K. Linne u.a. (Hrsg.): Arbeitskräfte als Kriegsbeute

Cover
Titel
Arbeitskräfte als Kriegsbeute. Der Fall Ost- und Südosteuropa 1939-1945


Herausgeber
Linne, Karsten; Dierl, Florian
Erschienen
Berlin 2011: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alfons Adam, Brüssel

Ein weiterer Sammelband zur Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg? Viele, die sich mit diesem Thema beschäftigen, werden der Meinung sein, dass ein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn seit Ulrich Herberts grundlegender Studie und angesichts von etwa 20 bis 30 Monographien jährlich zur Zwangsarbeit allein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt kaum mehr möglich sein wird.1 Die historische Forschung leidet trotz der durch Spoerer eingeleiteten Erweiterung um die „Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten Europas" jedoch weiter an ihrem geographischen Fokus auf Deutschland als Ort der Zwangsarbeit.2 Wer also Neuland betreten möchte, muss geographische Grenzen überschreiten.

Der von Florian Dierl und Karsten Linne herausgegebene Sammelband macht diesen Schritt und fragt anhand von neun Fallbeispielen sowohl nach der Tätigkeit der deutschen Arbeitsverwaltungen in den besetzten Gebieten als auch nach der Rekrutierung von Zwangsarbeitern für den Reichseinsatz und vor Ort. Der eindeutige Schwerpunkt des Bandes liegt mit vier Aufsätzen auf dem besetzten Polen. Weiter werden das „Protektorat Böhmen und Mähren“, der „Unabhängige Staat Kroatien“, das unter Militärverwaltung stehende Serbien, die baltischen Generalbezirke des Reichskommissariats Ostland und die Ukraine behandelt. Nach einer Einleitung der Herausgeber, die die aktuelle deutschsprachige Forschungsliteratur beinhaltet, behandelt Dieter G. Maier kompakt und übersichtlich die Organisationsgeschichte der deutschen Arbeitsverwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus. Ausgehend von der Arbeitsvermittlung im deutschen Kaiserreich zieht Maier den Bogen bis zum Aufbau der Arbeitsverwaltung in den besetzten Gebieten.

Steffen Becker stellt mit dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ das erste Fallbeispiel vor. Besonders interessant ist der tschechische Fremdarbeitereinsatz in zweierlei Hinsicht: Zum einen wurde hier die gesamte Spannbreite staatlicher Mobilisierungsmethoden von der freiwilligen Anwerbung tschechischer Arbeitsloser bis zur Rekrutierung ganzer Geburtsjahrgänge für die deutsche Kriegswirtschaft und schließlich zum Einsatz von Jugendlichen für Schanzarbeiten in den letzten Kriegsmonaten abgedeckt. Zum anderen waren Tschechen die erste Ausländergruppe, die sowohl zum Dienst in der heimischen Industrie als auch zum Einsatz im Reich gezwungen wurde.

Ryszard Kaczmarek und Karsten Linne behandeln mit der Provinz Oberschlesien und dem Reichsgau Wartheland aufgrund der jeweils gemischtnationalen Bevölkerung und der dort der „Volkstumspolitik“ weitgehend untergeordneten Arbeitsverwaltung ähnliche Fälle. Die Provinz Oberschlesien, die nach dem Polenfeldzug durch die angeschlossene Woiwodschaft Schlesien 1941 gebildet wurde, verfügte über einen großen polnischen, durch den Anschluss des sogenannten „Oststreifens“, Teile der Woiwodschaften Krakau und Kielce, auch über einen beachtlichen jüdischen Bevölkerungsanteil. Die Deutsche Volksliste (DVL), die die Oberschlesier nach rassischen Kriterien in vier Gruppen unterteilte, war die Grundlage für deren Arbeitseinsatz und Arbeitsbedingungen. Die außerhalb der DVL stehenden Polen wurden in der heimischen Rüstungswirtschaft ausgebeutet. Für den Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung Oberschlesiens war zwischen 1940 und 1943 die SS-Organisation Schmelt zuständig.

Auch beim Reichsgau Warthegau handelte es sich aus nationalsozialistischer Sicht, trotz einer Bevölkerung, die zu 85 Prozent aus Polen bestand, um die „Wiedereingliederung, alten deutschen bzw. germanischen Kulturbodens“ (S. 107). Im Gegensatz zu Oberschlesien kam es dort zu umfangreichen Deportationen – vor allem der polnischen und jüdischen Bevölkerung in das Generalgouvernement. Die Arbeitsverwaltung war sowohl an den bevölkerungspolitischen Selektionen, den Deportationen wie auch bei der Ansiedlung von Volksdeutschen aktiv beteiligt. Während Interessenkonflikte mit dem für die Deportationen zuständigen SS-Apparat weitgehend ausblieben, scheiterte die deutsche Arbeitsverwaltung in der Befriedigung der parallel steigenden Nachfrage nach Arbeitern für den Reichseinsatz und dem wachsenden Bedarf an Arbeitskräften in der Rüstungsindustrie des Reichsgaus.

Die Distrikte Radom und Krakau im Generalgouvernement untersuchen Robert Seidel und Mario Wenzel. Seidel zeigt, dass nach dem raschen Versiegen der freiwilligen Meldungen zum Arbeitseinsatz in Deutschland das Arbeitsamt ab 1940 Dörfer und Bezirke zur Stellung von Arbeiterkontingenten verpflichtete. Der Gewalthöhepunkt wurde 1944 erreicht, als im Rahmen der „Bandenbekämpfung“ SS- und Polizeikräfte Dörfer niederbrannten, Menschen ermordeten und die Überlebenden den lokalen Arbeitsämtern übergaben.

