S. Brain: Song of the Forest

Cover
Titel
Song of the Forest. Russian Forestry and Stalinist Environmentalism, 1905–1953


Autor(en)
Brain, Stephen
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
$27.95 / € 23,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Herzberg, Historisches Seminar, Neuere und Osteuropäische Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Es ist nicht die Liebe zur Natur, die Historiker mit Stalins Politik verbinden. Vielmehr steht sein Name für eine rapide Industrialisierung, deren ökologischen Folgen die Nachfolgestaaten der Sowjetunion noch heute zu tragen haben. Durch die Kreation des Begriffs „stalinist environmentalism“, der die Person Stalins und Umweltschutz zu einer eingängigen Wendung zusammenschmiedet, hat Stephen Brain ein streitbares Buch geschrieben. Statt in den Chor jener Historiker einzustimmen, die die sowjetische Politik als rücksichtslos gegenüber Mensch und Natur charakterisieren, ist es sein Anliegen, Stalins Auftreten als „a peculiar kind of environmentalist“ (S. 2) nachzuzeichnen.

Die ersten Kapitel verraten dem Leser nur andeutungsweise, welche provokanten Thesen Brains Buch birgt. Kenntnisreich führt er den Leser in die Ideen- und Institutionengeschichte des russischen Forstwesens im ausgehenden Zarenreich ein. Dabei zeigt er, dass die Sorge um das Schwinden der Wälder zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur Forstwissenschaftler umtrieb. Zur gleichen Zeit besangen Literaten und Künstler den als bedroht wahrgenommenen Wald als Symbol für das „gute, alte Russland“. Als zentrale Gestalt präsentiert der Autor Georgij F. Morozow, der die von den Deutschen geprägte Auffassung von Forstwirtschaft als nicht zu Russland passend verwarf. Wälder waren für Morozow keine reinen Wirtschaftsgrößen, sondern lebende Einheiten, die eng mit bestimmten Landschaften verbunden waren und die es vor rapidem Wandel zu bewahren galt. Morozow propagierte nicht nur Empathie für den Wald, sondern schlug ein neues Klassifikationssystem vor, das den Wald nicht allein nach seinem wirtschaftlichen Nutzen bewertete. Es sollte neben der gegenwärtigen Situation auch den idealen Zustand erfassen. Sein größter Widersacher war Michail Orlow, der dem deutschen Forstwesen und damit einer utilitaristischen Sichtweise näher stand. Folgt man Brain, so spiegelte sich im Disput zwischen Morozow und Orlow die Debatte zwischen Slawophilen und Westlern wider.

Das Jahr 1917 brachte das Chaos auch in den Wald. Die fehlende staatliche Ordnung führte zur rücksichtslosen Plünderung. Mit dem Rückgriff auf deutsche Methoden versuchten die Bolschewiki dem Raubbau Einhalt zu gebieten. Doch ihr eigenes Streben nach schnellen Erträgen ging mit der Einführung von Monokulturen und der Abwertung lokalen Wissens einher. Morozows Ansatz und damit auch die Expertise der vorrevolutionären Forstwissenschaftler hatte ausgedient. In den Augen der neuen Elite waren Bäume nicht an bestimmte Böden und Landschaften gebunden, sondern zentrale Institutionen entschieden, wo sie zu wachsen hätten und wann sie zu fällen seien. Besonders verheerend sei es gewesen, zwei sehr unterschiedliche Institutionen mit der Waldwirtschaft zu betrauen. Während das Volkskommissariat für Landwirtschaft für den Anbau und die Pflege der Wälder verantwortlich war, gehorchte der Oberste Rat für Volkswirtschaft (WSNCh) den Bedürfnissen der Industrie und wies ohne Rücksicht auf Kriterien der Nachhaltigkeit die Fällungen an. Der Erste Fünfjahresplan 1928 verschärfte diese Entwicklung. Die gesamte Holzwirtschaft wurde dem WSNCh unterstellt und Holz zum freien Gut, auf das die Betriebe ohne Bezahlung zurückgreifen konnten. Der Ruf nach einer nachhaltigen Waldwirtschaft wurde als bourgeoises Bedenken verlacht. Brain vertritt die These, dass hinter dem radikalen Bruch mit früheren Lehrmeinungen vor allem Aktivisten aus der Industrie und der Studentenschaft standen, während die Führungsriege der Partei den rücksichtslosen Umgang mit natürlichen Ressourcen kritisch beäugt hätte. Seine Befunde stützen die These von einer Revolution „von unten“, wie sie beispielsweise von Sheila Fitzpatrick vorgetragen wurde. Es ist daher zu bedauern, dass Brain weitgehend auf Kontextualisierungen verzichtet und seine nicht nur für die Umweltgeschichte wichtigen Ergebnisse nicht innerhalb der Stalinismusforschung verortet.

Wie der Waldschutz und damit vorrevolutionäre Ideen über das Wesen des Waldes in die Sowjetunion zurückkehrten, beleuchtet der letzte Teil seines Buches. Sie wurden in dem Moment wieder als gut und richtig angesehen, als die Machthaber erkannten, dass die unbekümmerte Abholzung die staatlich verordnete Modernisierung gefährdete. Selbst in den Kriegsjahren blieb der Schutz der Wälder oben auf der Agenda. Um den Wasserhaushalt der Sowjetunion zu schützen, wurden eine Vielzahl der Wälder der ökonomischen Nutzung entzogen. Anders als in Zentralrussland gestanden die Bolschewiki den Wäldern an der Peripherie keine besondere Schutzwürdigkeit zu, sondern ließen sie ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit abholzen. Inwieweit sich in dieser Politik althergebrachte imperiale Reflexe und nationale Konflikte widerspiegeln, thematisiert Brain leider nicht.

