K. Åmark: Att bo granne med ondskan

Titel
Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen [Nachbar des Bösen. Schwedens Verhältnis zum Nationalsozialismus, zu Nazideutschland und zum Holocaust]


Autor(en)
Åmark, Klas
Erschienen
Anzahl Seiten
711 S.
Preis
SEK 186,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tanja Schult, Historiska Institutionen, Stockholms Universitet

Mit „Granne med ondskan“ hat der inzwischen emeritierte Professor für Geschichte Klas Åmark ein Standardwerk über Schwedens Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland vorgelegt. Kaum einer scheint besser dafür geeignet. Seine eigene Doktorarbeit, „Makt och Moral“1, beleuchtete die öffentliche Debatte in Schweden bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Im vorliegenden Buch geht es dagegen um Schwedens Verhältnis zum nationalsozialistischen Deutschland und – was in einem früheren, groß angelegten Forschungsprojekt über „Schweden und der Zweite Weltkrieg“ (SUAV) unbeachtet geblieben war – den Holocaust. Es fasst die wichtigsten Forschungsergebnisse zum Thema zusammen. In 18 übersichtlich gegliederten Kapiteln behandelt Åmark die meisten der im Zusammenhang relevanten Themen. Wo Lücken bleiben, ist dies auf den Mangel an Forschung zurückzuführen – dabei wird auch deutlich, wo noch Forschungsbedarf besteht. Das Resultat, ein 700 Seiten-Opus, wurde in den schwedischen Medien durchweg – und zu Recht – gelobt.

Gibt es denn zum Thema überhaupt noch etwas Neues zu sagen? So lautet Åmarks rhetorische Einstiegsfrage. Sein Buch zeigt, dass es wichtig ist, sich diesem historischen Verhältnis mit neuen Fragen und Ansätzen zu nähern. In seiner Untersuchung sind es vor allem die Beziehungen in der Außen-, Handels-, Presse- und Flüchtlingspolitik, die in den Blickpunkt rücken. Erstreckt sich Åmarks Untersuchung im Wesentlichen auf den Zeitraum von 1933 bis 1945, so zeigt er zudem abschließend, dass Schweden auch nach Kriegsende Kriegsverbrechern eine Freistatt bot. Es gelingt dem Autor, relevante Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zusammenzufassen und dabei – trotz des opulenten Umfangs – ein gut lesbares Buch zu schreiben, das für eine breite Leserschaft geeignet ist.

Åmarks Verdienst liegt vor allem darin, eine seit Mitte der 1990er-Jahre vorherrschende selbstanklagende Haltung zu überwinden. Viele Journalisten und Wissenschaftler waren entrüstet darüber, dass man in Schweden jahrzehntelang den Holocaust als Forschungsbereich ignorierte und sich die Frage nach der eigenen Mitschuld an Völkermord und Zweitem Weltkrieg nicht gestellt hatte. Doch selten berücksichtigte man dabei, welche Handlungsspielräume die damaligen Akteure de facto gehabt hatten. Mit dem Wissen um die schrecklichen Verbrechen und im Bewusstsein, dass der Holocaust zu einem einschneidenden Ereignis im kollektiven Gedächtnis nicht nur der westlichen Welt geworden war, verurteilte man oft vorschnell und pauschalisierend.2 Åmark ist stattdessen daran interessiert, Entscheidungen nachzuvollziehen und die möglichen Konsequenzen alternativen Handelns aufzuzeigen.

Obgleich bereits das SUAV-Projekt die Legende von Schwedens Neutralität im Zweiten Weltkrieg in Frage gestellt hatte, hielt sich dieses Bild hartnäckig. Vor allem der schwedische Entschluss vom Juni 1940, deutsche Soldaten durch Schweden nach Norwegen transportieren zu lassen, sowie der Export von Eisenerz im Austausch gegen Kohle wurden immer wieder angeführt, um schwedische Mitschuld am oder das Profitieren vom Zweiten Weltkrieg zu belegen. Åmark zeigt allerdings, dass beides am Ausgang des Krieges oder dessen Dauer kaum etwas geändert hätte. Die deutschen Soldaten in Norwegen wären besser an der Ostfront zum Einsatz gekommen und das schwedische Eisenerz, das während des Krieges geliefert wurde, enthielt zu viel Phosphor, als dass es in der Waffenherstellung hätte Verwendung finden können. Entscheidender war der schwedische Eisenexport vor Kriegsausbruch gewesen, der wesentlich zur Aufrüstung Deutschlands beigetragen hatte.

Åmark veranschaulicht, welchen Einfluss Nazideutschland auf alle Bereiche der schwedischen Gesellschaft hatte, auf Kunst, Kultur, Kirche. Die Reichweite der nationalsozialistischen Ideologie selbst auf nicht okkupierte Länder wird dabei deutlich. So gaben einige Schweden deutschen Arisierungsforderungen nach, um die Handelsbeziehungen nicht zu gefährden. Ausführlich erörtert Åmark die Bedeutung des Antisemitismus für die schwedische Politik. Denn auch wenn rechtsradikale Parteien in Schweden während des Krieges politisch keine Rolle spielten, waren antisemitische Vorurteile Teil des schwedischen Alltags und eine der Ursachen, warum Schweden eine restriktive Flüchtlingspolitik betrieb. Dies änderte sich erst 1941, zu einem Zeitpunkt, als die Nazis den Juden die Ausreise aus Deutschland unmöglich gemacht hatten – was dem schwedischen Außenministerium bewusst war.

Ohne Zweifel gehört das Kapitel zur Flüchtlingspolitik zu den wichtigsten des Buches. Åmark zeigt, dass diese Politik lange Zeit kompromisslerisch und inhuman war. Jüdische Flüchtlinge wurden nicht als politische Flüchtlinge angesehen. Hilfe konnte nur erwarten, wer Beziehungen zu Schweden vorweisen konnte. Erst als die norwegischen Juden deportiert wurden, begann ein Umdenken. Doch es spricht für die schwedische Regierung, dass der Umschwung geschah, bevor der deutsche Rückzug begann. Nach vielen Jahren der Vorsicht zeigte sich das Außenministerium wie die Öffentlichkeit nun bereit, den bedrohten norwegischen und dänischen Juden schnell und effektiv zu helfen. Während diese Hilfeleistungen noch eine Reaktion auf äußere Entwicklungen waren, ging man mit der Entsendung Raoul Wallenbergs im Sommer 1944 einen Schritt weiter. Erklärtes Ziel dieses Einsatzes war es, ungarische Juden vor dem Holocaust zu bewahren. Damit illustriert die Hilfsarbeit der schwedischen Botschaft in Budapest den radikalen Umschwung in der schwedischen Flüchtlingspolitik.

Nach der Lektüre von Åmarks Buch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die schwedische Politik lange Zeit von eigennützigen Motiven bestimmt war. Nachvollziehbar ist, dass man in Schweden alles daransetzte, von Kriegshandlungen verschont zu bleiben um der eigenen Bevölkerung Leiden zu ersparen. Doch das egoistische Agieren steht im krassen Gegensatz zum lange gepflegten schwedischen Selbstbild einer Art moralischer Großmacht. Gerade in den Kapiteln zur Pressepolitik zeigt Åmark, dass es der schwedischen Regierung in erster Linie darum ging, die guten Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland nicht zu gefährden. Dabei wurde von schwedischer Seite oft sehr viel restriktiver vorgegangen, als es deutsche Forderungen nötig gemacht hätten.

