R. Bloch: Vorstellungen vom Judentum

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Titel
Antike Vorstellungen vom Judentum. Der Judenexkurs des Tacitus im Rahmen der griechisch-römischen Ethnographie


Autor(en)
Bloch, René S.
Reihe
Historia-Einzelschriften 160
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die antike Ethnographie zeichnet sich durch eine von Mal zu Mal wechselnde Mischung aus empirischen Beobachtungen und kulturellen Vorurteilen aus; im Laufe der Zeit nimmt die Tradierung einmal etablierter Topoi immer mehr zu. Für ethnographische Darstellungen gibt es keine eigenständige literarische Gattung, sie finden sich vielmehr in Werken unterschiedlicher Genres. Das gilt auch für Darstellungen des Judentums. Die Juden werden in der griechisch-römischen Literatur nicht zu den Barbaren gezählt; die Singularität ihrer monotheistischen Religion und der damit verbundenen kultischen Regeln hatte sich aber in einer Tradition von - seit hellenistischer Zeit oft negativ konnotierten - Stereotypen widergespiegelt.1 In Geschichtswerken finden sich ethnographische Exkurse über die Juden besonders im Zusammenhang mit Darstellungen spektakulärer militärischer Ereignisse. Diodor hat dies anlässlich der Schilderung der Einnahme Jerusalems durch Antiochos VII. im Jahre 135 v.Chr. getan (und dabei auf Poseidonios zurückgegriffen); Pompeius Trogus setzte seinen Judendiskurs an die gleiche Stelle. Im Hinblick auf die Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahre 63 v.Chr. greift Diodor auf den Judenexkurs des Hekataios von Abdera vom Ende des 4. Jahrhunderts v.Chr. zurück.2

René S. Bloch gibt in seiner Basler latinistischen Dissertation einen Überblick über diese "Vorgängerexkurse und ihren 'ethnographischen Sitz'" (S. 27-63), bevor er sich ausführlich mit der berühmt-berüchtigten Darstellung des Judentums auseinandersetzt, die Tacitus im 5. Buch seinen "Historien" der Schilderung der Belagerung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 n.Chr. voranstellt. Tacitus ist dann zur Darstellung des Bataveraufstands zurückgekehrt; der Bericht über die Einnahme von Jerusalem und die Zerstörung des Tempels - über den "letzten Tag dieser berühmten Stadt" (Historien 5, 2, 1) - hat im verloren gegangenen Teil des 5. Buches gestanden, dessen Inhalt sich in Umrissen erschließen lässt (S. 116ff.).

Tacitus' Darstellung der Herkunft und Sitten des jüdischen Volkes liest sich wie eine Zusammenstellung bösartiger Topoi bzw. eine "Sammlung wirrer Märchen" 3 über die religiösen und kulturellen Eigenarten der Juden, mit denen sie sich aus der Gemeinschaft der Völker ausschlössen (Historien 5, 4, 1). Tacitus spart nicht mit abfälligen Urteilen über ein Volk mit "höchst abstoßenden Zügen" (Historien 5, 8, 2) und lässt selbst die angebliche Verehrung eines Eselsbildes im Tempel nicht aus (Historien 5, 4, 1), obwohl er darauf verweist, dass diese Mär nach Pompeius' Eindringen in das Allerheiligste widerlegt war (Historien 5, 9, 1) bzw. obwohl er das jüdische Bilderverbot erwähnt (Historien 5, 5, 4). - Gegen den Topos vom Eselskult hat schon Tertullian - allerdings im Hinblick auf eine Einbeziehung der Christen in diese Verdächtigung - polemisiert (S. 65f. 188f.).

In der überaus reichen Tacitusliteratur ist der Judenexkurs - vielleicht wegen der Peinlichkeit, die Bewunderer des großen Historikers empfanden - nicht sehr intensiv behandelt worden; die Frage nach den Quellen des Tacitus hat sich nicht klären lassen, wenngleich die Einquellenhypothese inzwischen als obsolet gilt (S. 20). Diskutiert worden ist der Text zumal im Hinblick auf den antiken "Antisemitismus",4 wobei dann auch festgestellt wurde, dass Tacitus den Ritualmord-Vorwurf nicht wiedergibt (S. 20f.).

