit der „Großen Schicht“ von 1375 verbunden wurde. Roger Sabloniers Beitrag über die urkundenkritischen Folgerungen der physikalischen Analysen von Schweizer Urkunden (Urkunden im Reagenzglas: Altersbestimmungen und Schriftlichkeit, S. 371–404) macht deutlich, dass auch die vermeintlich exakten Methoden nicht nur der historischen Bewertung vergleichbar unscharfe Ergebnisse liefern. Insbesondere stellt er einige Hypothesen zu wichtigen Urkunden der Schweizer Geschichte auf, welche möglich werden, wenn man den Glauben an die verschriftlichten Datierungen aufgibt und es zulässt, Urkunden auch als Produkte jüngerer politischer Konstellationen zu betrachten. Michael Jucker (Pragmatische Schriftlichkeit und Macht: Methodische und inhaltliche Annäherungen an Herstellung und Gebrauch von Protokollen auf politischen Treffen im Spätmittelalter, S. 405–441) entfernt die seit 1445 von den Eidgenossen erstellen Tagsatzungsprotokolle aus der Meistererzählung von zunehmender Schriftlichkeit als zunehmender Rationalisierung. Sie sind für ihn als Pendenzprotokolle zu bezeichnen und überlassen den eigentlichen Inhalt der Treffen dem mündlichen Bericht der Gesandten. Sie kommen im Umfeld erhöhter außenpolitischer Kommunikation der Eidgenossen auf und werden von Jucker deshalb als Übernahme außereidgenössischer Praktiken gedeutet. Der Wandel in der Schriftlichkeit ist also nicht Ausdruck von Effizienzsteigerung sondern von spezifischen Machtverhältnissen. Martin Kintzingers Skizze über die Selbstrepräsentation Karls V. von Frankreich (Beatus Vir: Herrschaftsrepräsentation durch Handschriftenpolitik bei Karl V. von Frankreich, S. 443–460) als gelehrtem und von den Großen des Reiches in einem rituellen Akt gekrönten Herrscher lässt auf die angekündigte ausführliche Studie neugierig werden. Petra Schultes Beitrag (Die Ethik politischer Kommunikation im franko-burgundischen Spätmittelalter, S. 461–489) trägt einen reichen Fundus an spätmittelalterlichen Gedanken zur politischen Moral zusammen, welcher den intellektuellen Hintergrund der unter dem Namen Los Honores geläufigen Tugendteppichen des anderen Karls V. (von Habsburg) bietet. Schulte widmet sich vertieft den Überlegungen zu Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit besonders bei Guillaume Fillastre, die erklären können, warum das Vertrauen im Teppich der Gerechtigkeit zugeordnet ist, nämlich als Auftrag an den Herrscher, in der Bevölkerung ein Klima der Offenheit und Wahrhaftigkeit zu schaffen.

Die Autoren des Bandes zollen alle den Grundfragen der Forschungen Hagen Kellers ihren Tribut. Den roten Faden bildet jedoch eher die Reflexion über „Pragmatik und Performanz“ als die Frage nach der Funktion von Schriftlichkeit. Es ist Christoph Dartmann zuzustimmen, der in der Einleitung die Beiträge als „Bausteine einer Kulturgeschichte des Politischen“ (S. 22) bezeichnet. Für die Erforschung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit kann eine solche Einordnung meines Erachtens die in den Beiträgen immer wieder beschworenen Gegensätze zwischen „harter“ politischer Machtlogik und „weicher“ Kommunikationspsychologie aufheben. Diese Gegensätze sollten nämlich nach zwei Jahrzehnten Forschungen zu Schriftkultur und symbolischer Kommunikation überwunden sein. Ein noch nicht gelöstes Problem ist, wer die anstehende Synthese dieser Forschungen schreiben wird. Hoffen wir, dass das Hagen Keller auch noch gelingen wird.

Anmerkungen:
1 Walter Pohl, Werkstätte der Erinnerung. Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit, Wien 2001.
2 Chris Wickham, Legge, pratiche e conflitti. Tribunali e risoluzione delle dispute nella Toscana del XII secolo, Rom 2000.

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