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Titel
Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus


Autor(en)
Trümpi, Fritz
Erschienen
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Werner Boresch, Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften, Universität Wuppertal

Fritz Trümpis gründliche Studie – basierend auf seiner Zürcher Dissertation – widmet sich zwei seit Jahrzehnten herausragenden Orchestern, die dank ihrer medialen Wirksamkeit entscheidend zur weltweiten Distribution 'klassischer Musik' beitragen. Durch den Vergleich gelingt es Trümpi die unterschiedliche Rezeption (und Selbstdarstellung) der beiden Klangkörper als „Ergebnis einer Art von Markenbildungsprozessen“ (S. 14) darzustellen: Die „spezifischen Orchesternarrative“ – das Berliner Philharmonische Orchester als „Monopolträger der deutschen Musik“ und die Wiener Philharmoniker als „Repräsentanten des Wienerischen“ (S. 264) – wurden schon früh ausgebildet und in der Zeit des Nationalsozialismus petrifiziert, sind aber auch darüber hinaus wirksam.1

So kann Trümpi den Ausgangspunkt der populären Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker, das 1939 veranstaltete Sylvesterkonzert mit Werken der Strauß-Familie, auf „die gesteigerte Wien-Konnotation, die das Orchester im Nationalsozialismus erfuhr“ (S. 256), zurückführen. Für das Berliner Philharmonische Orchester zeigt er, dass deren „weit zurückreichende Anbindung an das 'Made in Germany'-Label und die damit einhergehende auf das Reich bezogene Imagepolitik die Eingliederung in das Reichsministerium“ (für 'Volksaufklärung und Propaganda') begünstigte (S. 106).

Die Darstellung von Kontinuität ist neben der Diskussion der Markenbildungen (und deren ebenfalls kontinuierlicher Pflege) ein zweiter roter Faden des Buches. Die Kapitel zwei und drei widmen sich in angemessener Ausführlichkeit den Anfängen der Orchester und der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, das vierte Kapitel trägt den Titel „Kontinuierlich radikalisiert: die beiden Orchester in Faschismus und Nationalsozialismus“. Dabei spielt auch die ökonomische Situation, die vor allem im dritten Kapitel beleuchtet wird (besonders S. 73–96), eine große, zum Teil entscheidende Rolle. Trümpi legt dar, dass im Gesellschaftsvertrag von 1932, der das „finanziell schwer angeschlagene“ Berliner Orchester „weitgehend unter den Einfluss von Stadt und Reich zwang“ und daher einen bedeutsamen „Autonomieverlust“ bedeutete (S. 89), bereits die spätere 'Gleichschaltung' angelegt gewesen sei, und folgert, dass „die Übernahme des Orchesters durch Goebbels['] Ministerium 1934 keineswegs jenen Bruch bedeutete, als den ihn die Forschung bisweilen herausstellt“ (S. 95f.). Durch die „Eingliederung in Goebbels' Ministerium“ avancierte das Berliner Philharmonische Orchester schließlich zum „Hauptträger der musikalischen Imagepolitik des 'Dritten Reiches'“ (S. 188).

Die Wiener Philharmoniker, die sich als Verein konstituierten und deshalb eigenständiger als ihre Berliner Kollegen (von Kolleginnen war in beiden Orchestern noch lange keine Rede) operieren konnten, zeigten sich dessen ungeachtet keineswegs politikabstinent. Dies belegt Trümpi im Kapitel 4.3 („Die Selbstanpassung der Wiener Philharmoniker im 'Austrofaschismus'“, S. 118–132) unter anderem mit Hinweisen auf Veranstaltungen, bei denen die Philharmoniker „Teil der für das 'austrofaschistische' Österreich typischen 'Dreieinigkeit' von Kultur, Staat und Kirche“ waren (S. 128). Auch nach dem März 1938 „setzte sich die Politisierung der Wiener Philharmoniker in erster Linie auf der Ebene der Kooperation und weniger über die politische Besetzung von Orchesterverwaltung und -organisation fort“ (S. 133), was deutlich wird, wenn zum Beispiel der Geschäftsführer des Orchesters im Oktober 1938 anbietet, „'mit all unseren Kräften am Aufbau des Großdeutschen Reiches […] mitwirken'“ zu wollen (S. 137).

Die „anhaltenden Kompetenzstreitigkeiten in Bezug auf Wiens künstlerische Institutionen“ (S. 168) wird im Kapitel 5. 3 (S. 163–179) umfangreich dargestellt – mit dem Fazit, dass „nationalsozialistische Kulturpolitik […] nicht nur 'ideologischen' Richtlinien“ gehorchte, sondern „mindestens ebenso sehr von praktischen machtpolitischen Konstellationen bestimmt“ war (S. 179). Hier werden vor allem die Kontroversen zwischen Joseph Goebbels und Baldur von Schirach dokumentiert, die gleichzeitig die „beiden zentralen Akteure“ des mit der „Konkurrenzsituation zwischen Berlin und Wien“ verbundenen Handlungsfeldes waren (S. 179). Dies ist ein erneuter Beleg für die offensichtliche Tatsache, dass es im Nationalsozialismus keine Einheitlichkeit in der Kulturpolitik gab, dass diese aber durchaus von persönlichen Vorlieben und Streben nach Einfluss geprägt sein konnte. Ein anderes Beispiel, den Machtkampf zwischen Goebbels und Alfred Rosenberg im sogenannten 'Fall Hindemith', hatte bereits 1970 Reinhard Bollmus beschrieben2.

Über die „vielfältige Medienpräsenz der beiden Orchester“ handelt Trümpi im relativ kurzen sechsten Kapitel (S. 201–231). Insbesondere die „fiktionale[n] Orchesterdarstellungen“ – mit dem Hinweis auf einen heutzutage abstrus anmutenden Plan für ein Filmmärchen über die Wiener Philharmoniker, das allerdings über eine Drehbuchskizze nicht hinauskam (S. 225ff.) – werden geradezu unterhaltsam referiert.

Bereits in der Einleitung wird auf eine „große Forschungslücke“ aufmerksam gemacht, die aber auch Trümpis Studie „nur teilweise zu schließen vermag“ (S. 21), nämlich die Aufarbeitung der Repertoires der Orchester in der Zeit des Nationalsozialismus. Hier knüpft das siebte Kapitel an, in dem neben anderem die tendenzielle „Einschränkung des 'Populären' bei den Berliner Philharmonikern“ der ebenfalls tendenziellen „Aufwertung der 'leichten' Musik durch die Wiener Philharmoniker“ gegenübergestellt wird (S. 249-263). Eine „einschneidende Kanonverschiebung“ nach 1933 bzw. 1938 kann jedenfalls bei beiden Orchestern nicht festgestellt werden (S. 235), was allerdings kaum überraschen dürfte. Vielleicht wird eine spezifische Repertoirepolitik nur deutlich, wenn danach gefragt wird, was nicht gespielt wurde. Jedenfalls wird die Kontinuität in der Komponisten- und Werkauswahl auch durch die im Anhang mitgeteilten kommentierten Grafiken bestätigt, wobei kritisch angemerkt sei, dass deren wechselnder Maßstab die optische Wahrnehmung erschwert: Zum Beispiel führt das unterschiedliche Längenmaß der Prozent-Koordinatenachsen bei den Aufführungszahlen für Richard Strauss (S. 325) und Hans Pfitzner (S. 327) zu einer verzerrten Darstellung.

Dabei handelt es sich jedoch um ein Detail, das den Wert der Studie ebenso wenig schmälert wie Trümpis vereinfachende Aussage, Musik sei – erst – seit dem Ersten Weltkrieg „sowohl in innen- als auch außenpolitischer Hinsicht als staatspolitisches Instrument begriffen und benutzt“ worden (S. 65). Zu fragen wäre, ob dies nicht eine Marginalisierung des Zusammenhangs von Musik und Politik etwa im 17. Jahrhundert (Stichwort 'repräsentative Öffentlichkeit') oder im 19. Jahrhundert (Stichwort 'Musik und Nationalismus') ist.

Wichtig ist die Arbeit vor allem durch die herangezogenen Quellenmaterialien, die – insbesondere die Wiener Philharmoniker betreffend – teilweise zum ersten Mal wissenschaftlich ausgewertet werden konnten. Der Zugang zum Historischen Archiv der Wiener Philharmoniker erlaubte Trümpi „tiefe Einblicke in die operative Führung der Wiener Philharmoniker“ (S. 20), wobei den Versammlungs- und Sitzungsprotokollen eine besondere Bedeutung zukommt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Trümpi kann mit dem Protokoll einer Komitee-Sitzung vom Oktober 1939 zeigen, dass „die jüdischen RentenempfängerInnen […] gegenüber den 'arischen' seitens der Orchesterleitung (und nicht etwa aufgrund einer staatlichen Verordnung) eine deutliche Benachteiligung“ erfuhren (S. 142, Fußnote 568).

Insgesamt legt Fritz Trümpi eine sehr verdienstvolle, ausgewogene Studie vor, die einen wichtigen Beitrag zur musikalischen Institutionengeschichte im Nationalsozialismus leistet, ohne größere historische Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. Die einschlägige Sekundärliteratur wird umfassend genutzt und detailreich ergänzt. Abschließend sei anerkennend vermerkt, dass sich beide Orchester heute ihrer Vergangenheit stellen.3

Anmerkungen:
1 Trümpi erinnert an die 2006 geführte Debatte um den „'deutschen Klang'“ der Berliner Philharmoniker (S. 12).
2 Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970.
3 Vgl. z.B. Misha Aster, „Das Reichsorchester“. Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus, München 2007. Diese Studie wird von Trümpi in manchen Einzelheiten korrigiert. – Auf der Website der Wiener Philharmoniker finden sich Beiträge u.a. von Fritz Trümpi zum Nationalsozialismus: <http://www.wienerphilharmoniker.at/orchester/geschichte/nationalsozialismus> (02.01.2014).

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