Die große Frage bleibt, was Tacitus eigentlich mit diesem langen Exkurs bezweckte, zumal er sich in seinem gesamten übrigen Werk an den Juden kaum interessiert zeigt (S. 120ff.). Die Kritik an jüdischer Proselytenmacherei, die Tacitus (Historien 5, 5, 2) mit anderen zeitgenössischen Autoren wie Juvenal teilt, ist laut Bloch nicht so zentral, um den Exkurs als Ganzen motivieren zu können (S. 94, 127, 134ff., 167).5 Ein (wie stark im Ergebnis auch immer durch Vorurteile deformiertes) genuin ethnographisches Interesse auf Seiten von Tacitus scheidet nach Bloch ebenfalls aus, obwohl Tacitus die große Mehrheit der in einem ethnographischen Exkurs üblichen Topoi "bedient" (S. 143f.). Im Gegensatz zur "Germania" und zum Britannien-Exkurs im "Agricola" kümmert sich Tacitus nicht um kontroverse Einschätzungen von Details in der "Forschung" (S. 160ff.), auch im Vergleich mit früheren Darstellungen der Juden zeigt sich dieses Desinteresse (S. 176ff.). Dem entspreche die Nonchalance, mit der Tacitus seine widersprüchlichen Aussagen zum angeblichen Eselskult nebeneinander stehen lässt (S. 159).

Der gehässige Ton bei Tacitus ergibt sich unter anderem aus der Verwendung von Hapaxlegomena; zusammen mit dem Rückgriff auf altertümliche Wörter, Anspielungen auf Sallust und Vergil, dem Gebrauch von Wortspielen und dem Spiel mit Antithesen und Parallelismen sind sie Ausdruck einer artifiziellen sprachlichen Gestaltung (S. 75ff.). Diese entspricht der Funktion eines Exkurses, der nach Tacitus (Annalen 4, 33, 3) den Erzählstrang mit seinen Wiederholungen ähnlicher, den Leser ermüdender Ereignisse unterbrechen, damit "dem gehetzten Leser eine Art Rastplatz" mit "Hintergrundinformation und Leserunterhaltung" bieten soll (S. 166f.). Darin liegt nach Bloch die wichtigste Absicht; der Judenexkurs "ist die Choreinlage zur Tragödie vom Fall Jerusalems"; der Bericht darüber wird so "retardiert und spannungsvoll aufgeladen" (S. 169f.). Die insgesamt negative Charakterisierung der Juden dient als Kontrast zur Darstellung von Vespasian und Titus (S. 139). "Judäa bzw. die Juden stellen die Kulisse für die Feuerprobe der Flavier dar" (S. 142, vgl. S. 222). Die "antijüdischen Stereotype" hatten demnach mehr einen "literarischen und kontextbezogenen Zweck", als dass sie "Ausdruck einer aggressiven Ideologie" gewesen wären (S. 215f.). Ob dies eine angemessene Formulierung ist, ist zu bezweifeln, denn "alles Verständnis für mögliche künstlerische Absichten kann ... nicht darüber hinwegtäuschen, daß Tacitus sich für die Verunglimpfung des Kriegsgegners zu niedrigster Propaganda hinreißen ließ".6

Dieser Nachdruck auf den erzählstrategischen Intentionen ist der Tacitusrezeption fremd gewesen, die Bloch in seinem abschließenden Kapitel skizziert. Seit dem 16. Jahrhundert ist Tacitus wegen dieser Passagen teils heftig kritisiert, teils gegen Vorwürfe in Schutz genommen worden. Frühneuzeitliche Literatur antijudaistischer Provenienz scheint sich nicht auf Tacitus berufen zu haben, möglicherweise weil sich bei Tacitus antijüdische und antichristliche Tendenzen überschneiden (S. 197). Umgekehrt ist dann Spinozas Kritik am jüdischen Gesetz von Tacitus' Judenexkurs inspiriert, der jedoch nicht explizit angeführt wird (S. 202ff.). Gibbon hat den taciteischen Vorwurf der Separierung von der Gemeinschaft der Völker besonders auf das Christentum bezogen (S. 206f.).7 Verwendungen in einem dezidiert antisemitischen Sinne finden sich dann im 19. Jahrhundert, so in Heinrich Leos (seit 1828 gehaltenen) Berliner Vorlesungen "Über die Geschichte des jüdischen Staates" (S. 211f.). Im "Berliner Antisemitismusstreit" von 1879/80 hat Treitschke sich auf Tacitus berufen, dabei aber - wie Heinrich Graetz in seiner Replik deutlich machte - die von Tacitus (Annalen 15, 44, 4) auf die Christen gemünzte Formel vom Hass gegen die Menschheit auf die Juden bezogen (S. 213f.). Für die Verwendung von Tacitus in antisemitischer Absicht in der Zeit des Nationalsozialismus verweist Bloch exemplarisch auf ein 1943 erschienenes, gemeinschaftliches Werk des "Rassenforschers" Eugen Fischer und des Theologen Gerhard Kittel über das "antike Weltjudentum" (S. 216).8

