Titel
Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene


Autor(en)
Schwanhäußer, Anja
Reihe
Interdisziplinäre Stadtforschung
Erschienen
Frankfurt a.M., New York 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
333 S., zahlreiche Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Stefan Wellgraf, Center for Metropolitan Studies, Berlin

Anja Schwanhäußer beschreibt in ihrer am Berliner Institut für Europäische Ethnologie entstandenen und nun im Campus Verlag veröffentlichten Dissertation „Kosmonauten des Underground“ die Techno-Szene in Berlin. Die Autorin erzählt die noch weithin unbekannte Geschichte der mythenumwobenen Avantgarde der weltweit beachteten Berliner Nachtkultur. Das Buch bietet gleichzeitig einen ethnografischen Beitrag zur Szene- und Subkulturforschung und ermöglicht wichtige Einsichten für das interdisziplinäre Feld der Stadtforschung.

Die Studie setzt ein mit der Beschreibung einer unangemeldeten Techno-Party in einer verlassenen Abhörstation der US-amerikanischen Armee in Berlin, wodurch es der Autorin gelingt, das Thema der temporären Raumaneignung als ein Leitmotiv zu etablieren. Nach der Einführung in zentrale Fragestellungen folgt ein Kapitel über „Urbane Ethnografie“, in dem Schwanhäußer ihr methodisches Vorgehen vorstellt und ihre Rolle als Feldforscherin reflektiert. Die folgenden Kapitel sind einzelnen Facetten der Szene-Kultur gewidmet: Sie handeln von urbaner Raumästhetik, den Gefühlsqualitäten des Moments und der Inszenierung eines subkulturellen „Spirits“. Die kulturellen Orientierungen der Szene-AkteurInnen werden daran anschließend als doppelte Ausrichtung am „Unten“ sowie am „Außen“ beschrieben. Erstere äußere sich in der Proletarierromantik der mit dem Techno-Underground eng verbundenen Hausbesetzer- und Wagenburgkultur, letztere komme vor allem in der Natur- und Hippieromantik der Szene zum Ausdruck. Zum Schluss werden neben einem Fazit die eigenen Befunde noch in „Szenen und Theorien urbaner Kultur“ eingebettet und wird in einem kurzen Anhang die „Szene Berlin vor 1989“ skizziert.

Schwanhäußers Studie basiert auf einer ethnografischen Langzeitforschung seit Beginn der 2000er Jahre und zeichnet sich durch eine besondere Nähe zu den AkteurInnen aus. Im Zuge ihrer Forschung verbrachte die Autorin selbst viele Tage und Party-Nächte im Techno-Berlin: Sie feierte unter anderem Weihnachten und Silvester in der Szene, nahm an Kochabenden in geselligen Runden teil, engagierte sich selbst aktiv bei Festivals, fotografierte, interviewte und hörte einfach zu. Die Autorin gewann durch diesen Feldzugang das Vertrauen vieler Szene-ProtagonistInnen und in Folge dessen einen besonderen Blick für die Selbstbeschreibungen und Logiken dieser Subkultur sowie für die Ambivalenzen und das Besondere des Partymachens. So fließen nicht nur die euphorischen Momente des Nachtlebens, sondern auch die melancholischen Stunden nach der Partynacht in die Darstellung ein. Das Gemeinschaftsgefühl in einem Partykollektiv wie dem der „Muh-Bar“ wird ebenso geschildert wie das in solchen Gemeinschaften mitunter aufkommende Gefühl der ökonomischen Selbstausbeutung. Dieser ethnografische Blick für lebensweltliche Zusammenhänge und Ambivalenzen trägt wesentlich zu einem umfassenden und damit besseren Verständnis der Berliner Techno-Szene bei.

Doch lassen die emphatischen Beschreibungen des Partygeschehens an einigen Stellen auch eine leichte Tendenz zur Romantisierung erkennen. So zeugen Bemerkungen wie „machten Ostberlin ganz allgemein zu einem Ort für alternative Lebensstile“ (S. 19) oder die Hausbesetzer-Bewegung sei „nahezu gleichbedeutend mit Kreuzberg in den 1980er Jahren“ (S. 311) zwar von einer spürbaren Begeisterung für urbane Alternativkulturen, sind in dieser generalisierenden Form jedoch nicht überzeugend. Auch in der insgesamt gelungenen Auseinandersetzung mit Interview- und Feldmaterial, zu dem auch zahlreiche selbst angefertigte Fotografien gehören, tauchen einige unglückliche Formulierungen auf. So belegt beispielsweise die Unterstellung, dass „man von einem ehemaligen Zimmermann nicht unbedingt erwarten wird“, er sei ein „hingebungsvoller Drifter durch die Nacht“ (S. 252) eine gewisse statusbedingte Voreingenommenheit. Bei der für Ethnografen aufgrund der persönlichen Beziehungen zu den Beforschten jeweils schwer herzustellenden Balance zwischen Nähe und Distanz kommt in dieser Studie tendenziell die kritische Distanz etwas zu kurz. Gleichzeitig beginnt der Versuch Nähe herzustellen nie von einem neutralen Standpunkt, worauf auch Schwanhäußers eigene Bemerkungen zu ihrer Rolle als Frau in der Szene hindeuten.