Die Juden des Distrikts Krakau unterlagen nach dem Aufbau einer deutschen Zivilverwaltung einem Arbeitszwang. Die Judenräte erfassten und verwalteten die jüdische Bevölkerung und standen teilweise in Konkurrenz zur deutschen Arbeitsverwaltung, die die jüdischen Arbeitskräfte erst im Juni 1940 in ihre Verwaltungshoheit übernahm. Aufgrund des zunehmenden Mangels an polnischen Arbeitern wurden verstärkt Juden verpflichtet. Die Arbeitsämter füllten dabei nicht nur die Vermittlerrolle zwischen den Bedarfsträgern und den jüdischen Ältestenräten aus, sondern kontrollierten regelmäßig die Lager, in denen die jüdischen Zwangsarbeiter untergebracht waren. Im Juni 1942 wurde der deutschen Arbeitsverwaltung die Verantwortung über den jüdischen Arbeitseinsatz entzogen und dem zuständigen SS- und Polizeiführer übertragen.

Christian Schölzel und Zoran Janjetović loten an den Beispielen des „Unabhängigen Staates Kroatien“ und des besetzten Serbiens die Bandbreite der Handlungsspielräume zwischen Kollaboration und Ausbeutung aus. Im nach der Niederlage Jugoslawiens gegründeten faschistischen „Unabhängigen Staat Kroatien“ liefen verschiedene Rekrutierungsmethoden parallel. Neben einer Werbung von Freiwilligen durch kroatische Stellen deportierte die deutsche Militärverwaltung verhaftete Kriegsgefangene und Juden zur Arbeit nach Deutschland. Serben, die über eine kroatische Staatsbürgerschaft verfügten und zum kroatischen Militär eingezogen werden sollten, wurden ebenso wie Häftlinge aus den kroatischen Konzentrationslagern zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Am Ende wurden etwa 270 000 kroatische Zivilarbeiter im Deutschen Reich eingesetzt.

In Serbien unterstand die Arbeitsverwaltung trotz verschiedener Besatzungsmächte allein der deutschen Okkupationsverwaltung. Während serbische Kriegsgefangene ins Deutsche Reich deportiert wurden, wurden Juden und Roma zur Zwangsarbeit vor Ort herangezogen. Die Anwerbung serbischer Zivilarbeiter für das Deutsche Reich wurde aufgrund des zunehmenden Arbeitskräftemangels in der heimischen Industrie bereits Mitte 1942 gestoppt. Die serbische Zivilbevölkerung war verschiedenen Formen der „Pflichtarbeit“ vor Ort unterworfen, konnte sich dieser aber vielfach durch Flucht entziehen. Die Kohlengruben in Kostalec und das Kupferbergwerk in Bor, wo auch ungarische Juden und italienische Militärinternierte zum Einsatz kamen, wurden zu Synonymen für die Zwangsarbeit in Serbien.

Tilman Plath und Herwig Baum schließen den Sammelband mit zwei Studien zur Arbeitseinsatzverwaltung in den baltischen Generalbezirken des Reichskommissariats Ostland und in der Ukraine ab. Plath zeigt anhand eines auf die Akteure des Arbeitseinsatzes fokussierten organisationssoziologischen Ansatzes die Schwächen des Systems auf. Unklare Machtverhältnisse und eine Vielzahl um das beschränkte Gut Arbeitskraft konkurrierender Akteure verhinderten befriedigende Ergebnisse bei der Arbeitseinsatzverwaltung im Baltikum. Dabei konnten die deutschen Wehrwirtschaftsbehörden, die „Ostgesellschaften“ und die Wehrmacht ihre Interessen besser durchsetzen und im Laufe der Besatzungszeit eine immer größere Zahl von Arbeitskräften kontrollieren.

Die deutsche Besatzungspolitik in der Ukraine ging ursprünglich in Erwartung eines raschen Sieges über die Sowjetunion nicht von einem Arbeitseinsatz der einheimischen Bevölkerung in der deutschen Kriegswirtschaft aus. Bereits im Herbst 1941 wurde diese Haltung revidiert und die Ukraine mit zwei Millionen nach Deutschland Deportierten zu einem der größten Arbeiterreservoirs des Generalbeauftragten für den Arbeitseinsatz. In der Ukraine selbst wurden Zwangsarbeiter für den Ausbau der Infrastruktur, ab 1942 in der rüstungsrelevanten Industrie und schließlich mit dem Vorrücken der Roten Armee ab 1943 auch zunehmend im Stellungsbau eingesetzt. Vor allem in den unter deutscher Militärverwaltung stehenden Gebieten wandten die deutschen Besatzungskräfte brutalste Mittel wie Menschenjagden, Selektionen in der vor den Kampfhandlungen flüchtenden Bevölkerung oder Deportationen aus „Partisanengebieten“ zur Arbeiterrekrutierung an.

Die Fallbeispiele machen deutlich, dass es in allen besetzten Gebieten zu einem grundsätzlichen Interessenkonflikt zwischen dem Arbeitseinsatz vor Ort und der Erfüllung der Forderungen nach Arbeitern für den Reichseinsatz kam. In diesem grundsätzlichen Spannungsverhältnis konnten sich dank einer polykratischen Besatzungsherrschaft und oftmals unklaren Machtverhältnissen jeweils unterschiedliche Akteure durchsetzen. Diese unterschiedlichen Besatzungsverhältnisse vergleichend in den Blick zu nehmen, bietet ein fruchtbares Feld für weitere Forschungen.

Anmerkungen:
1 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1985 (Neuauflage 1999).
2 Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension