C. H. Johnson u.a. (Hrsg.): Transregional and Transnational Families

Titel
Transregional and Transnational Families in Europe and Beyond. Experiences Since the Middle Ages


Herausgeber
Johnson, Christopher H.; Sabean, David Warren; Teuscher, Simon; Trivellato, Francesca
Erschienen
New York 2011: Berghahn Books
Anzahl Seiten
X, 362 S.
Preis
€ 91,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Ristau, Universität Göttingen

Das Interesse an der Erforschung von Familie und Verwandtschaft hat in den letzten Jahren einen deutlichen Schub erhalten.1 Anteil daran haben auch jene renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich um den Historiker David W. Sabean in einer internationalen Forschergruppe zusammengeschlossen haben. Ihnen geht es nicht nur darum, Geschichte und Konzeptionen von Familie und Verwandtschaft in Europa seit dem Mittelalter um neue Perspektiven zu erweitern, sondern auch um die kritische Reflektion bisher gängiger Forschungsnarrative – etwa jenes vermeintlichen Bedeutungsrückgangs von Familie und Verwandtschaft in der Moderne. Neben thematisch einschlägigen Publikationen der Mitglieder der Forschergruppe erschien 2007 ein erster Sammelband, der den Stellenwert von Familie und Verwandtschaft mit Blick auf langfristige historische Entwicklungen zu bewerten suchte.2 Ein zweiter 2011 veröffentlichter Band konturierte dann insbesondere die Beziehungen zwischen Geschwistern und anderen Verwandten, wobei auch nach der Bedeutung von Gefühlen gefragt wurde.3

Der hier nun vorliegende dritte Band schließt an seine beiden Vorgänger in vielen Punkten an. Neben den bekannten Fragestellungen nach der Bedeutung von Macht und Hierarchien, von Eigentum und dessen Weitergabe, von Heiratspolitiken und Migration in Europa liegt das Hauptinteresse dieses Mal auf der Analyse transregionaler und -nationaler Verwandtschaftsphänomene und deren Bedeutung für historischen Wandel. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Bänden reichen die Beiträge dieses Mal nicht nur bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern bis in die Gegenwart hinein. In ihrer Einleitung betonen David W. Sabean und Simon Teuscher, dass auch dieser Band in erster Linie Vorschläge und Diskussionsanregungen zu verschiedenen Methoden, Themen- und Problemfeldern zu bieten sucht (S. 1, 3). So sollen einerseits bestehende Narrative zu Familie und Verwandtschaft in Europa und andererseits gleichzeitig – durch Einbeziehung außereuropäischer Vergleichsbeispiele – die Perspektive über den europäischen Raum hinaus geöffnet werden (S. 2). Sabean und Teuscher weisen auch auf die Problematik ihres zentralen Arbeitsbegriffs der „transnationalen Familie“ hin, hätten doch beide Begriffe erst mit der Herausbildung des modernen Nationalstaats und der Zivilgesellschaft ihre gegenwärtige Bedeutung gewonnen (S. 2). Der Reflektion der semantischen und konzeptuellen Entwicklung von ortsübergreifenden zu transregionalen und schließlich transnationalen Verwandtschaftsbeziehungen in der Menschheitsgeschichte zeichnet nochmals Jose C. Moya in einem Überblicksaufsatz am Beginn des Bandes nach, wobei er die Bedeutung von Migrationsprozessen als menschliches Grundphänomen hervorhebt.

Die folgenden 13 Beiträge gliedern sich in zwei chronologischen Großblöcken, die einerseits das Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit, andererseits die „Moderne“ umfassen, also jenen zwei Übergangszeiträumen folgen, die schon im ersten Band entwickelt wurden. Bereits der erste Beitrag von Gabriel Piterberg, der sich mit den elitären politischen Haushalten von Mamelucken und Osmanen vom 13. bis 17. Jahrhundert beschäftigt, macht deutlich, dass Verwandtschaft keineswegs immer an biologische Zugehörigkeit gekoppelt, sondern auch über politische Machtstrukturen definiert sein konnte. Gisela M. Mettele zeigt am Beispiel des weltweiten Beziehungsnetzes der Herrnhuter Brüder, dass gerade der Bruch mit den Herkunftsfamilien für die Herausbildung „spiritueller Verwandtschaft“ grundlegend sein konnte, die durch einen gemeinsamen Lebensrhythmus, beständigen Informationsaustausch und hohe Mobilität geprägt war. Francesca Trivellato untersucht wiederum die Herausbildung transregionaler Handelsnetzwerke sefardischer Juden im Mittelmeerraum im 17. und 18. Jahrhundert, für deren Spezifika die konfligierenden religiösen und ethnischen Besonderheiten der Juden eine große Rolle gespielt hätten, wie sie auch im Vergleich zu armenischen Handelsnetzwerken zeigt. Dagegen wendet sich Jonathan Spangler Machterhaltungsmechanismen von Adelsfamilien im französisch-deutschen und französisch-niederländischen Grenzraum vom 15. bis ins 19. Jahrhundert zu, wobei er auf die oftmals erst aufgrund der Neuziehung territorialer Grenzen entstehende transnationale Beziehungsnetze sowie deren Loyalitäten und Identitäten eingeht. Die Herausbildung und Machtsicherung einflussreicher transregionaler beziehungsweise -nationaler Verwandtschaftsnetze werden im ersten Teil des Bandes auch für die italienische Familie der Gonzaga für das 15. und 16. Jahrhundert (Christina Antenhofer) und für den Zusammenhang von Migration und Eigentumssicherung patrizischer Familien in Westeuropa um 1500 (Simon Teuscher) untersucht. Michaela Hohlkamp weist in ihrem Beitrag auf die Bedeutung horizontaler Verwandtschaftsnetze von und Heiratsstrategien zwischen europäischen Adelsdynastien vom späten 15. bis ins 19. Jahrhundert hin und hebt die besondere Rolle von Frauen hervor.

Während die Beiträge des erstens Teils des Bandes allesamt von Historikerinnen und Historikern verfasst wurden, finden sich unter den sechs Aufsätzen im Abschnitt zur „Moderne“ auch Oral History- und soziologische Zugänge. Mary Chamberlain zeichnet die transnationale Verbundenheit und Kultur karibischer Migranten im Großbritannien der 1950er Jahre nach, während Mario Rutten und Pravin J. Patel dies in ähnlicher Weise für Mitglieder der indischen Patel untersuchen. Ebenfalls über den europäischen Fokus hinaus geht Stéphanie Latte Abdallahs Untersuchung zur Entwicklung von Familienideologie und Geschlechterrollen palästinensischer Familien in jordanischen Flüchtlingslagern nach 1948, wobei sie auf die Transzendierung von Familienwerten und -praktiken im jordanischen Exil und damit zugleich auf eine besondere Form transnationaler Familiarität eingeht.

Auch Christine Philiou wendet sich in ihrem Beitrag über christlich-orthodoxe phanariotische Eliten und deren Familiennetzwerke im Osmanischen Reich ab dem 17. Jahrhundert dem europäischen Grenzraum zu. Sie arbeitet vor allem die Annahme von Strategien und Symbolen familialer Beziehungen muslimischer Eliten bis zur griechischen Revolution 1821 sowie transregionale Familienkonstellationen in der Folgezeit heraus. Am Beispiel bretonischer Bürgerfamilien untersucht Christopher H. Johnson transregionale Verwandtschaftsnetzwerke zwischen der Bretagne und Paris von 1750 bis 1885, wobei er den Zusammenhang zwischen lokalen und transregionalen Praktiken für die Herausbildung und Konsolidierung der französischen Nation hervorhebt. Der Beitrag von David W. Sabean wendet sich schließlich dem transnationalem Verwandtschaftsnetz der deutschen Unternehmerfamilie Siemens im 19. Jahrhundert zu. Sabean weist insbesondere auf die Dialektik zwischen starkem Stammfolgebewusstsein und pragmatischem Rückgriff auf Netzwerke aus Freunden, Verbündeten und Blutsverwandten (S. 249) hin, die für den Ausbau der eigenen ökonomischen Position in Stellung gebracht wurden. Er geht dabei auch auf Mechanismen der Stärkung des Familienzusammenhalts – etwa durch die gezielte Vergabe des Familiennamens – und der Konfliktlösung ein.

Insgesamt macht der Band deutlich, wie unterschiedlich thematische und methodische Zugänge zum Sujet ausfallen können. Er zeigt zugleich aber auch, welche andauernde Bedeutung transregionalen und -nationalen Verwandtschaftsnetzen seit dem Mittelalter zukam. Zwar sind einige der behandelten Themen aufgrund zwischenzeitlich erschienener Publikationen der Autoren nicht gänzlich neu, jedoch nun hier multidisziplinär zusammengeführt und verdichtet. Allerdings hätte gerade mit Blick auf die unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkte der Aufsätze eine thematische Gliederung des Buches – etwa entlang der Themenfelder Macht und Eigentum, dynastische Verwandtschaftsnetze sowie Migration – die Vergleichsperspektive stärker konturieren können. Die Einbindung von Einzelstudien zu außereuropäischen Untersuchungsgegenständen ist begrüßenswert. Eine Stärkung des innereuropäischen Vergleichs – unter stärkerer Rückbindung an die Ergebnisse der Vorgängerbände – könnte die Perspektive auf transregionale und -nationale Phänomene von Familie und Verwandtschaft jedoch zusätzlich schärfen.

Dem Anspruch, die weitere Diskussion über Familie und Verwandtschaft in ihren Erscheinungen und Deutungen anzuregen, wird der Band in jedem Fall gerecht – und sei deshalb zur Lektüre empfohlen.

Anmerkungen:
1 Zuletzt u.a. Margareth Lanzinger, Edith Saurer (Hrsg.): Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007.
2 David Warren Sabean, Simon Teuscher, Jon Mathieu (Hrsg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York, Oxford 2007 (2. Aufl. 2010). (Rezensiert von Andreas Litschel: Rezension zu: Sabean, David W.; Teuscher, Simon; Mathieu, Jon (Hrsg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-term Development (1300–1900). Oxford 2007, in: H-Soz-u-Kult, 12.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-225> [23.11.2012]).
3 Christopher H. Johnson, David Warren Sabean (Hrsg.): Sibling Relations and the Transformations of European Kinship, 1300–1900, New York 2011.