Doch trotz dieser Kritikpunkte bietet die Lektüre gerade aufgrund des ethnografischen Zuganges eindrucksvolle Schilderungen von Berliner Nachtwelten und den diese bevölkernden Gestalten. Der Leser respektive die Leserin gelangt an geheime Orte, an denen sich oft skurrile Dinge ereignen, erlebt die AkteurInnen aber auch in ihrem Alltag und erfährt von ihren biografischen Hintergründen. In den so entstehenden ethnografisch dichten Beschreibungen liegt eine der großen Stärken dieses Buchs. Die sprachlich erzeugten Evokationen von aus der Wechselwirkung von Musik, Räumen und Personen entstehenden Stimmungen haben mitunter literarische Qualitäten und liefern gleichzeitig reflektierte Beiträge zur wissenschaftlichen Diskussion um „Atmosphären“. Schwanhäußer greift hier sowohl auf Selbstbeschreibungen der AkteurInnen als auch auf eigene Feldnotizen zurück, um die sinnlichen Eindrücke des Partygeschehens sprachlich zu vermitteln. Sie verlässt an einigen Stellen bewusst die akademische Halbdistanz der souveränen Schilderung und profitiert dabei maßgeblich von der Außergewöhnlichkeit des Geschehens und dem Erfindungsreichtum der Szene-ProtagonstInnen.

Parallel dazu gelingt es Schwanhäußer, ein analytisches Vokabular für ein emisch fundiertes Verständnis der Techno-Szene in Berlin zu entwickeln. Dadurch entsteht neben einer alternativen Geschichte des „Neuen Berlins“ nach 1990 eine wegweisende Stadt-Ethnografie, welche die symbolischen Praktiken der Szene-AkteurInnen als spezifische Reaktion auf die Eigenlogiken des urbanen Raumes verständlich macht. Begriffe wie „Spirit“ und „Dérive“ werden auf überzeugende Weise (weiter) entwickelt und genutzt, um das Fluide und Momenthafte dieser urbanen Szene verständlich zu machen. Die subkulturelle Organisation der Szene, ihr Netzwerkcharakter und ihr starker Bezug auf die ephemeren Qualitäten des Berliner Stadtraums begünstigen spezifisch urbane Formen des Zusammenseins und der Vergesellschaftung. Die Technoszene bietet somit eine lebenspraktische Antwort auf die kulturelle Logik der Großstadt und die spezifische Raumsituation in Berlin nach der Wiedervereinigung.

Theoretisch ermöglicht dies eine produktive Verbindung und Weiterentwicklung von theoretischen Konzepten der Stadt-, Szene- und Subkulturforschung. Die Autorin schaut nicht nur auf Kulturen „in der Stadt“, sondern versucht am Beispiel einer urbanen Szene die Kultur „der Stadt“ analytisch zu fassen. Szene- und Subkultur lassen sich in diesem Zusammenhang als aufeinander verweisende Konzepte begreifen, da erst durch die subkulturelle Orientierung ein kollektiver „Spirit“ im Rahmen eines räumlich flexiblen sozialen Netzwerks erzeugt wird. Der von Stadttheoretikern vielfach betonte fluide Charakter urbaner Kultur wird in dieser Lesart erst durch Szenen wie den Techno-Underground hergestellt. Mittels einer praxistheoretischen Herangehensweise gelingt es Schwanhäußer diese nur schwer beschreibbaren Bewegungsströme der Großstadt empirisch zu untersuchen, etwa indem sie den Wegen und Zirkulationsweisen von Flyern folgt, die neben dem Internet für die stadträumliche Organisation der Szene von entscheidender Bedeutung sind. Der ethnografische Zugang mit seinem Schwerpunkt auf teilnehmender Beobachtung erweist sich somit auch für die Weiterentwicklung von Theorien urbaner Kultur als äußerst fruchtbar.

Das Verdienst dieser Studie besteht darin, theoretisch reflektierte und empirisch gesättigte Beschreibungsformen für soziale Phänomene zu finden, deren Besonderheit gerade ihre fluiden, atmosphärischen oder spirituellen Qualitäten ausmachen. Die Faszination urbaner Kulturen wie dem Techno-Underground liegt für seine ProtagonistInnen gerade in der Herstellung von retrospektiv nur schwer zu schildernden Momenten sinnlicher Erfahrung. Gleichzeitig bilden sich in der kollektiven Suche nach dem als außergewöhnlich erlebten Partyerlebnis gewisse soziale Strukturen mit einflussreichen Orten und relativ verbindlichen Werte- und Verhaltensmustern heraus, die hier mit Blick auf die Widersprüche und die Potentiale eines hedonistischen Lebensstils beschrieben werden.

Die zum Teil in der Wagenburgenkultur und der Hausbesetzer-Bewegung sozialisierten Szene-AkteurInnen verstehen sich als „Underdogs“ und Außenseiter. Im Zuge der „Ästhetisierung der Alltagswelt“ und der Verschiebung des vormals Randseitigen expressiver kultureller Gegenbewegungen in das Zentrum des postmodernen Kapitalismus wird aus der Techno-Szene jedoch auch eine Art Soziallabor, in dem die Grenzen zwischen Subkultur und Mainstream verschwimmen. Schwanhäußers gelungene Mikro-Studie über die Berliner Techno-Szene liefert deshalb vielversprechende Anschlussmöglichkeiten an Debatten über Kreativmilieus, Gentrifizierung und die aktuellen Transformationen des Kapitalismus.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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