Bloch beansprucht für diesen Überblick, der sich im wesentlichen auf einschlägige Literatur stützen kann, keine Vollständigkeit. Für eine umfassende Analyse der Fernwirkungen von Tacitus' antijüdischen und antichristlichen Passagen in der Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte bleibt noch einiges zu tun - nicht nur, aber auch im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus.9

Anmerkungen

1 Eine umfassende, kommentierte Sammlung der Passagen aus der antiken Literatur (Originaltexte mit englischen Übersetzungen) bietet Menahem Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, 3 Bde., Jerusalem 1976-1984; vgl. auch ders., The Jews in Greek and Latin Literature, in: S. Safrai / M. Stern (Hgg.), The Jewish People in the First Century, Bd. 2, Assen 1987, S. 1101-1159.
2 Der Historiker Agatharchides von Knidos (2. Jahrhundert v.Chr.) hat darüber gespottet, dass die Juden bei der Einnahme Jerusalems durch Ptolemaios I. (um das Jahr 320) die Sabbathruhe einhielten, anstatt sich zu verteidigen (Josephus, Contra Apionem 205ff.). - Die Eroberung Jerusalems durch Pompeius hat das ethnographische Interesse an den Juden gefördert, wie sich in der Entstehung einer entsprechenden (allerdings nur aus wenigen Exzerpten bekannten) Literatur ausweist (Bloch 178f.).
3 Isaak Heinemann, Antisemitismus, RE Suppl. 5, 1931, Sp. 3-43, hier 36.
4 Vgl. allgemein zuletzt Zvi Yavetz, Judenfeindschaft in der Antike, München 1997; Peter Schäfer, Judeophobia. Attitudes toward the Jews in the Ancient World, Cambridge, Mass. 1997.
5 Für anderslautende Einschätzungen in der Literatur vgl. z. B. Klaus Rosen, Der Historiker als Prophet. Tacitus und die Juden, in: Gymnasium 103, 1996, S. 107-126.
6 Heinz Heinen, Ägyptische Grundlagen des antiken Antijudaismus. Zum Judenexkurs des Tacitus, Historien V, 2-13, in: Trierer Theologische Zeitschrift 101, 1992, S. 124-149, hier 140.
7 Aber Gibbon lässt auch deutlich seine Antipathie gegen die Juden durchschimmern, so im 23. Kapitel von "Decline and Fall", das von Julian handelt.
8 Das Buch erschien in einer Reihe ("Forschungen zur Judenfrage", 1937ff.), die von der Abteilung "Judenfrage" des von Walter Frank geleiteten, in München angesiedelten "Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands" herausgegeben wurde; in Konkurrenz dazu stand das von Rosenberg aufgebaute "Institut zur Erforschung der Judenfrage" in Frankfurt am Main; vgl. (auch zur Rolle von G. Kittel) Christhard Hoffmann, Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts, Leiden 1988, 250ff.
9 Die Darstellung bei Hoffmann ist für die NS-Zeit noch nicht erschöpfend - und ein Pendant zu seinem grundlegenden Werk, das generell das Bild des antiken Judentums in anderen nationalen Wissenschaftskulturen behandelte, scheint zu fehlen; zur "Germania" des Tacitus vgl. Allan A. Lund, Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der "Germania" des Tacitus im "Dritten Reich", Heidelberg 1995.

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