Das letzte Kapitel beleuchtet den 1948 formulierten Stalinplan zur Umgestaltung der Natur. In diesem Plan, in dem Brain „the world’s first attempt to reverse human-induced climate change“ (S. 140) verwirklicht sieht, habe sich Stalins Einsatz für die Natur am deutlichsten gezeigt. Dieser Plan sah vor, eine Fläche von sechs Millionen Hektar mit Wald zu bepflanzen. Ziel war es, das Klima in Südrussland abzukühlen und die Feuchtigkeit der Böden zu steigern. Brain kann zeigen, wie der Stalinplan, der in der Tradition Morozows ein auf Wiederherstellung verloren geglaubter Landschaften gerichtetes Projekt war, von Lysenko und seinen Anhängern gekapert und in „highmodernist fancy“ (S. 142) verwandelt wurde. An diesem Wechsel zeige sich, so Brain, der Ansehensverlust der Technokraten und die Aufwertung promethischer Vorstellungen, wie Lysenko sie vertrat. Misserfolge führten jedoch zum Ansehensverlust Lysenkos, nach Stalins Tod wurden die Aufforstungsbemühungen schließlich eingestellt. Seine Ziele erreichte der Stalinplan nicht. Es ist lobenswert, dass Brain hier nicht bei einer eng verstandenen Forstgeschichte stehen bleibt, sondern diese Episode in die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge des Kalten Krieges einordnet.

Trotz dieses starken Kapitels am Ende fällt die Bilanz zu Brains Buch durchmischt aus. Einerseits liefert Brain einen überfälligen Beitrag zur russischen und sowjetischen Umweltgeschichte, der es vermag, die ideengeschichtlichen Kontinuitäten zwischen dem ausgehenden Zarenreich und der Sowjetunion nachzuzeichnen. Er kann zeigen, wie in den 1930er-Jahren das Konzept der Nachhaltigkeit in die Forstwirtschaft der Sowjetunion zurückkehren konnte. Damit setzt er sich wohltuend von jenen Forschern ab, die das Verhältnis der Sowjetunion zu Umwelt und Natur undifferenziert als „Ökozid“ bezeichneten. Leider bleibt Brain häufig zu eng bei seinem Gegenstand und ordnet seine Befunde zu selten in größere Zusammenhänge ein.

Das größte Verdienst seines Buches liegt darin, dass es dazu anregt, die bisherigen Konzepte von Umweltschutz und Umweltbewegung zu hinterfragen, wie es in den letzten Jahren einerseits durch die Diskussion des ökologischen Denkens während der NS-Zeit, anderseits durch den Blick auf „everyday environmentalism“ und damit auf Aspekte wie Recycling und Konsum geschehen ist. Ob dafür allerdings ein neuer Begriff wie „stalinist environmentalism“ nötig ist? Brain behauptet, diese Wendung im Sinne Stephen Kotkins benutzen zu wollen, der den Stalinismus als Zivilisation mit eigenen Regeln und Werten bezeichnet hat. Umweltschutz sei, so Brain, in Stalins Sowjetunion ein von oben gesteuertes Programm gewesen, das nicht eine wilde, vermeintlich unberührte Natur zum Ideal hatte, sondern die klar anthropozentrisch ausgerichtet war und das Ziel einer rapiden Industrialisierung niemals aus den Augen verlor. Die Besonderheit des „stalinist environmentalism“ liege darin, dass ihre Vertreter die Funktionsweise von Ökosystemen anerkannten, aber die menschlichen Interessen nicht den Bedürfnissen der Natur unterordneten. Es bleibt zweifelhaft, ob die Sowjetunion sich in diesem Umgang qualitativ von westlichen Ländern unterschied, wie Brain postuliert. Ein Seitenblick auf die als „conservationism“ bezeichnete Strömung des Naturschutzes in den USA hätte zeigen können, dass der instrumentelle Blick auf die Natur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein fest etablierter, nicht spezifisch sowjetischer war.

Ebenso ist es bedauernswert, dass Brain weitergehende Fragen, die auch die Methodik der Umweltgeschichte betreffen, kaum beantwortet. Sein Thema hätte sich geeignet, auch zu diskutieren, wie sehr Umweltschutz auf Bewahrung zielen muss, wie viele transformierende Elemente er enthalten darf. Auch der starke Bezug auf Stalin wird nicht eingelöst. Obgleich Brain Stalins Werden zum Umweltschützer nachzeichnen möchte, bleibt Stalin als Person blass. Seine persönliche Anteilnahme an den Schutzmaßnahmen wird in Brains Studie nicht sichtbar. Die Mechanismen stalinistischer Herrschaft vermag Brain so nicht nachzuzeichnen.

Möglicherweise wäre es redlicher gewesen, einen Begriff wie „stalinist sustainability“ oder „stalinist conservationism“ und damit die Wahrnehmung von der Begrenztheit von Ressourcen zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen, kein holistisch verstandenes Konzept von Umwelt. Die seit den 1930er-Jahren zunehmende Wasser- und Luftverschmutzung, Bodenerosion und die Ausbeutung nicht nachwachsender Ressourcen lassen sich jedenfalls kaum mit dem Begriff „stalinist environmentalism“ fassen.

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