Åmark veranschaulicht, dass die schwedische Regierung die Demokratie einschränkte, statt die demokratischen Kräfte in der Gesellschaft zum Widerstand gegen Nazideutschland zu mobilisieren. Obgleich dem schwedischen Außenministerium zumindest seit Herbst 1942 bekannt war, dass die Deutschen einen systematischen Völkermord betrieben, versuchte man die Pressefreiheit massiv zu beschneiden, und wollte die Öffentlichkeit nicht über diese Verbrechen aufklären. Es sind dieser Unwille zum Handeln und die mangelnde Einsicht, dass es sich beim Zweiten Weltkrieg nicht – wie Staatsminister Per Albin Hansson es sehen wollte – um einen Krieg der Großmächte handelte, sondern um den Kampf zwischen Diktatur und Demokratie, die Åmark abschließend als „ungelöstes Trauma“ beschreibt, das in der heutigen schwedischen Gesellschaft fortlebt. Der Begriff Trauma mag eine Übertreibung sein, doch ist das schlechte Gewissen darüber, zu lange untätig verblieben zu sein, heute noch spürbar. Es reicht eben nicht, so Åmark, zu schweigen und nichts zu tun, wenn man „Nachbar des Bösen“ ist.

Deshalb überrascht es, dass Åmark sich nicht der Einschätzung des Historikers Mattias Tydén anschließt, der die schwedischen Unterlassungen als „Mitschuld“ beschreibt.3 Åmarks Ansicht nach kann man für Nicht-Handeln nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Position erstaunt, nicht nur weil sie der seit den 1990er-Jahren entstandenen Forschung zur „Bystander-Problematik“4 entgegensteht, sondern vor allem, weil sie den Ergebnissen, die Åmark selbst in seinem Buch vorlegt, widerspricht. Im abschließenden vierten Teil entschuldigt er die schwedische Passivität damit, dass unser Wissen über den Holocaust und den nationalsozialistischen Terror heute sehr viel grösser ist als damals. Das ist ohne Zweifel richtig. Doch gab es auch in Schweden, vom Außenministerium über viele Tageszeitungen bis hin zur Opposition, umfangreiche Kenntnisse über die Judenverfolgung, und im Laufe des Buches kontrastiert Åmark wiederholt dieses Wissen mit dem Nichthandeln von Regierung und Behörden.

Wünschenswert wäre eine Komprimierung dieser überaus gelungenen Synthese für ein breites Publikum, da sie profunde Kenntnisse über ein historisches Geschehen bietet, das die historische Erinnerungskultur – auch in Schweden – noch immer wesentlich bestimmt. Auch eine gekürzte Ausgabe in deutscher und englischer Übersetzung wäre wichtig, da die Perspektive der nordischen Länder oft vernachlässigt wird. Åmarks Buch bietet die Möglichkeit, das schwedische (Selbst-)Bild erneut zu revidieren, sich von den moralistischen, oft übertriebenen Selbstvorwürfen der letzten zwei Jahrzehnte zu befreien zugunsten eines nuancierteren Bildes, das es auch erlaubt, von den schwedischen Rettungsaktionen zu erzählen. Åmark macht bewusst, dass die schwedische „Neutralität“ nicht nur Schattenseiten hatte, sondern auch Möglichkeiten für Schutz und Rettung bot. Diese Seiten wieder in das schwedische Selbstbild zu integrieren, steht noch aus.

Anmerkungen:
1 publiziert als Klas Åmark, Makt eller moral. Svensk offentlig debatt om internationell politik och svensk utrikes och försvarspolitik 1938-1939, Stockholm 1973.
2 Lars Andersson und Mattias Tydén fassen die wichtigsten Standpunkte dieser Debatten gut zusammen, vgl. Mattias Tydén, Att inte lägga sig i. Till frågan om Sveriges moraliska skuld till Förintelsen, in: Lars M. Andersson / Mattias Tydén, Sverige och Nazityskland. Skuldfrågor och moraldebatt, Stockholm 2007, S. 123–147.
3 Vgl. Andersson / Tydén, Sverige och Nazityskland 2007; Ingvar Svanberg / Mattias Tydén, Sverige och Förintelsen. Debatt och dokument om Europas judar 1933-1945, Stockholm 2005.
4 Siehe zum Beispiel David Cesarani / Paul Levine, „Bystanders“ to the Holocaust: A Re-evaluation, London 2002.

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